J. Piringer, G. Vallaster: "Das Branding besteht in der Individualität der einzelnen Bücher". Thomas Havlik
„Das Branding besteht in der Individualität der einzelnen Bücher“
Interview mit Günter Vallaster und Jörg Piringer
Über das Vorhaben, einen internationalen Blick auf die visuelle Poesie zu entfalten, über zeitgemäße Sprachmaterialbearbeitung und dem Gesang der Vokale hat sich Thomas Havlik mit Günter Vallaster und Jörg Piringer unterhalten. Beide sind Herausgeber der in der “Edition ch” erschienen Anthologie “a global visuage”, aus der das Bildmaterial dieser etcetera-Ausgabe entnommen ist.
Thomas Havlik: Was ist “a global visuage”? Wie kam es zu der doch sehr internationalen Bandbreite an Beiträgen?
Jörg Piringer: Die ursprüngliche Idee, gemeinsam so eine Anthologie herauszugeben, hatte Günter schon vor über einem Jahr. Ungefähr genauso lange hat dann auch unser Ideensammeln gedauert, bis sich die genaue Ausrichtung der “global visuage” - eine Kombination aus visuell und language - herauskristallisiert hat.
Thomas Havlik: Wie könnte man diese Ausrichtung definieren?
Jörg Piringer: Ein Kriterium war zum Beispiel, dass die Künstler, die daran teilnehmen, noch leben müssen. Was wir nicht wollten, ist eine Art “historische” Anthologie zu machen. Das war nicht das Ziel.
Günter Vallaster: Es sollten gegenwärtige Arbeiten sein, das war ganz wichtig. Zur Entstehung möchte ich ergänzen, dass es ja nicht das erste Buchprojekt zur visuellen Poesie in meiner Zeit als Herausgeber der Edition ch war, in der “a global visuage” erschienen ist. Die vorangegangen Projekte haben sich aufgrund meiner eigenen Verbindungen hauptsächlich mit den östlichen Hemisphären, also mit dem Schwerpunkt Russland beschäftigt. Jörg hingegen, und nicht zuletzt deshalb haben wir uns in der Arbeit daran so gut ergänzt, hat sich, vom künstlerischen Hintergrund her, wenn man so sagen will, vor allem im Westen bewegt. Man könnte sagen, daraus hat sich ganz von selbst der Anspruch entwickelt, einen möglichst internationalen Blick auf die visuelle und digitalpoetische Poesie zu entfalten. Natürlich ist eine Anthologie nie eine Enzyklopädie und bleibt immer nur eine Auswahl. Das ist klar.
Thomas Havlik: Geworden sind es ja über 80 verschiedene Arbeiten, die in dem Band “A global visuage” enthalten sind. Das ist eine beachtliche Menge. Kann man, obwohl jede natürlich auch für sich allein steht, sagen, dass sich daraus eine Art Gesamtbild ergibt?
Günter Vallaster: Viele Arbeiten thematisieren den Menschen, auch politische sind viele dabei. Was wir wollten, ist das Einfangen möglichst vieler künstlerischer Positionen. So ist vom Bleistift bis zum Computerprogramm, von der Collage bis zur Zeichnung, von der doch vor allem literarischen Arbeit bis zur Fotokunst letztlich alles dabei.
Jörg Piringer: Es sind außerdem nicht nur Künstler enthalten, die sich vor allem als Poeten/Literaten sehen, sondern auch bildende Künstler. Also ich habe bewusst, um das Feld möglichst zu erweitern, auch Leute angeschrieben, die sich eher als konzeptuelle oder bildende oder zum Beispiel Netzkünstler sehen. Das war sehr interessant.
Günter Vallaster: Rein geografisch kannte ich zb niemanden in Polen, der dort digitale/visuelle Poesie macht, das hat sich alles erst durch die Recherche und den verschiedenen Fingerzeigen, die wir von anderen bekommen haben, ergeben.
Thomas Havlik: Da besteht meiner Meinung nach natürlich an sich ein verlegerischer Verdienst darin, dass man das überhaupt in dieser Weise angeht, wie ihr das gemacht habt. Welche Rezeptionsräume gibt es denn ganz allgemein für visuelle Poesie?
