31/Lyrik: Die Lust an der Überwältigung, Clemens Schittko

DIE LUST AN DER ÜBERWÄLTIGUNG
Clemens Schittko
ungekürzte Fassung

Die Lust an der Überwältigung ist eine Unterwerfung –
eine Unterwerfung unter diese Überwältigung.
Und wer sich, um anderen zu berichten,
an etwas erinnern möchte,
wünscht und hofft insgeheim
im Vergessenen oder Verdrängten
erfinden zu können, was man selber nicht ist.
Ein anderes Wort für Kapital ist Fleisch;
ein anderes Wort für Fleisch hingegen ist nicht Kapital.
Der Ursache allen Unglücks
können wir lediglich in der Erstarrung zugewandt sein.
Nicht wir, die Bilder selbst sind es, die sich löschen,
indem sie (als Erinnerung an das Vergessen)
unser Gedächtnis fluten.
Warum ist es nie die Einsamkeit,
die an ihrer Einsamkeit verrückt wird,
damit wir sie endgültig überwinden können
(und nicht länger überwintern)?
Es fällt über das, was ich bin,
immer wieder mein Körper her,
so als wollte er sich ohne mich behaupten – Unsterblichkeit.
Um einmal alles Sagen zu haben,
sagst du seit langem schon nichts mehr.
Immer glaubt ihr nur (an) das,
wovon ihr nichts wisst, nichts versteht.
Die Nacht verschwindet, wenn wir
in der Nacht nicht mehr verschwinden.
Wie Insassen eines Gefängnisses oder Tiere eines Zoos
schauen von den Gemälden aus die Personen –
so als gäbe es sie wirklich –
den Betrachter des Gemäldes an –
so als dürfte es ihn gar nicht geben – ...
Ich werde wahnsinnig bei dem Gedanken,
dass es im Universum mehr Sterne geben soll
als Zellen in meinem Körper,
in denen Fragmente meines Ichs
ihre Isolation dergestalt erfahren,
dass sie Gott als Wort
neben sich in einem Gen
zu Meditationszwecken ausgelegt finden.
Fleisch und Knochen, Haut und Blut...
Wir sprechen, als sei es Sex,
und schweigen, als sei es Liebe.
Dass wir immer nur (als Ursache und Wirkung)
die physikalischen Gesetze des Lebens,
nie aber das Leben selber (erreichen und) bestehen,
ist unser eigentlicher Schmerz, den wir,
die wir Täter und Opfer zugleich sind,
über die Welt ausbreiten.
Denn jede Bewegung ist schon Verrat
an der Umarmung und am Kuss des Todes,
mit dem das Universum jegliche Bewusstheit abstößt.
Was die Erscheinungen des Tages erst unwirklich macht,
ist die Nacht, in der diese Erscheinungen verschwinden,
so dass nur noch ihre Begriffe bleiben:
die Sprache des Vakuums / im Vakuum der Realität,
in der wir so satt sind.
Und wenn es im Deutschen ein Wort für „nicht-durstig-sein“ gäbe,
hieße es DICHT, VOLL, ZU oder auch ABGEFÜLLT.
Wir leben, weil wir uns allenfalls den Tod der anderen,
jedoch nie unseren eigenen Tod vorstellen können.
So trinken wir auf das elementare Zerwürfnis des Seins,
als wäre die Geschichte von Liebe und Sex
nicht die Geschichte einer einzigen Verwechslung,
die beide „Phänomene“ zu den letzten Ideologien aufsteigen lässt,
an die wir uns wie Produkte verkaufen;
...und Ismen ziehen sich nach:
ein Li(e)beralismus als (Neo-)Sexismus.
Bevor jemandes Ausbeutung greift,
beute ich mich doch lieber selbst aus
und zensiere mein Werk, das ich bin
anstelle einer Biographie / den Kopf in der Schere.
Wie du das Innere des Todes
draußen IM LEBEN NICHT findest...
Atome strahlen, wenn uns das Denken blendet,
das wir als solches hinter den Handlungen
nicht erkennen (können) / wie einen Spiegel,
der in dem Moment mit uns zerbricht,
wenn wir ihn nur einmal
statt unserer selbst betrachten (würden).
Wo wir uns verlieren, gewinnen wir erst...Träume,
wie sie die Wirklichkeit freisetzt und die Möglichkeit bindet.
Die einfachste aller Fragen,
die Frage nämlich „wie es einem geht“,
lässt nur die schwierigste aller Antworten zu
bzw. offen – in einer Art des Schweigens,
indem man sich verspricht.
Eingeschlossen in meinem Körper,
kann ich mich selbst dann nicht verlassen,
wenn ich in dir bin (und blute).
