Autorenportrait: Uwe Bolius. Ingrid Reichel

Ingrid Reichel
Feindbild: Mutter
Ein Portrait und eine Rezension

 
Der 1940 in Linz geborene Autor Uwe Bolius hat nach seinem Roman „Hitler von Innen“ wieder ein sehr schwieriges Thema aufgegriffen. Schwierig nicht zuletzt, weil es Tabu behaftet und somit polarisierend ist. „Juttas Tod“ ist eine Erzählung, die sich vordergründig mit dem Sterben und der Sterbebegleitung befasst. Bolius spart in seiner Themenauswahl nicht sein privates Leben aus. Er gehört wohl zu den authentischsten Schriftstellern im deutschsprachigen Raum.

In diesem Buch geht es um Jutta, sie ist Bolius Schwester, sie ist an Krebs erkrankt und stirbt. Das ist die eine Seite des Inhalts. Der Krebs, der bekämpft werden soll, und schließlich die harte Erkenntnis der Unheilbarkeit. Das Warten der Erkrankten, das Warten der Angehörigen, die Unerträglichkeit des Wartens auf etwas, was nicht abwendbar ist und was unwiderruflich eintreten wird, das Warten auf den Tod. Für den Sterbenden steht der Verlust des Lebens im Vordergrund, für die anderen der Verlust eines geliebten Menschen. Doch bei diesem „langen“ Warten stellt sich nicht die Krankheit oder gar der Tod als Feind heraus, den es zu bekämpfen gilt, sondern das Leben selbst. Erst der Tod bringt die Menschen wieder zueinander, das ist eine Regel, die man spätestens auf jeder Beerdigung erleben kann. Wer die Option des Wartens auf den Tod bekommt, wird mit einer Zerreißprobe konfrontiert. Einerseits hat man Zeit Abschied zu nehmen, andererseits wird das Warten auf das Ende zu einer nervlichen Belastung. Stirb! Stirb! Stirb!, möchte man schreien, wenn das Leiden unerträglich wird. Schon Arthur Schnitzler beherrschte die hohe literarische Kunst, seine Leser Gefühlen der Ausweglosigkeit auszusetzen. Bolius steht ihm kaum nach.

Die andere Seite des Buches ist die Aufarbeitung seiner und Juttas Kindheit und Jugend, die Kriegs- und Nachkriegszeit, die Entbehrungen und harte Erziehung, die Sinnlosigkeit. Doch die menschliche Natur strebt nach Sinn und dies implementiert Schuld. Mit Schuld ist eine Zuweisung verbunden. Eine Krankheit wie Krebs kann nicht grundlos sein. Irgendetwas, irgendwer muss daran Schuld haben. Die Lebensumstände werden durchleuchtet. Das Warten auf den Tod stellt sich als Suche nach Schuld und Sühne heraus.

Die zwei Geschwister haben etwas aufzuarbeiten. Beide litten unter der Mutter. Eine Last, welche beide mit ins Erwachsenenleben schleppten und die erst angesichts des Todes mit einem Knall auf dem Tisch präsentiert wird. Der eine verdrängt mehr, der andere weniger. Bolius ist erbarmungslos, mit sich, seiner Schwester und seinen Lesern. Nicht Verarbeitetes wird ausgekotzt. Doch zuerst musste die Schwester sterben, und dann die Mutter. Bolius gehört nicht zu den Schnelldenkern und –schreibern oder gar zu den leichtfertigen Autoren, seinen Werken gehen lange seelische und geistige Auseinandersetzungen voraus. Bolius gräbt tief und liefert eine konzentrierte, aber leicht lesbare Arbeit. In knapp über 100 Seiten ist inhaltlich Stoff für über 1000 Seiten.

Die Mutter war Kriegswitwe und musste die Kinder alleine großziehen. Zur Hilfe stand aber die Großmutter väterlicherseits bereit, bei der die beiden Geschwister die glücklichsten Momente ihrer Kindheit erlebten. Die Mutter hatte kaum Zeit, war weder liebevoll noch besorgt um die Kinder. Trauma der Kindheit ist ein sexueller Übergriff eines Fremden (?) auf die 13-jährige Jutta, der weder zur Kenntnis genommen noch aufgearbeitet wurde.

Das Buch ist in drei Teilen aufgebaut: Eine Vor- und Zwischenbemerkung, die Geschichte der Mutter in „Kriegerwitwe“ und „Juttas Tod“, in der Bolius die Kindheit und Jugend sowie Juttas Ehe aufarbeitet. Bolius pendelt zwischen Ich-Erzählung und der distanzierten dritten Person. Die Kriegswitwe wendet sich direkt an den Leser, als ob es keine Betroffenen gäbe. Bolius schafft es, die Defizite der Individuen in einer Familie klar darzustellen: Das Kind, welches sich nach Anerkennung und Rückhalt sehnt und nicht erhält; die Mutter, die noch jung und attraktiv sich nach einem Partner sehnt, begehrt werden, aber ihre Selbständigkeit nicht aufgeben will und aus Egoismus ihre Kinder vernachlässigt, ihnen gehässig gegenübertritt und sie sogar abschiebt.

Wie sehr unterscheidet sich doch die Realität von dem Bild der liebenden Mutter mit ihrem Kind, die fürsorglich und still ihren Nachwuchs großzieht, das sich die Gesellschaft für die Frauen zurechtgerückt hat: Die Madonna mit dem Kind, das entzückte Kind im Schoße der Mutter mit dem entrückten Blick der Frau, die unbefleckt empfangen hat. Welch ein Vorbild, welche Frau kann da mithalten? Laut christlicher Tradition (und den restlichen Weltreligionen und Sekten auch!) gilt die Frau als unrein, als gescheiterte Existenz. Die hohen Anforderungen übertragen sich schleichend auf die Brut. Und so könnte bei kleinster Abweichung schnell die Mutter zum Feindbild werden. Bolius wirft, man sieht, mit seiner Erzählung viele Fragen in die verschiedensten Richtungen auf, ist ergreifend, aber kein bisschen sentimental.

Ein  h a r t e s  Buch, wie es nur ein Liebender schreiben kann, der mit seinen Nächsten fallweise mitgestorben ist.

 
Juttas Tod
Uwe Bolius
Erzählung
Hohenems: Limbus Verlag, 2010. 104 S.
ISBN: 978-3-902534-34-7

etcetera Nr. 43/ Feindbilder. Zwischen Barrikaden und Blockaden./ März 2011