39 / Prosa: Die Herrin der Ringe. Doris Nußbaumer

 

 

 

 

 

Doris Nußbaumer
DIE HERRIN DER RINGE

 

Ich weiß nicht, wie es geschehen ist, dass der Stiegenhaus-Smalltalk mit meiner Nachbarin in einen gegenseitigen Austausch unserer aktuellen Krankenakten ausartete. Obwohl ich vor allem mein Gegenüber jammern ließ, entschlüpfte mir schließlich doch das Geständnis, dass ich zur Zeit dauernd müde war und auch wusste, warum: Einschlafen – irgendwann vielleicht einmal, fallweise. Durchschlafen – sicher nicht.

Meine Nachbarin spreizte die Augen auf: „Liegen Sie vielleicht auf einer Wasserader? Sie sollten das unbedingt testen lassen, da kann man sich die ärgsten Sachen einfangen! Vielleicht müssen Sie einfach nur das Bett umstellen.“

„Ähm“, machte ich frustriert. Zu oft schon war ich mit meiner Anti-Erdstrahlen-Argumentation an schierem Nichtvorhandensein von dreidimensionalem Vorstellungsvermögen gescheitert. Trotzdem versuchte ich es erneut: „Was soll es denn bringen, das Bett um zwei oder drei Meter zu verrücken? Mehr Veränderung ist in einem Durchschnittsschlafzimmer ja doch nicht drin. Strahlen breiten sich zentrifugal, d. h. in alle Richtungen von der Quelle aus. Eine Wasserader, die mehrere hundert Meter unter der Erdoberfläche liegt und dann noch im x-ten Stockwerk schädliche Wirkung verbreiten will, müsste von einem riesigen schlauchförmigen Problemraum umgeben sein, dessen Radius die Tiefe des strahlenden Objekts plus der Gebäudehöhe beträgt. Wenn man sich in diesem gedachten Objekt wenige Meter seitwärts bewegt, kann man die Distanz zur Strahlenquelle nur marginal verringern und bekommt deshalb fast genau so viel Strahlung wie vorher ab. Selbst wenn Wasseradern wirklich schaden würden, Möbelrücken hilft nicht dagegen. Man müsste mindestens zehn Hausnummern weiter ziehen.“

Meine Nachbarin sah mir freundlich zu, wie ich mit beiden Händen Punkte, Kreisbögen und Radien in die Luft fuchtelte. Dann meinte sie lächelnd: „Aber das mit den Wasseradern ist doch in zig-tausend Fällen erwiesen. Mir hat das selber total geholfen, ich hatte ja solche Schlafprobleme, bis ich...“

„Ich bin Sechsundneunzig hier eingezogen und habe seit dem ersten Tag an ein und dem selben Fleck geschlafen, zuerst auf einer Luftmatratze, dann auf einem Camping-Klappglumpert und dann auf einem Luxus-Naturmaterialienbett, und zwar meistens murmeltiertief. Jetzt schreiben wir das Jahr Nullsechs. Seit ein paar Wochen schlafe ich nicht so super – na und? Glauben Sie etwa, dass vorigen Monat eine neue Kupferader oder ein unterirdischer Fluss unter dem Wiener Becken entstanden ist?“, unterbrach ich heftig.

„Wer weiß?“ flötete die Nachbarin und fuhr unerschüttert fort, mir den Vorher-Nachher-Effekt ihrer Anti-Wasseradern-Maßnahmen zu schildern. „...und das Beste daran ist, man muss gar nicht die Möbel umstellen, man legt einfach nur diese Kupferringe unters Bett, die lenken das Strahlenzeugs zu 98 Prozent ab, das ist wissenschaftlich erwiesen.“

Ich dachte das unanständige Wort, das mit „Pl“ beginnt und mit „acebo“ endet. Gerade wollte ich etwas über die Kriterien der Wissenschaftlichkeit bemerken, da lief sie in ihre Wohnung zurück, rumpelte mit ein paar Schubladen und brachte mir einen bunten Folder.