Dieser Text ist es, den wir als bildgebende,
ja quasi-religiöse Nahrung aufnehmen,
wollen wir unsere eigentliche Nahrung ausscheiden,
war „Scheiße“ bislang doch immer mehr
als nur das bekannteste deutsche Wort,
wofür „Deutschland“ in der Fremde steht...
[…]

Ich kann alles für dich sein,
sofern ich für mich selbst nahezu nichts bin.
Wenn das Wort „Revolution“
aus der Öffentlichkeit verschwunden ist,
ist das die nächste Revolution!?
Je schöner die Nachrichtensprecherinnen,
desto unschöner die Nachrichten.
Liebe, an die wir uns gewöhnt haben,
ist nicht länger Liebe,
wie sie als Wahrnehmung zirkuliert,
als Bild in einem Kreislauf, dessen Abbild wir warten.
Sein UND Nicht-Sein ist die Antwort.
Wer eigentlich kontrolliert die Kontrolleure?
Mit Problemen, die niemand hat,
beschäftigt sich die Philosophie;
Bedürfnisse, von denen wir nichts wissen,
erzeugen in uns Wirtschaft, Medien und Politik;
Gedichte aber, die sich weder mit Tabus beschäftigen
noch solche außerhalb ihrer selbst erzeugen,
sind noch lange nicht tabu.
Dass wir anders sein wollen als alle anderen,
haben wir mit allen anderen gemein,
macht uns mit allen anderen gleich, oftmals sogar gleicher.
Ist Sex die (eine) Realität,
die den Tod in uns von Gott träumen lässt?
Früher machte man sich noch die Mühe,
Autoren umzubringen und ihre Bücher zu verbrennen;
heute ist es nur noch ein Ignorieren,
der freie Markt als moderne Form der Zensur –
für alles, was nicht unterhält.
Schreibe ich nicht mittelmäßig genug,
wird man mich nicht lesen,
ja noch nicht einmal verlegen.
Ich habe keinen Traum, ich träume...
(und wache tot auf).
Die Erwärmung der Erde
kann kaum noch darüber hinwegtäuschen,
dass es (einmal mehr) kälter in uns geworden ist.
Nicht das Begehren, das Nicht-Begehren ist es,
wonach sich Schönheit sehnt, die nicht in Ästhetik aufgeht
wie die den Körper weitenden Vorstellungen
von der Wirklichkeit eines anderen Körpers,
der in dem einen Körper ein Asyl sucht und ein Exil findet.
Man kann sich nicht gegen etwas entscheiden;
man kann sich nur nicht entscheiden
(zwischen Alles-Haben(-Wollen) und Nichts-Sein(-Können)).
Mich beruhigt, dass du auch ohne mich nicht zurecht kommst.
Meine Schublade, in die ich passe, ist ein Sarg;
und jede Unterstellung, die den anderen bezichtigt,
einer Ideologie auf den Leim zu gehen,
ist selbst schon Ideologie, nicht mehr
und (oder: aber auch) nicht weniger.
Gib mir Namen, unzählig viele,
damit ich eins werde mit der Welt,
von der ich nichts verstehe, und verschwinde.
Sag Ja zum Nein, sag nur nicht Jein,
wenn jedes Vielleicht schon zu einem Nein geworden ist.
Es gibt so viele Definitionen von Liebe,
wie es Menschen auf der Erde gibt,
aber so wenige Definitionen darüber, was ein Mensch ist,
wenn wir ihn nicht in zwei Geschlechter zerlegen.
Überhaupt nicht definiert sind die Begriffe in (den) Gedichten;
deshalb sind Gedichte jene sprachlichen Äußerungen,
denen am meisten misstraut wird.
Aus Dingen wurden Waren, aus Werten Preise.
Das System gehört zu den Toten und nicht,
wie von so manchem (für uns abstrakten) Funktionär angenommen,
die Toten zum System.
Schließlich stirbt die Sprache ja auch nicht in den Menschen,
sondern sterben die Menschen in der Sprache.
Wie poetisch die Welt doch geworden ist, seit wir lügen.
Wenn du nicht mehr gegen Staat,
Industrie und Gesellschaft sein kannst,
bist du nur noch gegen dich selbst.
Das Leben hat genau den Sinn,
dass es keinen Sinn hat / so wie der Tod,
der uns in seiner Sinnlosigkeit
(wie sonst nichts im Universum) ein Trost ist.
Und wurde je das Gesagte getan,
das Gedachte gesagt
oder das Getane vom Gedachten unterschieden?
Da wir es nicht gelernt haben,
mit Messer und Gabel umzugehen,
fressen wir wieder und wieder
das uns vorgesetzte Besteck
und spielen mit dem Essen wie mit Kot.
Nennt mich einen “freien Autor”, wenn ich gestorben bin
und nichts mehr mit meiner Biographie
respektive meinem Werk zu tun habe.
