90/Unter Wolken/Bericht/Die Geschichte der Wutbox: Hermann Niklas
Ein Bericht von Hermann Niklas, Projektleiter bei Sapere Aude und Kurator der Wutbox
Die WUTBOX stand im Juni 2022 in St Pölten in der Franziskanergasse und war laut www.unzensuriert.at „… eine skurrile Kunstaktion…“, tatsächlich aber eines von 10 Projekten, das von einer Fachjury ausgewählt und im Rahmen des „Calls 2021 – Kunst und Kultur im digitalen Raum” von Bund und Land NÖ finanziert und umgesetzt worden ist.
Wer sich dahinter verbarg: eine NGO, die anfangs gar nicht viel mit Kunst zu tun hatte. Der Verein Sapere Aude gründete sich im Jahr 2009, um Jugendliche und junge Erwachsene darin zu begleiten, sich kritisch mit Politik auseinanderzusetzen und dennoch konstruktiv auf die Gesellschaft zu blicken.
Der Verein arbeitet dabei parteiunabhängig, gemeinnützig und rein projektfinanziert. Vor allem für jene Gruppen werden Projekte konzipiert, die wenig Zugang zu Politischer Bildung und ähnlichen Bildungsformaten haben: Menschen in Justizanstalten, Menschen in Arbeitsmarktintegrationsprojekten, Asylwerber und Asylwerberinnen, Lehrlinge, Menschen mit Lernschwierigkeiten oder mit Behinderungen.
Seit 2013 beschäftigt sich Sapere Aude aber auch mit Kunst und gründete die Programmschiene „Dichter ran”, die ich (als Politischer Bildner und Schriftsteller) ins Leben gerufen habe (wobei der Name auf Renate Aichinger zurückgeht – Danke!) und in die sich die WUTBOX als 5. Projekt einreiht.
Zu Beginn stand die Idee, Literatur und Politische Bildung miteinander zu verbinden, was – nach dem 5. Projekt kannman das ruhigen Gewissens konstatieren – gelang (3 davon fanden in St. Pölten statt).
Die Anfänge der WUTBOX lagen aber ebenfalls in St. Pölten. Im Zuge des Masterstudiums Sozialpädagogik an der FH St. Pölten musste ein Projekt entworfen werden, das sich einem gesellschaftlich relevanten Thema annahm. Die Projektidee war schnell zur Hand und ausgearbeitet. Das Projekt führte schließlich meinen Kollegen Saeid Kosravani Farahani und mich dazu, uns genauer damit auseinanderzusetzen, wie sich schreib- und theaterpädagogische Methoden in der Sozialen Arbeit nutzen ließen. 3 Jahre später konnte ich mithilfe des Vereins Sapere Aude die Projektidee der WUTBOX in ein vielschichtiges, interdisziplinäres, pädagogisches Konzept überführen, das wir mithilfe zahlreicher Kooperationspartner*innen und den bereits genannten Fördergeber*innen umsetzen konnten.
Im Hintergrund standen als Inspirationsgrundlage Berichte über WUT-Bürger*innen (Menschen, die in der Öffentlichkeit ihren Unmut zu verschiedenen politischen Themen formulierten und dafür als Wut-Bürger*innen verunglimpft wurden) und das Konzept der WUT-Räume (Räume, die dazu dienen sollten, Wut durch Aggression abzubauen, indem diese Räume anhand eines Baseballschlägers oder ähnlicher Gegenstände zerlegt werden konnten. Alles war kaputt, allein die Wut blieb). Davon beeinflusst, wollten wir Menschen darin unterstützen, ihrer Wut und ihrem Ärger eine Stimme zu geben, sowie einen Raum in der Öffentlichkeit, in dem man sie deponieren konnte, frei von Destruktivität. Menschen, und vor allem Jugendliche, sollten mit der WUTBOX die Möglichkeit bekommen, ihre Wut zu verbalisieren und einen konstruktiven Weg finden, mit ihrer WUT umzugehen, sie gar als Ressource und als Aufruf zur Veränderung zu begreifen. Außerdem will das Projekt durch die Einbindung von Schriftsteller*innen den kreativen und partizipativen Charakter der Wut in Kunst transformieren und sie so aus dem privaten Raum mithilfe von Literatur in den gesellschaftlichen Raum überführen.
Die Phasen:
Die analoge WUTBOX:
Christian Herzog und Serdar Songür, beide von der New Design University, konnten gewonnen werden, die WUTBOX nach unseren Vorstellungen zu planen und umzusetzen. Sie schufen mit ihrer Temporären Architektur, die im Juni 2022 in der Franziskanergasse 4 mit Blick auf den Rathausplatz stand, die erste künstlerische Intervention im Öffentlichen Raum von Sapere Aude. Eine ästhetische, begehbare Box von schlichter Eleganz.
Bürger*innen sowie Jugendliche und junge Erwachsene konnten die begehbare Box als Privatraum in der Öffentlichkeit nutzen, sich darin zurückziehen und mittels QR-Code auf dem Smartphone die digitale WUTBOX aufrufen, um ihren Ärger und ihre Wut zurückzulassen, diese upzuloaden und uns zur weiteren künstlerischen Bearbeitung zur Verfügung zu stellen.
Natürlich konnte aber die Box auch verwendet werden, um die Wut schreiend loszuwerden, also für eine kurzfristige psychohygienische Selbstreinigung.
Das Interesse von Passantinnen und Passanten war sehr hoch, es war unbenommen eine nicht alltägliche Intervention, mit der nicht alle Menschen etwas anzufangen wussten, die manche vor den Kopf stieß und bei manchen Menschen mehr Wut entflammte, als sie schlucken konnte!
