42 / Essay: Herr Zhang lädt zum Dinner: Ingrid Reichel
Ingrid Reichel
Herr Zhang lädt zum Dinner
Aus dem Tagebuch einer 40-tägigen Chinareise Laut ist es in Chinas Restaurants, sehr laut, … vermutlich gibt es deshalb die vielen Separées. Dort kann man die Klimaanlage nach individuellem Wunsch einstellen und man hat, vorausgesetzt das Personal lässt die Tür nicht offen, seine heilige Ruhe. Herr Zhang lud uns ausnahmslos in Lokale mit Extrazimmern ein. Es war nicht die Angst, mit Ausländern gesehen zu werden, was ihn dazu veranlasste. Nein, Herr Zhang wollte seinen Gästen die Ruhe gönnen und die Konfrontation mit dem für Europäer unästhetischen chinesischen Essverhalten vermeiden. Er wollte dem Spucken und Schmatzen, den lauten Tönen der chinesischen Esskultur entgehen. Meist führte ein Labyrinth von Gängen zu den vereinzelten chambres à part und man entging elegant und diskret den übrig gebliebenen Schlachtfeldern der restlichen Restaurantbesucher. Außerdem zog sich Herr Zhang mit seinen Gästen prinzipiell gerne in vier Wände zurück. In einer Welt voller Spitzel, in einem Land voll Angst vor politischen Dissidenten, kann man nie wissen, mit wem man es zu tun hat. Es spricht sich einfach sicherer über Geschäftliches oder Privates. Über Politisches wird nicht gesprochen.
Auch das eben wütende Hochwasser, die Schlammlawine, die Aufräumarbeiten und der Staatstrauertag waren bei Tisch kein Thema. Es herrscht im Allgemeinen Politikverdrossenheit.
Wo nicht, frage ich mich… Wir sind hier zur Entspannung, ein Gefühl der Geborgenheit wird vermittelt, auch wenn die Séparées meist sehr kahl in ihrer Dekoration ausfallen, die Beleuchtung uns weit weg vom Klischee der gedämpften Atmosphäre der Pariser Lüsternheit zu Beginn des 20. Jahrhunderts treibt. Herr Zhang ist überschwänglich vor Freude, seine Gäste bewirten zu dürfen, und weiht uns in die chinesische Esskultur ein. Höflich erkundigt er sich, ob wir mit Stäbchen umgehen können. Als dies bejaht wird, sinkt er mit einem zufriedenen Lächeln in die Rückenlehne seines Sessels zurück.
Es ist unser erster Tag in China einer 40-tägigen Rundreise.
Nach dem warmherzigen Empfang am Flughafen und der Fahrt durch einen Wald von Baukränen, die ein Meer von Wolkenkratzersiedlungen in die Höhe ziehen, ins Zentrum von Qingdao, einer 7 Millionen großen Metropole am Gelben Meer in der ostchinesischen Provinz Shandong, genau zwischen Beijing und Shanghai gelegen, ist Herr Zhang bemüht unseren beginnenden Kulturschock zu entschleunigen. Qingdao ist in China die Stadt mit der höchsten Lebensqualität, versichert uns Herr Zhang und vergleicht seine Heimatstadt mit unserer kleinen Hauptstadt Wien. Herr Zhang ist Psychiater. Er kennt sein Metier. Das bei uns relativ unbekannte Qingdao ist die Copacabana Chinas. Hier machen chinesische Präsidenten Urlaub. Hier bereiteten Mao Zedong und Chiang Kai-shek mitunter die Vertreibung der Japaner vor, hier hatten sie ein Domizil, beide Villen stammen aus der deutschen Kolonialzeit und sind heute begehrte Touristenattraktionen. So saßen wir um den runden Tisch, während eine zierliche Chinesin den Tee aus einer großen Porzellankanne in unsere henkellosen, weißen Porzellanbecher einzuschenken begann. Ungefärbtes Wasser floss in der ersten Runde heraus. Der Tee begann langsam zu ziehen und bei der zweiten Runde verfärbte er sich in ein verheißungsvolles transparentes Gelb, bis heißes Wasser wieder in die Kanne nachgegossen wurde. Europäische Geschmackspapillen sind stärkeren Würzungen ausgesetzt und haben nicht die Empfangsbereitschaft für diesen Hauch von Tee. Stimuliert prosteten wir einander zu. Heißes Wasser hat zu jeder Tageszeit und Saison Tradition in China. Während ich meinen Gedankengängen über die Trinkwasserversorgung in China nachging, beschlossen die Männer sich der Speisenwahl zu widmen. Sie verließen hiefür das Séparée und begaben sich in den Restaurantteil, wo die Aquarien gefüllt mit Fischen und Meeresfrüchten stehen und wo die Speisen im Rohzustand auf einem Teller zur Degustation präsentiert werden. Ich blieb bei den Frauen, schlürfte mein heißes Wasser und sehnte mich trotz angenehmer Kühle im Raum bei Außentemperaturen von über 30° Celsius nach einem prickelnden Mineral. Im Nahen Lao Shan Gebirge mit dem Gelben Meer zu seinen Füßen existieren berühmte Wasserfälle und Quellen, die als Chinas bestes Mineralwasser gelten. Wenig davon wird mit Kohlensäure versetzt. Chinesen schätzen die Kohlensäure nicht. Das Wasser von Lao Shan schmeckt mild und süß. Empfindlich reagieren die Nerven der Chinesen auf unsere beliebten Mineralwasser: zu sauer, zu scharf! Ich entschloss mich ein Bier zu bestellen. Qingdao war zu Beginn des 20. Jahrhunderts deutsches Kolonialgebiet. Von hier aus hatten die Deutschen das Bier nach China eingeführt.
