61/LitArena VII/Berichte: Tractatus-Preisträger 2015: Ulrich Greiner

Tractatus-Preisträger 2015: Ulrich Greiner
des Philosophicums Lech

Bericht von der Preisverleihung aus der neuen Kirche Lech vom 18.9.2015 von Eva Riebler-Übleis
 
Alljährlich wird seit 2009 der Tractatus Preis, zwecks verstärkter Wahrnehmung sowie Würdigung von Wissenschaftsprosa und philosophischer Essayistik verliehen. Dieser Preis von 25.000 Euro für „herausragende deutschsprachige Publikationen, die philosophische Fragen im weiteren Sinne ambitioniert, doch allgemein verständlich diskutieren und unter anderem zentrale Themen der Zeit analysieren“, so Konrad Paul Liessmann, ist auch ein Beitrag zur Standortbestimmung in philosophischen und gesellschaftlichen Diskursen. 2015 erhält den Tractatus der bekannte Literaturkritiker und ehemalige Feuilletonchef der ZEIT Ulrich Greiner für seine niveauvolle, fachspezifische Studie „Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur“, Hamburg Rowohlt 2014. Er habe mit seinen nun 70 Jahren noch nie einen Preis verliehen bekommen, sondern stets anderen welche zuerkannt, und freue sich daher besonders. Da er in seiner Schulzeit zu unsportlich war, las er viel und studierte Literatur. Damals wollte er gerne für sportliche Leistungen prämiert werden und er schäme sich nicht, diesen Preis nun als späte Wiedergutmachung, anzusehen. Ihm waren Werke Ernst Jüngers, wie Stahlgewittern und vor allem seine autobiografische Erzählung Afrikanische Spiele, stets wichtige Begleiter, meinte er.
 
Ihm war das Lesen und Hinführen zum Lesen immer ein Anliegen. Er veröffentlichte 2005 „Ulrich Greiners Leseverführer“ und 2009 „Ulrich Greiners Lyrikverführer“. In diesem prämierten Werk untersucht er die zentrale Bedeutung der Scham in wichtigen Werken der Literatur, wie im Der Prozess von Franz Kafka, Fräulein Else von Schnitzler, Ungeduld des Herzens von Stefan Zweig oder bei Hester Prynne in Der Scharlachrote Buchstabe von N. Hawthorne. Von Michel Foucaults Werken, Siegmund Freuds Theorien bis Houellebecqs Romanhelden reichen seine spannenden Untersuchungen und Beiträge.
 
Für Greiner sind Gefühle wie Schuld, Scham und Peinlichkeit, die wesentlich zum Menschsein gehören, grundlegende Bedingungen für Moral und Ästhetik. Er beschäftigt sich mit dem Schamverlust seit den 69er Jahren und stellt S. 19 seines Werkes fest: “Wer sich überhaupt nicht zu schämen vermag, ist kein Mensch im vollen Sinn – erst die Fähigkeit zur Scham, macht ihn zum moralischen Subjekt.“ Weiters passt er mit seinem vergleichenden Blick von der Vergangenheit bis zur Gegenwart und seiner Aussage, dass „heutzutage an die Stelle der Scham die Peinlichkeit getreten ist“ – und dass sich ein neuer Puritanismus eingeschlichen habe, „der alles, was die Leistungsfähigkeit einschränken könnte, unter die Strafe der Peinlichkeit oder gar des schuldhaften Versagens stellt“, zur Thematik des heurigen Philosophicums. Die Shortlist 2015, aus der Greiner ausgewählt wurde, zeugt von thematischer, philosophisch-kulturwissenschaftlicher Vielfalt (www.philosophicum.com/tractatus/shortlist-2015. html) und versteht sich wie immer auch als Lektüreempfehlung der Jury. Zu deren Mitgliedern gehören neben dem Autor und Philosophen Franz Schuh nunmehr die Philosophin und Journalistin Barbara Bleisch sowie der Schriftsteller und ehemalige Verleger Michael Krüger, die heuer den Juroren Ursula Pia Jauch und Rüdiger Safranski nachfolgten.