Die digitale WUTBOX:
Wolfgang Rechberger von PundR, dem Büro für Erlebnisentwicklung, entwickelte und gestaltete die digitale WUTBOX, die nicht nur zum Einsprechen der Wut unentbehrlich war, sondern sie wurde unser wichtigstes Projekttool, was Aufnahme, Information, Hilfsangebote, Schriftsteller*innen-Porträts betraf und schließlich als Plattform, auf der die Ergebnisse der Künstler*innen nachzulesen sind und die bis Jahresende noch verfügbar ist!
WUT-Workshops
Die wesentliche Arbeit von Sapere Aude bei diesem Projekt fand in den Schulen statt. Der für die WUTBOX konzipierte Workshop „Von Wut zu Partizipation“ diente der Auseinandersetzung mit den eigenen Vorstellungen einer gelungenen und gerechten Zukunft und zeigte dabei verschiedene Formen der gesellschaftlichen Teilhabe auf. Im Workshop wurden zunächst jene politischen und gesellschaftlichen Themen und Entwicklungen gesammelt, die den Teilnehmenden Sorge, Angst oder Wut bereiteten. An Hand dieser Themensammlung wurden Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe und Veränderung von Gesellschaft gesammelt. Dabei wurde auf Methoden Wert gelegt, die den Schüler*innen den Unterschied zwischen produktiver Wut (als Basis für gesellschaftliche Veränderung) und destruktivem Hass (bzw. Menschenfeindlichkeit) verständlich machen konnten. Methodisch zeichnete sich der Workshop durch interaktive und erprobte Methoden der Politischen Bildung bzw. Jugendarbeit aus. Am Ende der Workshops wurden die Wutreden der Schüler*innen erarbeitet, verschriftlicht und als Audiofile aufgenommen, mit denen Sapere Aude weiterarbeiten und den am Projekt beteiligten Schrifsteller*innen zur Verfügung stellen durfte.
Die Schriftsteller*innen:
Nehle DICK, Isabella FEIMER, Katharina J. FERNER, PARKWÄCHTER HARLEKIN, Jonathan PERRY, Eva SCHÖRKHUBER, Maria SEISENBACHER , Michael STAVARIC, Cornelia TRAVNICEK, MIchael ZIEGELWAGNER waren die Autor*innen, die nach verschiedenen Parametern ausgewählt wurden: Qualität, Bezug zu St. Pölten und Niederösterreich, Einlassen auf das pädagogische Format, Interesse für Wut als literarisches Thema bzw. Publikationen zu ähnlichen Themen waren einige davon. Außerdem wurden Literaturvereinigungen und Multiplikator*innen in die Entscheidung miteinbezogen. Die 10 Schreibaufträge waren mit wenig Vorgaben verbunden: Die Autor*innen sollten die jeweils fünf zur Verfügung gestellten Wutreden aus den Jugendworkshops und der digitalen Wutbox als Inspirationsgrundlage verwenden, um diese in etwas Neues überzuführen, Literatur zu schaffen, die verschiedene lose
Berührungspunkte zur Ausgangsrede aufwiesen oder sehr stark darauf Bezug nahmen. Auch stand es frei, was literarische Gattung, Länge und Form betraf. Lyrik stand gleichberechtigt neben Prosa.
Tatsächlich kam bei der Präsentation der Texte im Landesmuseum am 16. Oktober 2022 im Rahmen des Literaturfestivals Blätterwirbel eine große Vielfalt zum Vorschein: knappe Lyrik, ein Langgedicht, eine Wutrede, ein Monolog, Lied-Texte und Spoken Word, Prosa, ein Dramolett. Polyphon wie die originalen Wutreden waren auch die literarischen Transformationen.
Das Vertrauen der Jugendlichen, uns die Wutreden zur Verfügung zu stellen und die Bereitschaft der Autor*innen, sich auf das Projekt einzulassen, motiviert Sapere Aude und mich weiter, Politische Bildung und Kunst in gemeinsame Projekte zu stecken und interessiert zu beobachten, was dabei passiert.
Der letzter Abschnitt für das Projekt WUTBOX wird ein Follow-up-Workshop sein: Mit freiwilligen Jugendlichen aus den Workshops und Künstler*innen, die am Projekt beteiligt waren, wollen wir mit politischen Entscheidungsträger*innen der Stadt St. Pölten überlegen, wie man mit Wut im öffentlichen Raum und mit Wut auf politische Rahmenbedingungen adäquat politisch umgehen kann, um die Gesellschaft zu einem besseren Platz für alle zu machen. Denn das ist eine weitere Stärke des Projekts: Kommunen bekommen durch eine WUTBOX mit Sicherheit unverfälschtes Feedback ihrer Bürgerinnen und Bürger zu verschiedenen politischen Themen und können dadurch auch zielgerichteter mit Maßnahmen reagieren.
Schließlich kommt die WUTBOX wieder dahin, wo sie ihren Anfang genommen hat: An der FH St. Pölten wird Studierenden der Sozialen Arbeit der gesamte Projektverlauf der WUTBOX, die Ergebnisse aus dem Projekt und seine Herausforderungen, im Rahmen von Multiplikator*innen- Fortbildungen im Bachelor- und Masterlehrgang Sozialpädagogik nähergebracht und Fragen dazu aufgeworfen, wie man Projekte an der Schnittstelle von Sozialpädagogik und Kunst konzipieren und aufbereiten kann.