Und gebt den “jungen – hungrigen – Autoren” zu verstehen,
wie wenig ihre aufgeblähten Biographien überzeugen,
hinter denen sie ihre mittelmäßigen Werke zu verstecken suchen.
Verlernt wird das Leben ja erst durch Lesen und Schreiben.
Für jemanden aber, der nichts damit anzufangen weiß,
wie ich wem was wann schreibe, bin ich einfach nur arrogant,
zumal ich ja selbst kaum etwas mit mir anzufangen weiß,
um einen Zugang zu meinem Geschriebenen zu finden.
Was bleibt da noch, als dass mein Geschriebenes
einen Zugang zu mir findet und es nicht mehr
dieser Vorwurf der Arroganz ist,
dem man sich zumindest so lange ausgesetzt sieht,
bis man selbst am Ende glaubt, tatsächlich arrogant zu sein?
Leben meint Sterben, meint die Vorbereitung auf den Tod,
aus dem wir gekommen sind, als wir geboren wurden
und man es nicht mehr aushielt,
dass wir noch länger tot sind.
Fänden sich nur in jedem von uns
sämtliche Krankheiten dieser Welt wieder,
was zur Folge hätte, dass sie sich gegenseitig aufheben,
wir wären nie wieder krank.
Denken ist eine Depression
(wie jedes andere Wort / Architektur aus Schmerz und Zeit).
Seitdem die Erde rund ist und keine Mitte mehr hat,
die noch von irgendeiner Grenze vorgegeben wird,
kann es dir passieren, dass du dich, ohne es zu merken,
längst schon rechts von allem und jedem
draußen im Osten befindest,
je mehr du dich nach links, immer der Sonne nach,
Richtung Westen bewegst.
Das Leben kommt nicht im Imperativ,
der Tod nicht im Konjunktiv zu sich.
Wie kann es noch Knoten im Gehirn geben,
wenn das Gehirn für sich genommen
bereits ein einziger Knoten ist?
Kaufmännisch betrachtet ist der Funkspruch “Erde an Universum”
auch nichts anderes als ein Buchungssatz,
mit dem wir kontieren,
dass das Gegenwärtige sein aushöhlendes Element
nicht aus dem Vergangenen bezieht.
Erst mittendrin ist man nicht mehr dabei.
Deine Hand mit meinem Körper berühren;
Worte wie Wind; dass das, was wir wahrnehmen,
sich nie dort ereignet, wo wir es wahrnehmen;
und Bilder sich aus dem weißen Rauschen der Sprache lösen –
als Licht und Pause, als Musik –
Statistiken / gelöscht auf dem Papier,
der Archäologie Protokolle in der Bürokratie.
Vom Krieg erzählen die Alten wie die Jungen vom Sex.
Man kann noch sagen,
dass das, was sich sagen lässt,
schon gesagt worden ist.
Wie wir aber dabei lieben, werden wir stumm:
für den Tod, der nicht tötet, wo er lebt.
Und ginge es demokratisch zu,
müsste man Wahlbenachrichtigungen an die Adressen
der uns in der Überzahl befindlichen Toten schicken –
an die Friedhöfe und Schlachtfelder dieser Welt;
entschieden wäre nichts...
Es gibt keine Freiheit, nur Befreiung;
kein Tun-und-lassen-was-man-will,
nur ein Nicht-tun-müssen-was-man-nicht-will.
Wer beim Arzt nur noch ablegt,
macht sich frei bei seinen Bekannten,
den Beichtvätern von einst.
In den Fernsehdokumentationen
geben die Hintergrundsprecher Gott und Nicht-Gott.
Nie war es leichter, berühmt zu werden,
solange man nichts / außer seinem Ich / zur Schau stellt.
Der Organismus – ein Orgasmus...
Dieser Zwang zur Nonkonformität:
Wie das geschichtlose Vergangene
provoziert jetzt das Betuliche
in der Beschreibung des eigenen Gartens.
Wir hören auf, wo die Welt beginnt.
Und in den Städten riecht der Frühling nach Urin.
Nur ein Wort ist Liebe, nur eine Silbe der Tod.
Bis hierhin sind diejenigen gelangt,
die über der Sprache verrückt geworden sein müssen.
(Die über der Sprache verrückt geworden sind,
müssen bis hierhin gelangt sein.)

Kurzbiografie: Clemens Schittko
Geboren 1978 in Berlin/DDR. Ausbildung zum Gebäudereiniger. Arbeitete als Fensterputzer. Abgebrochenes Studium der Literatur-, Musikwissenschaft und Philosophie. Zur Zeit Hilfsbuchhalter, Transportarbeiter und Lektor in einem kulturwissenschaftlichen Verlag. Seit 2002 Veröffentlichungen in Zeitschriften (Ostragehege, Zeichen & Wunder, Dichtungsring, Wiecker Bote, lauter niemand u.a.). Lebt in Berlin(-Friedrichshain).