60/Unentwegt/Prosa: Rosa Maria Plattner: blaubetroffen

Rosa Maria Plattner

blaubetroffen

Meernebel umhüllen das feuchte Hügelland, so als hätte sie ein Inselgott geschickt, die Insel zu beschützen. Das Quirainggebirge ist in wenigen Stunden erreicht. Die Flügel breit gespreizt, mache ich mir Feldnotizen. Sind die Flügel breit, spitz oder lang? Die Flügel des Grey Heron sind bald identifiziert. Im Flug gleitet er über mir, die Flügel nach unten gebogen, grau die Innenseiten. Von unten ist er leicht zu erkennen. Blau der Himmel über Skye. Aber das Blau ist ein Trick, der Himmel ist nicht blau - er bleibt ein Geheimnis, eine Botschaft des Lichts und das Meer fängt den Himmel auf. Meer und Himmel sorgen für eine Gesamtillusion. Die Ausdehnung ins Unendliche muß Ikarus betört haben; umgeben von einer großartigen Illusion und soviel grenzenlosem Blau muß er den Entschluß gefaßt haben. Seine Begeisterung steigerte sich, als er das Blau über und unter sich wußte - bis zu seiner Vernichtung. Schwarze Streifen durchziehen die Bettdecke. Wieder das Schweigen, schwarze Regenwolken tagsüber, abends wie immer das Licht, weißes Licht über weichen Hügeln am Horizont - blaue Flecken zwischen dem Weiß, spiegeln sich im schwarzen Gewässer am Nordpier. Kinder stapfen in Gummistiefeln durch kniehohes Wasser und an Land geschwemmte Algen. Elegante Menschen auf den Terrassen viktorianischer Villen staunen über das Himmelsschauspiel: gleißend weißes Licht vor Mitternacht, rötliches Licht schiebt sich zwischen das übrige Weißgrau, weit dahinter kleine Flecken von Blau. Spiegelung im Wasser: grau wird blau wird gelb wird rot, man möchte den Mund zu einem einzigen Staunen öffnen. Der nahende Tod kann uns nicht aufhalten, die Dinge falsch zu sehen. Wieder das Schweigen vor Reden, in der schweren Zeit fehlen ihm die Worte. Keine Nähe, schon gar nicht Wortwärme, im Endeffekt Kühle. Könnte eine Geste Abgründe überbrücken? 2Es kann in diesen Tagen und Stunden von Gnade gesprochen werden. Die Reise abbrechen, den Dingen ihren Weg weisen, kann eine große Mühe sein. Wieviele Federn braucht Ikarus zum Fliegen? Und wieviel Wachs? Oder hatte er einen Propeller? Die Federn von sieben Schwänen wären nötig für einen Mann, Federn von vier Schwänen für ein Kind, zwei für ein Baby. Bin ich ein Spielverderber, wenn ich an ihr Sterbebett eile, fort aus dem gemeinsamen Reiseplan? Kann ich durch meine Wiederkehr Entfernung verhindern? Wie weit muß ich dir davonfahren, um dir nahe zu sein? Keine Klageweiber, keine Rosenkränze, keine Gebete auf dieser Schottlandreise. Der Schalterbeamte am Flughafen in Glasgow erkennt augenblicklich die Dringlichkeit einer Rückkehr. Erste Reihe fußfrei: Geheimnis innen, am Ende, am Anfang und außen. Im Moment ganz unvorbereitet, betroffen Hoffnung geschöpft, aus jenem und diesem Wort - unerbittlicher Ameiseneifer hält mich aufrecht, um noch ein Lächeln erhaschen zu dürfen. Schwarze Streifen durchziehen die Bettdecke, die Handtücher, das Nachthemd. Vorgefühle lassen sich nicht umzäunen. Engel der Enthüllung malen schwarze Streifen in gebrochene Wirklichkeiten. Ich habe mich in moorigen Seen mit Mühe über Wasser gehalten, immer dem eigenen Atem lauschend oder nachts wachliegend. Bei ihr dann den Herzschlag ängstlich gezählt, ob er auch nicht stocken