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Gerhard Hallstatt
Der Wald ist ja immer bewaffnet
Ein Gespräch
Gerhard Hallstatt wuchs in Oberösterreich auf. Mit sechzehn verbrachte er einige Wochen in Berlin, wo er die Musik von Gruppen wie DAF (Deutsch Amerikanische Freundschaft) und Einstürzende Neubauten kennenlernte, die ihn musikalisch, aber auch dichterisch, stark beeinflussten. Mit siebzehn zog es ihn auf den Spuren von Arthur Rimbaud nach Frankreich und bald darauf entdeckte er Beat-Autoren wie Jack Kerouac und William S. Burroughs, die ihn sehr beeindruckten.
Mit achtzehn war er wieder in Berlin, mit neunzehn erneut in Frankreich. Mit zwanzig Jahren übersiedelte er nach Wien. Zwei Jahre später gründete er die Musikgruppe Allerseelen, deren Frühwerk am ehesten mit Ritual und Industrial umschrieben werden kann, und veröffentlichte erste Kassetten, später dann auch CDs und Schallplatten. Er arbeitete viele Jahre lang unter dem Künstlernamen Kadmon, entschied sich dann aber für das Pseudonym, das er derzeit verwendet. Allerseelen war ursprünglich ein Solo- Projekt, im Laufe der Jahre aber arbeitete Gerhard Hallstatt auf der Bühne und in seinem Heimstudio Haus zur letzten Latern mit verschiedenen Mitgliedern zusammen.
In den neunziger Jahren gab er die beiden Schriftenreihen „Aorta“ und „Ahnstern“ heraus. Von „Aorta“ erschienen zwanzig Ausgaben, von „Ahnstern“ neun. Er schrieb darin über verschiedenste Bauwerke, Bräuche, Filme, Künstler, Visionäre, die ihn faszinierten. Im Zuge dessen interviewte er auch Menschen wie Filmemacher und Autor Kenneth Anger, Aktionskünstler Hermann Nitsch (mit dem er einst bei einem seiner Drei-Tage-Spiele auf Schloss Prinzendorf zusammenarbeitete) oder Musiker Z´EV. Diese Texte, halb Tagebücher, halb Essays, erschienen in den beiden Zeitschriften auf deutsch und englisch. Sie sind mittlerweile alle vergriffen – aber sämtliche Aufzeichnungen wurden in englischer und französischer Sprache in Buchformat unter dem Namen „Blutleuchte“ wiederveröffentlicht, wobei die englische Ausgabe ebenfalls inzwischen vergriffen ist. Eine deutsche Fassung ist derzeit leider noch nicht in Planung, aber eine russische und spanische Ausgabe sind in Vorbereitung.
Einige Reisetagebücher – über Korfu, Kroatien, Südtirol und auch verschiedene Gegenden Österreichs – veröffentlichte er regelmäßig im Web unter dem Titel „Zeitkapsel“ auf https://wandernimwienerwald.com/category/wandertage/zeitkapseln/.
Einige weitere „Zeitkapseln“ sind in Vorbereitung und eines Tages soll daraus ein Buch entstehen. Geplant ist auch ein Band mit sämtlichen Texten der Musikgruppe Allerseelen unter dem Titel „Das Feuer fragt“. Die Gruppe trat in vielen Ländern Europas auf, zwei Konzertreisen führten auch an die nordamerikanische Westküste, und immer wieder gab es Auftritte in verschiedenen russischen Städten. Derzeit besteht Allerseelen auf der Bühne aus: AimA (Gesang), Christien H. (Schlagzeug), Marcel P. (Bass), Gerhard Hallstatt (Elektronik, Gesang).
Nach wie vor schätzt er H.C. Artmann sowie die Stadt Venedig (das Allerseelen-Album „Venezia“ sowie seine Mitarbeit am „Venedig“-ETCETERA zeugen davon) und nach wie vor wandert er gern, vor allem in den Bergen, und immer mit Photoausrüstung (Hallstatt zieht das Ph im Photo dem F im Foto vor). Die in diesem Heft entstandenen Photographien entstanden ausnahmslos auf diesen Wanderungen.