Bevor ich noch den Inhalt des Prospekts intellektuell erfassen konnte, fielen mir altgedientem Korrekturlesetrampel gleich drei falsche Wortteilungen, ein Layoutschnitzer und – wuah! Schreikrampf! – ein  überflüssiger Genitiv-Apostroph auf. Der Text, der zwischen mit Weichzeichner aufgenommenen Fotos von dezent geschminkten, schönen jungen Menschen stand, begeisterte mich auch nicht wirklich. Nach der Einleitung – Gesundheit wertvollstes Gut – und dem Gewissensargument – Verantwortung für das Wohlbefinden der ganzen Familie – steuerte die Argumentation über die Problemstellung – heutzutage alle immer Stress und Weh und viel sensibler als – auf die Lösung zu: ewige Kräfte der Erde nutzen, Kupfermagnetringe von Biosanaflux (Registered Trademark) kaufen und unter die Matratze stopfen.

Die Preisliste auf der letzten Seite zog mir die Luft aus den Lungen, ich machte ein Geräusch, das in etwa mit „Iiiiärgh!“ zu transkribieren wäre. Ein Set Erdstrahlenverhinderungsringe kostete etwa soviel wie Kindlers zwanzigbändiges Literaturlexikon oder, weltlicher umgerechnet, mehr als sehr, sehr viele Billigstflugtickets in europäische Hauptstädte.

Zwar hatte ich momentan keinen Bedarf an Billigstreisen, und den Kindler konnte ich auch in der Institutsbibliothek konsultieren (obwohl es natürlich schick wäre, die zwei Laufmeter geballte Info wirklich zu besitzen, während der Schlaflos-Phasen Artikel für Artikel zu lesen und dann bei der Diplomprüfung so zu tun, als hätte man sich die gesamte Weltliteratur intravenös gespritzt...)

„Ja, ich weiß, die Preise sind ganz schön happig“, schaltete sich meine Nachbarin in meine literaturwissenschaftlichen Größenwahnsinnsphantasien ein, „aber Gesundheit hat eben ihren Preis, man muss auch einmal etwas für sich tun, was bringt einem der schnöde Mammon auf dem Sparbuch, wenn man leidet... Sie können den Prospekt behalten, rufen Sie den Herrn Preinitzlhofer gleich an, vielleicht hat er sogar schon dieses Wochenende Zeit, er pendelt Ihnen die Wohnung mit der Wünschelrute aus und sagt Ihnen dann genau, welches Ringe-Set Sie brauchen.“

Wahrscheinlich das aus Platin mit den Brillanten und den Spezial-Runengravuren am Rand, Ratenzahlung möglich!, dachte ich rabiat. Dass sich mein papierenes Einkaufssackerl gerade an einem Eck auflöste, weil ein Paket Gefriergemüse die Jetzt-ist-die-Kühlkette-aber-schon-wirklich-zu-lange-unterbrochen-Grenze überschritten hatte, besserte meine Stimmung absolut nicht. Meiner Nachbarin fiel das Missgeschick mit der Tiefkühlware ebenfalls auf, sie entschuldigte sich, dass sie mich aufgehalten hätte, ach peinlich, sie müsse jetzt ja auch, schon so spät, th-th-th.

Halb die Treppe hinunter blieb sie stehen, wandte sich noch einmal um: „Ich kann eh verstehen, dass Sie es sich bei so teuren Sachen genau überlegen wollen. Wissen Sie was, ich bin dieses Wochenende bei der Kusine im Waldviertel eingeladen, da könnte ich Ihnen meine Biosanaflux-Ringe borgen. Die Eva wohnt ganz nach Feng Shui, sie hat alles energiemäßig prüfen lassen, zu ihr muss ich die Ringe ja nicht mitnehmen. Probieren Sie sie einmal aus, schauen Sie, ob Sie damit besser schlafen. Dann können Sie sich immer noch eine Energieberatung ausmachen.“

„Ja-ha, danke schön“, sagte ich vage und begann, mein aufgelöstes Sackerl zu verarzten. Es roch nach nassen Radieschen, nassem Papier, nassem Baguette, nassem Brie und aufgetautem Kohlgemüse. Da fiel mir etwas ein, ich beugte mich übers Stiegengeländer, rief nach unten: „Ja bitte, borgen Sie mir die Dinger! Ich will es wissen!“

 

Der Herr Preinitzlhofer war wie verabredet am Samstag um vierzehn Uhr zur Stelle. Irgendwie musste ich trotz der jungen fröhlichen Stimme am Telefon noch dem antiquierten Klischeebild eines Wünschelrutengängers nachgehangen sein, das ich aus diversen Fernsehbeiträgen zu kennen glaubte. Zu den Themen Geomantik und Wenden, Gesundbeten und Geisterbeschwörung wurden vorzugsweise rundliche gepflegte grauhaarige Pensionisten interviewt. Sie trugen auffällig oft Tirolerhütel und Trachtenjanker, wollten „das geheime Wissen unserer Vorfahren“ lebendig erhalten und es gegen „diesen Multi-Kulti-Einfluss heutzutage“ verteidigen. Dass so ziemlich jede Kultur einen Fundus von komplexen, seit langem tradierten und nicht zu allen Zeiten von allen Gesellschaftsschichten praktizierten Realitätsbewältigungsstrategien vorzuweisen hatte, fiel ihnen nie auf.