Jörg Piringer: Also von einer besonderen Mainstreamtauglichkeit kann man sowieso nicht ausgehen, glaube ich, und dass deshalb der überwiegende Teil des
gesamten Spektrums von den Leuten, die es produzieren, selbst hinausgetragen wird in die Öffentlichkeit. Ich stelle mir vor, es gibt auch innerhalb des Literaturbetriebs generelle Vorbehalte gegenüber der visuellen Poesie. Leute, die das selbst machen, suchen und finden deshalb ihre eigenen Verbreitungskanäle - und freuen sich dann auch über Initiativen. Dadurch, denke ich, hat sich “A global Visuage” doch sehr weit verbreitet.
Günter Vallaster: Mir fällt spontan dazu zum Beispiel Gerhard Jascke mit seinem “freibord” ein, der einmal Selbstinitiativen von Künstlern als “weltweite Kraftzellen”
bezeichnet hat, kleine Verlage, Gruppen, Zeitschriften, Galerien usw., die alle nicht zuletzt durch das Internet mittlerweile recht gut vernetzt sind. Das war eine Erfahrung, die mir gefallen hat und die, wie ich hoffe, sich beim Folgeprojekt “Räume für Notizen” fortsetzen wird.
Thomas Havlik: Wofür steht diese Reihe “Räume für Notizen”?
Günter Vallaster: Das ist eine Reihe, die ich ziemlich bald, nachdem ich die “Edition ch” von Lisa Spalt übernehmen habe dürfen, initiiert habe und die sich explizit
der visuellen und digitalen Poesie widmet. In der Edition ch war die visuelle Poesie immer sehr wichtig, auch schon vorher. Wahrscheinlich war sie sogar einer der Hauptgründe, warum sie von Christine Huber damals gegründet wurde, um dieser literarischen Gattung, für die es für gewöhnlich kaum Aufmerksamkeit gibt, einen Raum zu geben. Und zwar Anthologien, die nicht nur als Textsammlungen funktionieren, sondern die auch ein genreübertretendes Konzept transportieren.
Begonnen habe ich selbst mit dem Band “Grenzüberschneidungen”, einer russisch-österreichischen Sammlung visueller Poesie. Das interkontinentale war mir
immer wichtig, das Blicken über den Tellerrand, ganz generell, sowohl in der Literatur als auch in der Kunst. Ästhetische Überlegungen sind das nächste. Zum Beispiel habe ich ein “Alphabet der visuellen Poesie” gemacht, bei der sich jeder Eingeladene einen Buchstaben aussuchen durfte. Oder es gab auch einen Band mit Paragrammen, permutative Verfahrensweisen in der Literatur, also nicht nur visuelle Poesie. Das war und ist, könnte man sagen, so eine Art Grundlagenforschungsprojekt, innerhalb dessen bis herauf zu “A global visuage” mittlerweile acht Bände erschienen sind. Räume für Notizen wird der neunte
Band und soll Arbeiten beinhalten, die zu “A global visuage” passen und sozusagen die letzten weißen Flecken der Landkarte beackern werden.
Thomas Havlik: Zum Beispiel?
Günter Vallaster: Zum Beispiel aus Japan, das bislang noch nicht oder kaum vertreten war und wohin sich in der Zwischenzeit neue Kontakte ergeben haben. Es soll aber kein supplement-Band werden, sondern eine eigenständige Publikation, in der auch viel Platz für theoretische Texte sein wird, für Essays.
Thomas Havlik: Du bist, wie du selbst gesagt hast, ja seit mittlerweile beinahe zehn Jahren als Verleger der Edition ch tätig. Siehst du dich selbst eigentlich mehr als Autor oder als Verleger?
Günter Vallaster: Ehrlich gesagt sehe ich mich mehr als Autor, ganz klar, das ist auch immer mehr mein Tätigkeitsschwerpunkt. Mir war immer klar, weder vom einen, noch vom anderen ein finanzielles Auskommen zu finden, von dem man leben kann. Das war aber auch nie mein Ziel. Ich wollte eine Plattform bieten, Projekte realisieren, die es ansonsten nicht geben würde. In den letzten Jahren waren das vor allem Anthologien und weniger Einzeltitel, denn das
können andere, größere Verlage wahrscheinlich besser. Was ich machen kann und konnte, ist Leute auf die sogenannte literarische Landkarte zu setzen, also einen ersten Titel zu ermöglichen. Weniger Sinn hätte es, zu versuchen, zum Beispiel den fünften Titel von jemandem herauszubringen, der bereits in einem Hardcoververlag ist. Das würde sowohl meine eigenen Kapazitäten als auch die der Edition übersteigen.
