46/ arbeits-los/ Prosa: Horst Fuchs. Ekaterina Heider

Ekatarina Heider
Horst Fuchs

Auf dem Tisch: eine offene, fettige Pizzaschachtel vom Vortag. Unzählige leere Bierflaschen von den letzten Wochen, ein eckiger, prall gefüllter Aschenbecher, Tabak, Zigarettenfilter, eine Schachtel Mexalen und meine Füße, gepackt in rosa Wollsocken mit Hasenköpfen dran. All meine Gedanken konzentrieren sich auf das kleine, nutzlose, ausgelaugte Ding, gegen das ich meine Persönlichkeit eingetauscht habe. Ohne Garantie und Rückgaberecht, da Privatgeschäft.

Der Tag beginnt. Innerhalb der ersten 1,5 Stunden trinke ich vier Tassen Kaffee, schmeiße eine davon um, schneide mich zweimal beim Rasieren, checke meine Mails ab, merke, dass ich niemanden interessiere, ziehe mich an, finde mich fett, male mir Glück ins Gesicht und gehe zur Arbeit. Ich hasse sie, und auf dem Weg dorthin wird mir das von Minute zur Minute klarer. Der Bus stinkt, der Fahrer ist unfreundlich, die Leute hässlich, arrogant und ein paar davon definitiv zu stark einparfümiert. Beim Busfahren wird mir außerdem übel.

In der Hölle angekommen, begrüße ich drei Arbeitskolleginnen. Zwei nicht. Setze mich auf meinen Platz, schalte den Computer ein und lächle die nette Steffi an, die gegenüber von mir sitzt, stets pastellfarbene Tops trägt und sich bereits um acht Uhr morgens ein Thunfischtramezzini in den Mund stopft. Verlegen richte ich meinen Blick woandershin. Erstens um nicht kotzen zu müssen, zweitens um nicht aufzufallen.

Ich logge mich im hauseigenen Computerprogramm ein, bei dem jeder Mitarbeiter eine vierstellige Nummer hat, nur der Statistik wegen versteht sich, und öffne das Call off – Fenster, in dem 176 Leute alphabetisch aufgelistet sind. Leute, die ich heute versuchen werde telefonisch zu erreichen, um sie über das neue Vier Pfoten-Projekt aufzuklären, und bestenfalls einen Abbuchungsauftrag mit ihnen abzuschließen.

Besetzt. Person nicht da. Besetzt. Aufgelegt. Nicht interessiert. Definitiv nicht interessiert. Zurzeit keine Spende. Erlagschein-Spende.

„Ja, schönen guten Tag, mein Name ist Katharina Lenz von den Vier Pfoten, spreche ich mit der Frau Brigitte Hirtzer? Schön, dass ich Sie persönlich erreiche, Frau Hirtzer!“

Ich versuche alles um mich herum auszublenden. An nichts zu denken, damit ja kein bisschen Persönlichkeit in das Telefonat durchsickern kann. Lese ab. Automatisch. Ich bin ein Roboter. Frau Hirtzer hat keinen Bock. Weil sie erstens kein Geld hat und zweitens eh schon für jeden Scheiß spendet.

„Dennoch, vielen Herzlichen Dank!“, sage ich freundlich.

Frau Hirtzer legt auf. Zurzeit keine Spende. Noch 6 Stunden, 14 Minuten und 163 Leute.

Ich sollte Veränderung in mein Leben bringen. Sollte mich weiterbilden, neue Orte besuchen. Sollte endlich meine Küche aufräumen und das Brian Molko-Poster im Vorzimmer gegen eine Weltkarte austauschen. Neue Glühbirnen kaufen und meinen Kleiderschrank ordnen. Sollte aufwachen.

Stattdessen telefoniere ich weiter vor mich hin und starre dabei mal auf den Computerbildschirm, mal auf die Steffi. Ich gehörte nämlich zu den Menschen, die nie ein Hobby hatten und als Kind nicht etwa Zahnarztbesuche oder schwierige Rechenaufgaben hassten, sondern einzig und allein die beliebteste aller Fragen: „Was willst du später mal werden?“

Ich würde ja gern etwas anderes machen, aber irgendwie kann ich nichts.

Später liege ich essend vor dem Fernseher und sehe kurz zu, wie sich die schönsten Mädchen Deutschlands gemeinsam mit Heidi zum Deppen machen, nachdem Stefan Raab in engen weißen Hosen und mit angestrengtem Gesicht versucht hat einen Football zu fangen. Auf einem anderen Sender läuft eine Dauerwerbesendung, bei der sie den Leuten zuerst eine routierende Profi – High Tech – Haarbürste, und später ein „so sensibles Hörgerät, dass Sie sich sogar ihre Lieblingsfernsehsendung anschauen können, während Ihr Partner friedlich schläft“, andrehen wollen. Der Hörgerät-Typ sagt mit einem begeisterten Lächeln, „dass Sie mit Ear Zoom ALLES hören, was in ihrer Umgebung geschieht“, wobei er die R‘s in den Wörtern „hören“ und „Ihrer“ rollt. Beide Weltneuheiten geben mir mehr Sicherheit, Selbstvertrauen, Flexibilität, Gewissheit, Schönheit, Freizeit, Stabilität, Komfort, Zufriedenheit, Glück… und sorgen für eine bessere Lebensqualität, mit Geld-Zurück-Garantie. Und wenn ich SOFORT bestelle, bekomme ich ganz viele tolle Sachen, wie zum Beispiel einen Kamm, der mein äußeres Erscheinungsbild derart verändert, dass ich endlich einen perfekten Job, einen Traumpartner und auch den Rest, den ich immer schon haben wollte, GRATIS dazu bekomme.

Nach weiteren zehn Minuten, in denen Horst Fuchs mir das ultimative Messerset, das selbst Ananas in der Luft zerschneidet, präsentiert, greife ich zum Telefon und stelle mir voller Euphorie vor, wie ich in nur zwei Wochen das nette Paketchen mit meinem neuen, harmonischen, einfachen, sauberen Leben öffne, das mir per Post zugeschickt wird. Mit einem Messerset gratis dazu, sozusagen. Geil, denke ich.

Später ruft meine fürsorgliche Mutter am Handy an, um mich daran zu erinnern, wie viel besser es für mich wäre, mir endlich einen vernünftigen Typen zu suchen, als mir ständig irgendeinen Scheiß im Fernsehen anzusehen. Die letzten zwei Minuten des Telefonats lege ich das Handy neben den Kopfpolster, lasse sie reden, öffne eine Bierflasche und trinke auf mein neues, schönes Leben.

Ekaterina Heider
Geb. 1990 in Irkutsk, Russland; kommt mit elf Jahren nach Wien, wo sie heute als Autorin lebt.

LitGes, etcetera 46/November 2011/arbeits-los