würde. Immer ihren geöffneten Mund erinnernd, den seltsamen Luft-hol-Ton. Droht er leiser zu werden, stürze ich aus dem Nebenzimmer zu ihr, lege meine Hand auf die ihre. Wir leben immer in der Vorläufigkeit. Geheimnis innen, am Ende, am Anfang, und außen. Im Moment ganz unvorbereitet betroffen Hoffnung geschöpft aus jenem und diesem Wort. Am Tage im Halbdunkel, bei Nacht alles hell beleuchtet, schwirrt mir ein Schmetterling, nein schwant mir eine Schwanenfeder, sechs Schwanenfedern für eine Frau, wie sie hätte Ikarus benötigt, mir schwant das Unvermeidliche. 3Unter dem rechten Türflügel findet sich an diesem Morgen eine Botschaft: ein Papierfetzchen mit Wortfragmenten. Plötzliche Verschlechterung, Rückflug, Glasgow, London, Vienna. Schreiben ist eine Macht gegen die Angst, keine Kraft dagegen zu haben, die Hand zu halten, Kraft zu geben, und erkannt zu werden, ein letztes Mal ihr "na endlich" zu hören und den eigenen Namen. Wenige Löffel Suppe als Wegzehrung. Früchtetee fällt mir ein. "Gut", kommt es schwer über ihre Lippen. Irgendwo Priesterworte, Sprachwegerich und Wortlattich am Wegrand. Ratlosigkeit bis Skye. Freunde zum Reisen, zum Reden, aber keiner, der mir Leben zuteilt, leben wozu, sterben zusehen zu müssen und dann weiterleben? Erinnerungen entsagen den gemeinsam verbrachten Augenblicken, die sich in meinem Hirn eingegraben haben, niemals: Kann eine Erinnerung die neue, andere, eintrüben? Könnten wir uns doppelt soviel aufladen, wenn wir keine Erinnerungen mit uns tragen? Immer der gleiche Kratzer in seiner Stimme, wenn ich in dem Erinnerungsvorrat krame. Könnte ich mich jemals seiner entleeren? Wer wäre ich dann? Eine hohle Hülse, hübsch fertig für neues Innenleben. Ich komme mit geflügelten Schuhen vom Norden her, habe die Stimme noch im Ohr. Meine blassen Beine werden schwarze Strümpfe tragen - wie immer im August, das Geheimnis nach dem Ende-Anfang werde ich wieder nicht begreifen. Meine struppigen Haare gegen ihre weißen glatt gebürsteten gelehnt. Alles aufheben oder gar kein Aufhebens machen? Tote Wolken am Horizont. Absterben auf allen Linien. Schwarzgestreifte Wege durchziehen die Felder. Totstellen kann den nahenden Tod auch nicht aufhalten. Geheimnis innen, am Ende, am Anfang und außen. Im Moment ganz unvorbereitet, betroffen Hoffnung geschöpft. Schwarze Regenwolken tagsüber, abends wie immer das Licht, weißes Licht über weichen Hügeln am Horizont. Auf dem Rückflug über den gräulich-weißen Wolken am Streifenhorizont - Bläue, dahinter irgendwo lichterloh die Sonne - irgendwo dahinter - keine Urnen weit und breit zum Aufbewahren des Augenblicks. Dem Wetter ausgesetzt, bin ich entwünscht an meinen Ur-Ort zurückgekehrt, einer Meute von Hunden verfügbar. Braunrote Steine am Ufer des Lochs. Ich hebe den einen und anderen auf, und werfe ihn mit großer Anstrengung wieder zurück ins Wasser.

Rosa Maria Plattner
Geb. 1949 in N.Ö. Drehbücher, Prosa, Lyrik, Essays. Veröffentlichungen
in Anthologien und Literaturzeitschriften. Künstlerin.
Regisseurin. Veröffentlichung: beyond – darüber hinaus Marsilius
Verlag 2002, und Ritter Verlag 2006. Regie in (Auswahl): Egon
Schiele, Gustav Klimt und Jugendstil 2012 BR alpha. Kunst-Natur -
Kunst im öffentlichen Raum 2014 ARD alpha. Iris Andrasch.ek und
Hubert Lobnig 2014 ARD alpha. r.plattner@chello.at