Der Typ, dem ich die Wohnungstür öffnete, war ein leger gekleideter Mittdreißiger mit hellbrauner Wuschelfrisur. Er lächelte sympathisch, stellte sich vor und schleppte zwei Schultertaschen voll Equipment in meine Wohnung. Wo er es abstellen dürfe, fragte er, ob er die Schuhe ausziehen solle, und ob wir einander du sagen wollten.

Schuhe ausziehen – ja, du sagen – nein, war ich versucht anzuordnen.

Gleichviel, als ich ihm Salbeitee, Rosmarintee oder „geeisten Hopfentee“ (= Bier) anbot, wählte er Letzteres und installierte sich auf meinem schwarzen Ledersofa, nicht ohne kritisch zu bemerken, dass Schwarz negative Energien abstrahle und schwarze Möbel mit Vorsicht eingesetzt werden sollten, ja, wirklich sparsam.

 

Der Wünschelrutengänger Preinitzlhofer, den Paul zu nennen ich noch immer nicht bereit war, packte seine Rute aus. Es handelte sich um eine Schlaufe aus dickem Kupferdraht, die beiden Schenkel spreizten sich um etwa hundertzwanzig Grad. Er nahm die Enden zwischen Daumen und Zeigefinger, wippte die Kupferschlaufe, schloss die Augen, wippte selbst auf den Zehenballen.

„Ich muss mich erst erden.“ erklärte er mir, fast entschuldigend. Wahrscheinlich hatte ich ihn gar zu neugierig gemustert.

Erden, dachte ich, das ist äußerst sinnvoll, wir befinden uns hier in der fünften Etage. Oder heißt „sich erden“ einfach: bewusst spüren, was man sowieso die ganze Zeit macht, nämlich auf den eigenen Fußsohlen stehen?

„Formuliere bitte noch mal für mich und mein Instrument das Problem, das ich für dich untersuchen soll.“, bat er mit etwas samtigerer Stimme als zuvor.

„Ja“, sagte ich nachlässig, „ich schlafe seit ein paar Wochen ein bisschen schlecht, obwohl ich saumüde bin, schlafe ich ewig nicht ein und wache immer wieder auf, dann fällt mir dauernd etwas wegen der Uni ein, es kann auch sonst etwas Lästiges sein, entweder ich muss aufs Örtchen oder ich habe Durst oder ich habe vergessen das Fenster aufzukippen und es ist stickig herinnen, solche Sachen halt. Ich habe ja geglaubt, es ist einfach eine Stressgeschichte, aber meine Nachbarin hat gemeint, es könnte mit Erdstrahlen zu tun haben.“ Ich sah ihm treuherzig in die Augen: „Weißt du, das Komische ist ja, mein Bett steht da, seit ich vor zehn Jahren eingezogen bin, ich habe nie Schlafprobleme gehabt, aber seit ein paar Wochen...“ Ich zuckte die Schultern, blinzelte unschuldig.

Jedes medizinisch und/oder therapeutisch gebildete Individuum hätte mich sofort nach veränderten Lebensumständen fragen müssen, sich erkundigen nach Vorfällen, bezogen auf Familie, Beziehung, Job, Ausbildung, eventuellen Drogenkonsum, Medikamente oder sonst eine neue Komponente in meinem Alltag. Der Wünschelrutengänger schnüffte bedeutungsvoll und sagte: „Na, schauen wir einmal!“

Er hielt die Kupferrute waagrecht vor sich, zwirbelte sie zwischen den Fingern. Er starrte auf die Stelle, an der sich der Draht kreuzte. Die Wünschelrute sprang auf und ab. Von einer Sekunde auf die nächste sackten Pauls Augenlider tiefer. Trotz meiner extrem skeptischen Einstellung war ich überzeugt, dass sich seine Fingermuskeln plötzlich entspannten, die Rute wippte weniger, sachter, dann kaum mehr – sie vibrierte fast unsichtbar.