Thomas Fröhlich besuchte den Musiker, Autor und Photographen in seinem „Haus zur letzten Latern‘“ in Wien, wo er dieses Gespräch führte.
ETCETERA: Was fasziniert Dich am Wandern?
Ich liebe allgemein Bewegung und habe auch festgestellt, dass ich beim Wandern oft besonders eigenwillige Gedanken habe. Es gibt einen besonders schönen Ausspruch von Nietzsche: „So wenig als möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung, in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern!“ Was aber bedeutet, dass Bewegung und frische Luft die Eltern dieser Gedanken sind.
Wie kommt’s zu Deinen Wanderphotos?
Irgendwann habe ich gemerkt, dass mir das Wandern, Bergsteigen, Reisen nur dann wirklich Freude bereitet, wenn ich Momente dieser Unternehmungen festhalten kann: schriftlich, photographisch, filmisch. Das heißt, dass ich ‚Zeitkapseln‘ davon mit nach Hause nehme. Was aber auch schon dazu geführt hat, dass ich Bergtouren abgebrochen habe, weil ich nicht mehr photographieren konnte. Negativ betrachtet könnte das auch heißen, dass ich nicht im Hier und Jetzt lebe, sondern an einen imaginären späteren Zeitpunkt denke. Ich kann einen Wald
oder einen Berg immer wieder besuchen – der Wald ist ja kein Frosch: Der hüpft nicht weg.
Bist Du ein Waldgänger im Jüngerschen Sinne?
Im Grunde ja. Ich spüre oft einen Widerwillen gegenüber den Vorstellungen einer Mehrheit. Es gibt ein schönes Zitat von Gustav Meyrink aus seinem Roman „Das grüne Gesicht“: „Das Gegenteil von dem, was der große Haufe tut, ist an sich schon richtig.“ Ein Waldgänger geht ja auch in den Wald, um Zeit und Raum für die eigenen Gedanken zu finden. Ich selbst bin manchmal ein Einsiedler-Krebs; und, wenn man sagen kann, „in der Stille liegt die Kraft“, kann man wohl auch sagen: „Im Wald liegt die Kraft.“ Wald wäre auch ein Gleichnis für Momente des Abstands: ein Wort, das derzeit ja dauernd gepredigt wird.
In Deiner Musik liegt ein starkes rituelles Element vor. Auch Deine Texte muten oftmals ritualistisch an. Was bedeuten für Dich Rituale?
Mich hat immer alles Magische und Mystische fasziniert, wie auch das Theater respektive das Psychodrama in der katholischen Kirche: Ich war und bin aber in all diesen Bereichen ein Außenstehender. Ich habe auch schon kleinere Rituale im Wald durchgeführt, zum Beispiel in der Nacht getrommelt. Ich musste aber danach feststellen, dass der Ort plötzlich weniger stark auf mich wirkte. Das geschieht, wenn ich in den Wald gehe, um mich selbst auszudrücken, denn dann will ich auf den genius loci wirken. Ich habe aber die Erfahrung gemacht, dass es besser ist, wenn der Wald zu mir spricht, als wenn ich zum Wald spreche. Ich muss im Wald ganz Ohr, ganz Auge sein, damit die Eindrücke von mir Besitz ergreifen können. Das Gegenteil: Wie du in den Wald heineinschreist … hallt es zurück. So gibt’s ja auf verschiedenen Wanderwegen diese Schilder: „Lieber Wanderer, verhalte dich ruhig, um nicht das Wild zu schrecken.“ Man könnte das weiterdenken, nämlich, „um den Wald nicht zu schrecken“. Wenn ich ein Wald wäre, würde ich gegen zu lautstarke Besucher
ganz schön heimtückisch, hinterfotzig sein. Ein Wald ist ja immer bewaffnet.
Was ist für Dich Wald?