Alleine in Qingdao existieren über 50 Bierbrauereien. Als die Deutschen jedoch ihre Kolonialmacht an die Japaner verloren hatten, ist der Alkoholanteil des Bieres merklich gesunken. Chinesische Biere haben im Schnitt nur knapp über drei Prozent Alkohol und werden in den sonderbarsten Maßen abgefüllt. Hier scheint keine einheitliche Regelung zu existieren. In Qingdao geht es soweit, dass man sich Frischbier von der Brauerei in ein Plastiksackerl abfüllen lassen kann. Der Konsument geht mit einem schwabbelnden, transparenten Sackerl fort, setzt sich vor seine Haustür, spielt eine Runde Karten mit seinen Freunden und schenkt aus diesem Plastiksackerl in die bereitgestellten Gläser ein. Ich bekam eine Flasche Qingdao-Bier mit 480 ml serviert. Frau Zhang und ihre Schwiegertochter blieben beim heißen Wasser. Alkohol ist Männerdomäne. Ich zündete mir genüsslich eine Zigarette an, beruhigt, dass westliche Gesundheitsapostel China noch nicht geläutert haben. Prinzipiell ist kein Rauchverbot in den Lokalen. Außer in Shanghai, das wegen der heurigen Weltausstellung mit dem Motto Better City, better life und der zu erwartenden westlichen Besucher zur nahezu rauchfreien Zone Chinas erklärt wurde. Aber auch Rauchen ist Männersache. Dennoch überreichte mir Herr Zhang traditionell ein Gastgeschenk: eine Stange chinesischer Zigaretten. Herr Zhang ist weltoffen. Sein Sohn hat in Österreich studiert und lebt in unserem Haus. Wir sind zu einer großen chinesisch-österreichischen Familie zusammengewachsen.
Die ersten Speisen wurden serviert. Sie werden auf Servierplatten auf die im Zentrum des Tisches befindliche Drehplatte gestellt. Jeder nimmt sich von allem. Niemand hat eine Platte für sich. Chinesen teilen beim Essen, drehen nach Lust und Appetit die Scheibe zu sich und nehmen sich mit den Stäbchen direkt von den Servierplatten. Jeder hat einen kleinen Teller vor sich, wo er Speisereste ablegen kann und ein kleines Schälchen steht zum Abschmecken parat. Essen, ein perfektes Gemeinschaftserlebnis!
Es gab gebratene Crevetten auf marinierten Sojasprossen und Glasnudeln, Gelee vom Meer (nicht ganz unsere Sache, aber sehr gesund!), eigenartig mehlige Bergwurzeln mit Brombeermarmelade, fein geschnittenes Rindfleisch mit pikanter Knoblauchsauce, grüner Bambus in Marinade, Rindfleisch mit Zwiebeln, kleinen Palatschinken, Gurken und Lauchstücken à la Peking-Ente. Es folgte eine chinesische Delikatesse: Seegurke in pikanter Sauce. Sie wurde jedem extra auf einem Tellerchen serviert. Seegurken erzielen Schwindel erregende Preise und werden in diversen Geschäften eingelegt oder getrocknet als Medizin verkauft. Danach wurden gefüllte, längliche Teigstreifen, gekochte Chili Muscheln, gebratene Riesengarnelen und ein im Ganzen servierter gedämpfter Seefisch in Sojasauce mit Lauchstreifen aufgetischt. Mit den Stäbchen schnappt sich dann jeder ein Stück vom Fisch, bis am Ende nur mehr Kopf und Skelett übrig bleiben. Die hohe Kunst des Fischverzehrs liege darin, den Fisch nicht zu wenden, denn dies bringe Unglück, erzählt uns Herr Zhang mit einem Augenzwinkern. Danach gab es noch ein in Stücke zerlegtes gebratenes Huhn. À propos: Geflügel wird ausnahmslos mit Kopf kredenzt. Als besondere Delikatesse gelten die Hühnerkrallen, die es auch abgepackt in jedem Supermarkt zu kaufen gibt und die vor allem von Chinesinnen wie Knabbergebäck verzehrt werden, weil sie angeblich für eine schöne Haut sorgen. Die blieben uns an diesem Abend allerdings erspart. Als besonderes Dankeschön des Hauses wurde zum Abschluss eine Obstplatte mit Melonen-, Äpfel-, Orangenscheiben und Kirschtomaten aufgetragen, anstatt des üblichen Pflaumenweins wie in Österreich. Ein fulminantes Mahl ging zu Ende. Herr Zhang lehnt sich abermals beruhigt mit einem zufriedenen Lächeln zurück, denn seine Gäste sind mit erlesenen Speisen satt geworden und haben von jeder Speise zumindest gekostet.
