51/viel-leicht/Essay: Ingrid Reichel - Gedanken zu Gugging

 
Haus der Künstler, Gugging, Foto: Ingrid Reichel  

Ingrid Reichel
Gedanken zu Gugging

Wenn man als Redakteur einen Künstler zum Thema „vielleicht“ sucht, stößt man schnell an seine Grenzen. Wer, wenn nicht die Gugginger Künstler, könnten besser das Thema vertreten?

Mit den Gugginger Künstlern verbindet man vor allem: Ist es Kunst, wenn es doch um eine Form der Therapie geht? Noch um 1900 war es undenkbar, bildnerische und literarische Ausdrucksformen von Geisteskranken als Kunstwerke anzusehen. Berühmte Psychiater wie Marcel Réja [1], Walter Morgenthaler [2] und Hans Prinzhorn [3] hatten bereits die eigenwillige Kunst begabter Psychiatrie-Patienten erkannt, als der österreichische Psychiater Leo Navratil [4] das Zentrum für Kunst-Pschotherapie im Landesklinikum Gugging den Begriff der „Zustandsgebundenen Kunst“ einführte. Aber es ist wohl dem französische Künstler Jean Dubuffet [5] zu verdanken, dessen Bemühungen um anti-intellektuelle Kunst, die auf Schöpfungen von Geisteskranken, gesellschaftlicher Außenseiter und Sonderlinge basiert, dass die daraus resultierende Art-Brut [6] internationales Aufsehen in der Kunstszene erregte und sich im Kunstmarkt etablieren konnte. Die Gugginger Künstler zählen zu den wichtigsten Vertretern der Art-Brut. Im Moment leben im Haus der Künstler zwölf kunsttalentierte Psychiatriebetroffene und Geistigbehinderte. Sechs von ihnen sind bereits als Künstler etabliert: Karl Vondal, Johann Garber, Günther Schützenhöfer, Arnoldt Schmidt, Heinrich Reisenbauer, Franz Kernbeis. Trotz hohen Ansehens ist die breite Bevölkerung - laut Johann Feilacher, Direktor des Museums Gugging: 80 % der Bevölkerung - Gugging gegenüber abgeschreckt. Durch die Nervenheilanstalt einerseits und die vielen Ermordungen während der NS-Zeit in den „Irrenanstalten“ andererseits hat sich Gugging leider, auch in den Köpfen der jungen Generation, noch immer nicht vom Image als Ort des Grauens losgelöst. Anhand des folgenden undatierten Gedichtes des Gugginger Dichters Edmund Mach [7] soll diese Ambivalenz verdeutlicht werden:

Edmund Mach
Die Landesanstalt Gugging*

Tief eingebettet, im Kriege ein entfernter Randbezirk von
Wien, ein Vorort von Klosterneuburg, dort ist 1896 eine
Landesirrenanstalt aufgebaut worden.
Dort ist er, der 2er, ein portalgemässer Eintritt und die
Kanzlei des Herrn Primars.
Vielfach niedergerissen, aufgebaut,
heute schön dastehend das Gerippe,
jetzt das Fundament eines Vorbildes
des sozialistisch angehauchten, gepriesenen
Landeskrankenhauses von Gugging.

Die Spezialität des Hauses waren die Elektroschocks, die
auf dem Haupt des Patienten den Kopf redigierten.
Ich hatte selbst 24 Schocks erhalten und damit die
höchste Schockanzahl erreicht, die je ein Patient hatte.
So ist spezialitätenlos heute nur noch der tägliche Einkauf,
der einen Hauch von Weihnachten mitbringt.

Ein riesiger Verwaltungsapparat umschließt die und das
Landeskrankenhaus. Geführt wurde dies von dem hochbetagen
Dr. Professor L. Die Belegschaft wechselte, ich
meine die Belegschaft der Patienten-, ohne auf die Schlosser
herunter zu sehen.

Die Leute kommen und gehen. Sie, die meisten werden
entlassen. Meistens kommen sie wieder zurück. Die
Regel ist, wenn man einmal hier war, kommt man nicht
aus. Es ist wie ein Zubezahrer von den Wärtern, ein
Zuhause, ein mangelhaftes Ersetzen von zu Hause.

Britische Gäste meinen, da kann man nicht leben * weil
die Erziehung als Kind höher steht: Manche sterben hier,
ein Ziel, ein Wunder hier in Gugging.

Der Patient kann spazieren gehen. Man kann
Tischtennis spielen. Ich habe 180 Sätze gewonnen
einem Satz Verlust, hier, woanders bin ich das Bummerl.
Im Armenhaus in Gloggnitz habe ich 28 Sätze gegen ein
schreiendes Individuum verloren, dann 4 im Einfluss
von Alkohol erlangt bekommen.