Wald ist für mich eigentlich etwas Unheimliches. Ich liebe helle Mischwälder, Laubwälder, aber im Zwielicht bekommt ein Wald, den ich nicht gut kenne, etwas Dämonisches. Ich selbst habe gerne Übersicht, die man aber im Wald ziemlich schnell verliert. Es treten dann möglicherweise Ängste zum Vorschein, denn es gibt ja die Redewendung: „Wenn ein Wolf im Wald einen Wolf trifft, denkt er sich: ‚Schau, ein Wolf!‘“ Menschen würden einander vielleicht für Mörder halten. Ich würde nie in einem Wald übernachten. Im Zelt am Berg, oberhalb der Waldgrenze: gern, das habe ich schon oft gemacht. Das hat mit dem Überblick zu tun. Am Berg siehst du kilometerweit, ob wer kommt. Eine Ausnahme gab es allerdings: Auf Teneriffa habe ich tatsächlich einmal im Wald übernachtet, allerdings in der Nähe einer Straße [schmunzelt]. In mein Projekt „Allerseelen“ fließt der Wald weniger ein. „Allerseelen“ ist alpin und international – da singe ich hochdeutsch. Hochdeutsch ist aber im Grunde eine Übersetzung, beinahe etwas Abstraktes. In der Mundart etwa gibt es viel mehr Wörter als im Hochdeutschen ...
Es wuchert sozusagen …
Ja, die Mundart entspricht dem Wald. Für die Zusammenarbeit mit dem Salzburger Projekt Sturmpercht verwende ich immer Mundart – oder die Mundart verwendet mich. Das entspricht dann meinem Wesen viel mehr als das doch sehr abstrakte Hochdeutsch.
Ist heutzutage noch ein Waldgang möglich?
Ernst Jünger meint, der Wald könnte letztendlich auch die eigene Wohnung sein: Sein gleichnamiges Buch, das in den 1950er Jahren erschienen ist, beinhaltet ja auch das Konzept der „inneren Emigration“. Innere Emigration ist eine mögliche Antwort des Einzelnen auf eine autoritäre Umgebung, auf eine autoritäre Politik. Der einfachste Weg ist ja der des Gläubigen, des Mitläufers. Der Waldgänger ist per definitionem das Gegenteil des Mitläufers. Wenn man den Waldgang als innere Emigration aufbaut, sieht vermutlich nicht einmal der Nachbar, dass da gleich neben ihm ein Dissident oder Anarch lebt.
Dissident oder Anarch sind ja große Worte …
Ja, inzwischen vor allem für die Filmindustrie – die lebt ja vom Mythos des Ketzers und Rebellen, der sich gegen die ihn umgebende Gesellschaftsform auflehnt. Es wird aber sehr darauf geachtet, dass derlei auf die Leinwand beschränkt bleibt. Denn gerade in der Jetztzeit merkt man, dass Kritiker schnell auf heftigen Widerstand stoßen, sobald sie einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht haben. Da merke ich auch bei uns so eine Art neuen McCarthyismus – und Einiges erinnert mich auf erschreckende Weise an das Deutschland der 1970er Jahre mit seinen Berufsverboten. Der Waldgang ist nun einmal kein Elfenbeinturm, sondern eine Herausforderung, etwas sehr Konkretes.
Gibt es etwas, was Du den ETCETERA-Lesern gerne noch auf den Weg mitgeben möchtest?
Mein Wunsch wäre, dass mehr Menschen Herz UND Hirn einschalten, Instinkt UND Intelligenz verbinden, dass sie kritisch hinterfragen, was ihnen von offizieller Seite aufgetischt wird. Lügen haben kurze Beine. Wenn ich mir die Mainstream-Medien ansehe oder anhöre, merke ich häufig, dass diese Halbwahrheiten und Unwahrheiten nicht nur sehr kurze Beine haben, sondern oft ohne Arme und Beine sind, weder „Hand noch Fuß“ haben. Das ist auch der Grund, warum ein Waldgänger gern im Wald ist – da bleiben ihm Lug und Trug erspart. Ich weiß, das klingt sehr sozialromantisch – aber „Mut zur Ehrlichkeit“ wäre eine schöne Eigenschaft! Was ich den Etcetera-Lesern auch
noch gern mitgeben möchte: ein herzliches „drum bun“ – der rumänische Wunsch für „guten Weg“. Ich habe das häufig in den transsylvanischen Wäldern und Bergen gehört.
Ich danke für das Gespräch.