Thomas Havlik: Gerade darin besteht ja genau die mögliche Chance und Freiheit von Kleinverlagen, dass sie auch Projekte machen können, die keinen unmittelbaren finanziellen Gewinn abwerfen müssen...
Günter Vallaster: Richtig. Mir ging es immer vor allem darum, ein Projekt interessant und auf irgendeine Weise faszinierend zu finden - und etwas zu ermöglichen, das es ansonsten so nicht gäbe. Klar ginge es oft ohne Druckkostenzuschüsse nicht, auf der anderen Seite sind es auch nur diese Zuschüsse, alles andere sind Eigenleistungen, aber das ist mir in dem Sinne gleich, da mir im schönen Falle das Projekt an sich ja wichtig genug ist, um mich dafür einzusetzen. Was dazu kommt, ist zum Beispiel auch die ästhetische Freiheit, die ich dadurch habe. Ich muss kein Branding setzen Das Branding besteht in der Individualität der einzelnen Bücher, je nach dem Rahmen der Realisierbarkeit.
Thomas Havlik: Welchen Stellenwert hat die visuelle Poesie für dich selbst als Autor?
Günter Vallaster: Schon einen hohen, aber keinen ausschließlichen. Ich bin jemand, der versucht, möglichst viele Aspekte der Sprache in einen literarischen Text
einzubeziehen. Oft ist es gar nicht die Intention, so, ich mache jetzt visuelle Poesie, sondern mehr ein visueller Aspekt der Arbeit, der mir auffällt und den ich dann ausforme. Manchmal bekommt eine Arbeit auch einfach von außen das Etikett visueller Poesie, und ich würde sie selbst gar nicht vordergründig so bezeichnen. In meinem letzten Buch habe ich zum Beispiel sehr wenig visuelle Poesie. Zwar nutze ich den bildnerischen Aspekt, in dem Fall die Buchstabenform, aber nicht, weil ich vorher beschlossen hätte, das wird visuelle Poesie, sondern mehr, weil es sich aus der Arbeit heraus so ergeben hat. So, wie man auch Lautliches, Klangliches der Sprache in aller Selbstverständlichkeit nutzt. Was ich nicht mag, ist, wenn man es als “konkrete” Poesie bezeichnet. Klar läßt sich dahingehend
irgendeine Wurzel nachvollziehen, aber ich trete nicht an mit der Zielvorgabe, konkrete Poesie zu schaffen.
Jörg Piringer: ...das ist ja auch ein historischer Begriff, nicht?
Günter Vallaster: Ja, so wie auch beispielsweise Konzeptuelle Poesie. Natürlich hat man Inspiration, Vorbilder usw. - aber es braucht meiner Meinung nach auch eine gewisse “Beiläufigkeit”, mit der man an die Arbeit herangeht...
Thomas Havlik: Gibt es so etwas wie visuell-poetische Vorbilder für euch, Künstler, die euch besonders inspiriert haben?
Günters Vallaster: Als Teenager hat mich ganz klassisch Jandls und Artmanns Sprachspiellust gepackt. Dada, Futurismus, Expressionismus, die Oulipisten, all das habe ich in den Jahren in mich aufgesaugt - und zugleich auch Romane gelesen. Also an und für sich bin ich schon offen für fast alles und schreibe selbst ja auch Prosa. Es muss mich von der Überlegung, vom Ausdruck, vom Konzept her faszinieren - dann bin ich gefesselt.
Jörg Piringer: In den Neunzigern hat es in Deutschland zum Beispiel ein Rave-Magazin mit einem irren computerartigen Layout gegeben, das mich ziemlich beeindruckt hat.
Thomas Havlik: Komisch eigentlich, dass es generell nicht mehr Literaturzeitschriften gibt, die mit ihrer optischen Gestaltung, also mit dem Einsatz typografischer
Elemente usw. hervorstechen, oder?