Paul begann mein Schlafzimmer abzuschreiten. Länge, auf, ab, zwischen Bücherregal und Bett vorbei, den gleichen Weg zurück, Neunzig-Grad-Wendung, am Fenster halb vorbei, Stopp mit halb geschlossenen Augen, einen Schritt zurück, wipp mit der Rute, noch einen Schritt zurück, wipp-wipp, wieder ein paar zarte Schritte vor, Gemurmel...

Fasziniert beobachtete ich, wie er mein Schlafzimmer sondierte. An einigen Stellen – neben der großen gestreiften Sansiveria, vor dem Rattanregal, zwischen Bett und Kleiderschrank – machte er besonders bedeutungsvoll „Hm, hm, hm, na also, alles klar!“

Schließlich packte er die Rute weg, sah mich aus großen Rehaugen tief an und teilte mir die niederschmetternde Diagnose mit: Mein Schlafzimmer sei total verstrahlt, an gesunden Schlaf sei hier nicht zu denken, hier – er zeigte längs, zeigte quer – hier und hier liefen Wasseradern, direkt, aber sowas von punktgenau unter meinem Bett kreuzten sie sich, ein Wunder, dass ich es so lange ausgehalten hätte! Ob ich sicher sei, nicht manchmal Herzrhythmusstörungen zu haben, Migräne, eiskalte Füße?

Wahrheitsgemäß verneinte ich.

„Nun, zum Glück hast du dich rechtzeitig um das Problem gekümmert.“ meinte Paul nach sekundenkurzer Irritation. Aus dem Juterucksack fischte er eine flache Schachtel, platzierte sie respektvoll auf dem Nachtkästchen und öffnete sie so vorsichtig, als enthielte sie das Krönungsdiadem von Kaiserin Portiuncula. „Die Kupfermagnetringe von Biosanaflux entstrahlen selbst die problematischsten Räume und verbessern die Lebensqualität entscheidend, das ist wissenschaftlich erwiesen!“ deklamierte er.

Schon begann er an meiner Matratze zu zerren. Das ging mir nun zu schnell. Betont naiv fragte ich: „Ja, aber helfen diese Ringe denn sofort? Und haben sie auch kein Ablaufdatum, ich meine, wirken sie auch nach ein paar Jahren noch so gut? Meine Nachbarin benutzt ihr Ringe-Set ja schon eine ganze Weile.“

Paul versicherte mir, dass in der selben Sekunde, in der er die Magnetringe in Position brachte, die Strahlen einen großen Bogen um mein Bett machen würden und dass das auch so bleiben werde. Biosanaflux gebe selbstverständlich lebenslange Garantie. „Du wirst sehen, wenn ich nachher noch mal eine Messung vornehme, wird die Rute kein bisschen mehr zucken.“

Bestimmt nicht, dachte ich maliziös.

Nachdem ich mich so gegen alle nachträglichen Ausflüchte abgesichert hatte, ließ ich ihn werken. Die breite Kokosfasern-Kautschuk-Rosshaar-Matratze setzte seinen Bemühungen beachtlichen Widerstand entgegen. Leise näherte ich mich dem Bücherregal. Auf der Lessing-Gesamtausgabe lag klein und unauffällig, eingeschaltet und schussbereit meine Digitalkamera. Ich wollte mir ein Bild machen, ich wollte es unbedingt verewigen, das dumme Gesicht des Wünschelrutengängers Preinitzlhofer, wenn er die schwere Matratze endgültig hochgewuchtet hatte und feststellen musste, dass sie die ganze Zeit schon da gewesen waren. Während er horrende, gesundheits-, ja lebensgefährliche Strahlenwerte rund um mein Bett „gemessen“ hatte, waren sie auf dem Lattenrost gelegen, die geborgten Erdstrahlenverhinderungsringe meiner Nachbarin.

 

 

Doris Nußbaumer:

Geboren 1973 in Gmunden/ OÖ, lebt in Wien. Schreibt Hochdeutsch und Dialekt, Prosa und Lyrik. Unterrichtet Kreatives Schreiben nach der Methode der Wiener Schreibpädagogik. Vizepräsidentin der Österreichischen DialektautorInnen. Zuletzt erschienen: "Meine Sprache heißt FRAM" im Verlag a-uhudla.

 

etcetera 39/ Aberglaube & Irrglaube/ März 2010