56/wunder/Prosa: Brigitte Pokornik: Alte Möbel

Brigitte Pokornik

Alte Möbel

Als es zum ersten Mal passierte, war sie gerade zwanzig und stand vor dem Scherbenhaufen ihrer Zukunftspläne. Harry, ihr Verlobter, war bei einem Autounfall ums Leben ge-kommen, damals noch eine ungewöhnliche Todesart, es gab so wenige Autos – und ausgerechnet Harry mußte es treffen! Eine Freundin überredete sie zu einem Schaufensterbummel: „Damit du etwas Neues siehst und nicht immer nur grübelst.“ Sie ließ sich mitziehen, schaute teilnahmslos in die Auslagen -und blieb plötzlich stehen, wie vom Blitz getroffen.
Da, im Fenster des Antiquitätengeschäfts, stand Harry, eindeu- tig Harry – das waren seine wohlgeformten Waden, auf die er immer so stolz gewesen war, nur daß er jetzt vier davon hatte - und der Bezugsstoff glich aufs Haar dem Stoff seiner Lieblingsjacke.
Der obere Rand der Rückenlehne erinnerte sie an Harrys Schultern und die Armlehnen waren in einer seiner typischen Gesten erstarrt, als wollte er sagen: „Komm, worauf wartest du!“
Die Freundin drängte aufs Weitergehen, und sie mußte sich fügen. Sie konnte doch unmöglich sagen: „Das da ist Harry, in einen Lehnstuhl verwandelt, Harry in einer Reinkarnation als Möbel - “
Die Freundin hätte sie für verrückt gehalten. Vielleicht war sie das auch. Die ganze Nacht lag sie wach und dachte an den Lehnstuhl, der Harry war. Als das Geschäft am nächsten Morgen aufsperrte, stand sie schon vor der Tür und verlangte den Lehnstuhl zu sehen. Sie bemerkte, daß er sogar roch wie Harry, aber das konnte auch eine simple Erklärung haben. Vielleicht benutzte der Vorbesitzer das gleiche Haaröl. Sie kaufte den Lehnstuhl. Sie mußte ihn einfach kaufen. Undenkbar, Harry hier in der Auslage zurückzulassen, sie hätte keine ruhige Minute mehr gehabt. Als der Lehnstuhl geliefert war und in ihrem Zimmer am Fenster stand, holte sie tief Luft und ließ sich vorsichtig auf ihm nieder. Sie schloß die Augen, da saß sie auf Harrys Schoß, Harrys  Arme  umfingen sie, sie lehnte sich an seine Brust und fühlte sich zum ersten Mal seit Wochen getröstet.
Der Lehnstuhl wurde ihr Lieblingsmöbel und blieb es auch, als sie Bodo kennenlernte. Und als sie Bodo heiratete und zu ihm in sein Haus zog, kam der Lehnstuhl mit. Dann brach der Krieg aus und Bodo mußte einrücken. Eines Tages half sie einer Bekannten, die aufs Land übersie- delte. Sie stiegen auf den Dachboden, um die Koffer herunter- zuholen, da entdeckte sie Bodo. Bodo in Schwarz, an den Kanten ein klein wenig abgeschabt, aber in eleganter Haltung wie immer. Unverkennbar war es Bodo, der da in einer Ecke des fremden Dachbodens stand, als Sekretär, wie er es im Zivilberuf auch war. Wie eine Schlafwandlerin ging sie nach Hause. Tags darauf kam die Nachricht, daß Bodo gefallen war. Die Bekannte überließ ihr gern den alten Sekretär und wun- derte sich nur ein wenig über die Leidenschaft, mit der sie ihren Wunsch geäußert hatte. Später entdeckte sie in dem Sekretär ein kleines Geheimfach, das sie nicht öffnen konnte, egal was sie auch versuchte.
Und sogar das paßte zu Bodo – ein Teil von ihm war ihr immer  unzugänglich geblieben. Wenn sie aber die Schreibplatte aufklappte und die Arme aufstützte, und sei es nur, um eine Einkaufsliste zu schreiben, dann klärten sich ihre Gedanken und sie wußte genau, was wichtig und was nebensächlich war. Das war der Liebesdienst, den Bodo ihr erweisen konnte – ein unschätzbarer Dienst in wirren Zeiten. Nach dem Krieg, als ihre ältere Schwester Gisela plötzlich verstarb, fand sie sie im Dorotheum wieder, als Kommode, mit  gewölbten Laden und dem gleichen Hüftschwung, das Furnier blondgesträhnt wie Giselas Haare. Natürlich ersteigerte sie die Kommode. Gisela war nicht billig, und wieder einmal zweifelte sie an ihrem Verstand. 
Doch die Kommode hatte Platz für all ihren Kleinkram, und wenn sie etwas suchte, stand die richtige Lade schon einen Spalt breit offen und der gesuchte Gegenstand lag obenauf. Gisela war immer schon praktisch gewesen. Außerdem war da noch die Sache mit dem Wasserfleck, rechts oben an der Rückwand, der ihr beim Aufstellen der Kommode aufgefallen war.
Er hatte die selbe Form wie das Feuermal auf Giselas Schulterblatt. Von da an zweifelte sie nicht mehr, weder an sich noch an ihren Möbeln. In ihrem langen Leben scharten sich noch mehr alte Möbel um sie. Jetzt war sie schon über neunzig und immer noch rüstig und klar im Kopf. Die Nachbarn wunderten sich darüber, daß sie sich nicht einsam fühlte, so allein in ihrer großen Wohnung.
Daß die alte Dame gar nicht alleine lebte, sondern alle ihre Lieben um sich hatte, die ihr durch den Tag halfen und immer für sie da waren, jedes auf seine Weise, das konnten die Nachbarn ja nicht ahnen. Sie hatte es nie jemandem erzählt. Sie war schließlich nicht verrückt.

Erschienen im etcetera Nr. 56 / wunder / Mai 2014