Jörg Piringer: Ja - und wenn, dann beschränkt es sich auf die parallele Anordnung von Text und Bild. Mich wundert das auch ein bisschen. Das war, wie bereits angedeutet, einer der Gründe, warum wir für “a global visuage” ebenso literaturbetriebsferne, also bildende Künstler einzuladen versuchten, weil wir das Gefühl hatten, das dort, in diesem Umfeld, weniger Scheu besteht, in diese Richtung zu experimentieren. Es gibt ja auch kaum Bücher, die damit arbeiten.
Thomas Havlik: Jörg, du hast ja Informatik studiert. Wie kommt es, dass du dieses Wissen in die literarische Produktion einfliessen lässt und nicht zum Beispiel in die Entwicklung von Computerspielen?
Jörg Piringer: Computerspiele und electronic-literature, diese Kombination ist für mich gar nicht so abwegig.“Dichter” wollte ich schon immer werden - und zugleich war für mich als Jugendlicher klar, ich möchte irgendetwas studieren. Dichterschulen in dem Sinne, wie es sie heute gibt, existierten noch nicht. Ebenso fand ich schon immer Computer interressant - und im Nachhinein finde ich, mich für die Informatik entschieden zu haben, eine gute Wahl. So viel Unterschied besteht meiner Meinung nach darin ja auch gar nicht. Man schreibt, nur werden die Texte eben nicht von Menschen gelesen, sondern von Maschinen. Eigentlich ist es eine poetische Arbeit. Du kreierst Texte, und die führen etwas aus. Genauso wie Lyrik im Kopf des Lesers etwas ausführt. Solche Überlegungen haben sich im Laufe der Jahre eben immer mehr verdichtet und werden mittlerweile, glaube ich, in meinen Arbeiten gut sichtbar.
Thomas Havlik: Denkt ihr, dass sich im Aufkommen neuer Medien, die ja die Möglichkeiten und Voraussetzungen für die Herstellung visueller Gedichte, überhaupt
der Sprachmaterialbearbeitung, beeinflusst haben, eine Art Bruch erkennen lässt? Hat der Gebrauch des Computers, auf visuelle Poetiken bezogen, vielleicht sogar einen Einfluss auf die Relevanz des Werks oder hat es letztlich damit gar nichts tun?
Jörg Piringer: Schwierige Frage. Sicher gibt es Formen, die vorher so nicht möglich gewesen wären. Auf meine eigene Arbeit bezogen: diese Gravitationssimulationen, das hätte man zum Beispiel früher so nicht machen können oder wenn, dann nur wahnsinnig aufwendig. Dann gibt es auch andere Dinge, die sozusagen organische Traditionen modernisieren. Ich stelle mir das weniger als einen Bruch und mehr als eine Art Kontinuum vor. Zum Beispiel habe
ich mir irgendwann einmal einen Sack mit Rubbelbuchstaben gekauft, um damit, im Gegensatz und auch in Verbindung zu den rein digitalen Arbeiten, zu experimentieren. Ich finde, beides hat seine Berechtigung.
Günter Vallaster: Ich sehe das ähnlich, finde einerseits die Möglichkeiten, die sich aus dem Gebrauch des Computers ergeben, faszinierend - geradezu perfekt vorgeführt eben zum Beispiel von Jörg, wie er sie ästhetisch nutzt und benutzt. Auf der anderen Seite kann auch aus dem Gebrauch eines Kugelschreibers etwas Beeindruckendes entstehen, das die Gegenwart reflektiert...
Jörg Piringer: Vielleicht ist es so, dass die Ideen, die sich aus der Computertechnologie ergeben, inspirieren und weiterführen. Man macht einfach andere Dinge, auf die man vorher nicht gekommen wäre; man sieht irgendein Computerlayout und lässt dieses dann in die Kugelschreiberarbeit einfliessen...
Thomas Havlik: Aber es ist nicht so, dass ihr sagen würdet, der Gebrauch der Technologie ist per se ein Kriterium?