Ich möchte zwischen Krampus und Weihnachten wieder
zurück ins Bezirksaltersheim, um von dort im Februar zu
einer Nachbarin nach Wien zu reiten, um meine Studien
zu beenden.

Waldwiesen Arbeit war ja besonders auf der so called
Grasen. Es war schön hier. Jetzt möchte ich in die Mitte
des Lebens, des Wiener Lebens wieder einsteigen.
Schmelzenden Auges sage ich der landschaftlich hochgelegenen,
parkähnlichen Anstalt Lebewohl und hoffe, bei
der Frau Fleischhacker leben zu können.

Edmund Mach verfasste auch viele Gedichte über die damals als therapeutische Maßnahmen eingesetzten Elektroschocks. Später, im September 1978, schrieb er Besänftigendes:

Gugging**

Wenn ich in Gugging
nicht mehr bin,
da stechen die Stern, da
stählt das Gewissen.

Ein Antipode von Gloggnitz
Gugging. Wie 2 Schwerspate
umbeulen sie die Welt.
Einem Fiancee,
Einem Tennistischler.
Röse mit deinem Röslein.
Horte auf, laß die Arbeit bleiben
Gugging läßt dich nicht im Stich.

Edmund Mach starb 1996. Das von Psychiater und Museumsdirektor Johann Feilacher 1986 etablierte „Haus der Künstler“ mit Atelier hat sich im Jahr 2000 vom Landesklinikum gelöst und wird seither als selbstständige Wohngemeinschaft geführt. 1994 wurde im Erdgeschoss des Gebäudes eine eigene (Verkaufs-)Galerie gegründet. Sie übersiedelte 1997 in das Nachbargebäude, dem heutigen Art-Brut-Center-Gugging, in dem sich auch ein offenes Atelier (2001), die Privatstiftung (2003) und das Art-Brut-Museum (2006) befinden. 2011 wurden die Sanierungsarbeiten am „Haus der Künstler“ abgeschlossen.

Im Jahr 2007 wurde die Landesnervenklinik aufgelöst. An ihrer Stelle hat sich mittlerweile das ehrgeizige Bundes- und NÖ-Landesprojekt ISTA (Institute of Science and Technology Austria) angesiedelt und breitet sich stetig aus. Ganz oben am Hügel, zum Wald hin beinahe versteckt, steht wie das natürliche Gegengewicht zur geistigen Elite, wie ein Fels in der Brandung das Art-Brut-Center und erscheint als Hoffnungsträger der Menschheit, schlichtweg als das tatsächliche Mahnmal gegen Unmenschlichkeit.

*S. 52 ff und **S. 124, Lyrik aus dem Buch von Edmund Mach: Buchstaben Florenz. Texte 1965-1979. Wien: Medusa Verlag, 1982. 144 S. ISBN 3- 85446-001-5

[1] Marcel Réja: Franz. Psychiater publizierte 1907: „L‘art chez les fous“ (Die Kunst der Geisteskranken).
[2] Walter Morgenthaler (1882-1965): Schweizer Psychiater und Psychotherapeut. 1921 Veröffentlichung der Krankengeschichte des schizophrenen Künstlers Adolf Wölfli und machte damit aufmerksam auf die künstlerische Beschäftigung als Heilmittel in der Betreuung psychiatrischer Patienten.
[3] Hans Prinzhorn (1886-1933): Deutscher Psychiater und Kunsthistoriker.
1922 Veröffentlichung “Bildnerei der Geisteskranken”.
Gründete die renommierte Sammlung Prinzhorn - Malereien von Geisteskranken - Heidelberg: http://prinzhorn.ukl-hd.de
[4] Leo Navratil (1921-2006): Österr. Psychiater erforschte die “Zustandsgebundene Kunst”.
Seit 1946 Arzt in Gugging, 1956 Primar, Publikation. “Schizophrenie und Kunst (1965). 1981 Gründung des Zentrums für Kunst- und Therapie.
[5] Jean Dubuffet (1901-1985): Hauptvertreter der Art-Brut
[6] Art-Brut oder Outsider-Art: Sammelbegriff für autodidaktische Kunst von Laien, Kindern und Menschen mit geistiger Behinderung
[7] Edmund Mach (1929-1996): schizophrener österr. Lyriker und Tennislehrer.
Zusammen mit Ernst Herbeck (1920-1991) war er einer von zwei Sprachkünstlern im Haus der Künstler in Gugging.

LitGes, etcetera 51/viel-leicht/ März 2013