Retrospektiv halten wir nach unserer Reise fest, dass die Reihenfolge der Speisen beliebig nach der Schnelligkeit in der Küche erfolgt. Fisch kann nach Fleisch kommen, Suppe zwischendurch, Süßes vor Saurem. Es gibt keine Beilagen, jedes Gericht steht für sich. Abgesehen von lokalen Teigspezialitäten wie die beliebten Mantou, Jiaozi und Baozi, Teigtaschen in variantenreichen Formen, die mit verschiedensten Inhalten gefüllt sind, aber niemals in Sauce serviert werden, oder dem Tausendschichtkuchen, der das Brot ersetzt, gibt es wenig Kohlehydrate. Gewürzt wird vorwiegend mit Ingwer, Chili, Zwiebeln, Knoblauch und Soja. Chinesische Küche erweist sich als salzarm. Der klassische Reis sollte uns quasi die nächsten 39 Tage, auch bei Mittagsbuffets nicht serviert werden. Das Reisklischee ist wohl einer der größten westlichen Irrtümer bezüglich Chinesischer Küche, denn China ist das Nudelland Nummer eins. Sie haben die Nudeln auch erfunden! Die Italiener haben abgeschaut. In manchen Garküchen oder Suppenrestaurants kann man dem Koch beim Da Mian herstellen sogar zusehen. Ein großartiges Erlebnis! Dennoch essen Chinesen Reis, viel Reis, sogar sehr viel Reis. Nur nicht in Restaurants und Garküchen. Es gibt ihn jedoch variantereich am Frühstücksbuffet als Reisschleimsuppe, kunstvoll und geheimnisvoll als Klebereis in Bananenblätter gewickelt, oder als gebratenen Reis mit Gemüse. Im Übrigen gibt es das berühmte saure Gemüse, welches der legendäre Richter Di in Robert van Guliks meisterhafter Krimiserie regelmäßig einnimmt, tatsächlich nur zum Frühstück. Der Reis ist der Magenfüller, der alle satt macht. Er wird dem Personal in Unmengen neben einem Schöpfer Eintopf serviert, nachdem die Gäste zufrieden nach Hause gegangen sind. Bevor es jedoch seinen Dienst antritt, muss sich das Dienstpersonal wie beim Militär versammeln. In großen Restaurants wird dieser Dienstantritt sogar vor der Haustür, regelrecht auf der Straße vor aller Öffentlichkeit, zelebriert. Der Chef hält eine Motivationsrede, es wird genickt und zugestimmt und im Einklang gesungen, dann geht es ab an die Arbeit. Dieses Ritual dauert über eine Viertelstunde und wäre bei uns nicht denkbar. Chinesen essen von 18 Uhr bis 21 Uhr zu Abend, dann wird die Küche geschlossen. Im Gegensatz zu Europa ist keine Hektik beim Service zu spüren. Kein Wunder, es sind auch dreimal so viele Kellner und Kellnerinnen engagiert. Hektischer geht es schon bei den Garküchen zu, die teilweise direkt vor großen Unternehmen zur Mittagszeit eine ganze Straße bilden und nach der Pause im Nu wie durch Zauberhand wieder verschwinden.
Es ließe sich noch vieles über die verschiedenen Geschmäcker und Unterschiede, die wir festgestellt haben, erzählen, wie z.B. über die klassische blau gemusterte Porzellanreisschale, die man in China vergeblich suchen wird. Es sei eines gesagt: Lassen Sie sich nicht irritieren, wenn sie von den alles essenden und alles verkochenden Chinesen hören. Wo ein Wille und ein Markt ist, ist immer alles und überall machbar.