Jörg Piringer: Nein, aber ich glaube, es wichtig, dass man sich damit beschäftigt und sich dessen bewusst ist. Man kann nicht wirklich hergehen und dadaistische Schriftbilder wie im Jahr 1914 machen. Natürlich kann man es machen, aber dann sollte man auch wissen, dass es ein historisches Zitat ist. Sonst, finde ich, ist es schlicht epigonal.
Günter Vallaster: Interessante Arbeiten, glaube ich, können auch heute sagen wir “traditionell” entstehen, solange man die Zeit und ihre Entwicklungen reflektiert. Man muss ja nicht unbedingt Programmierer sein, um damit umzugehen. Aber fast jeder, oder die meisten, nutzen Programme wie Photoshop. Solche Methoden sind, wenn man so sagen will, ganz gewöhnliche Arbeitswerkzeuge geworden.
Thomas Havlik: Um noch einmal auf vorhin zurückzukommen, weil ihr von Japan gesprochen habt. Es gibt ja das Klischee vom hochtechnologisierten Japan einerseits, andererseits existiert das traditionelle Bild von zum Beispiel der Kalligrafiekunst. Gibt es beziehungsweise kennt ihr japanspezifische Eigenheiten, gibt es in Japan eine eigene auf irgendeine Weise individuelle Szene visueller Poesie?
Jörg Piringer: Was ich weiß, ist, dass natürlich die Typografie einen viel größeren Stellenwert hat, als bei uns. Schon allein durch die gleichzeitige Verwendung von verschiedenen Schriftsystemen, wie es in Japan gemacht wird. Nach dem Erscheinen des nächsten Bandes, der “Räume für Notizen”, können wir darüber bestimmt schon mehr sagen. Ich bin selbst schon sehr neugierig darauf.
Thomas Havlik: Du selbst verwendest ja bei Live-Auftritten deine Stimme als Interface zwischen Computer und Leinwand. Die daraus entstehenden Textwelten - sind das Visuals oder visuelle Poesie?
Jörg Piringer: Zum einen sind sie visuelle Poesie, zum anderen selbst das Interface, mit dem, auf umgekehrtem Weg, widerum der Sound gesteuert wird. Das ist eine synästhetische Verbindung zwischen Sound und Bild.
Thomas Havlik: Die Verbindung zwischen Analog und Digital.
Jörg Piringer: Ja. Auch ein bisschen. Das Weltenverbinden, wenn man so sagen will, gehört für mich als Künstler, der sich mit digitaler Poesie beschäftigt, sowieso zum Interressantesten, zwischen Mensch, Maschine, Körper usw.
Thomas Havlik: Die Stimme als Interface zum Bild auf der Leinwand: Besteht eurer Meinung nach eine Verwandtschaft zwischen visueller Poesie und Lautpoesie? Falls ja, wie könnte man sie beschreiben?
Jörg Piringer: Doch, die gibt es, ganz klar.
Günter Vallaster: Mir ist beispielsweise bei der Arbeit am Band “Ein Alphabet der visuellen Poesie” aufgefallen, dass die meisten Autoren Vokale ausgewählt haben, und da hab ich mir gedacht, aha, die visuelle Poesie singt auch. Sie singt und klingt und es gibt viele, die dieses Singen und Klingen auch bewusst einsetzen. Der Lautpoet Valerie Scherstjanoi, um nur einen zu nennen, ist bekannt für seine gezeichneten Partituren, die er als Lautpoesie vorträgt, aber genau so gut auch als Bild ausgestellt werden könnten. Ich denke, visuelle Poesie ist nicht stumm. Sprache und Sprachelemente beinhalten immer auch klangliche Aspekte.
Thomas Havlik: Aber man würde schon einen Unterschied erkennen zwischen lautpoetischer Partitur und visuellpoetischer Arbeit?
Jörg Piringer: Ich glaube, das lässt sich nicht so einfach sagen. Mir ist gerade John Cage eingefallen, von dem es auch einige Partituren gibt, die gedacht sind als Anleitungen dafür, wie das Stück zu sprechen ist, genauso aber, wie Günter schon gemeint hat, als visuelle Poesie an die Wand gehängt werden können.
Günter Vallaster: Oder manche Arbeiten von Gerhard Rühm, die ganz explizit Grenzen zwischen Literatur, Bild und Klang ausloten.
Jörg Piringer: Ich glaube, sofern du die Buchstaben visuell nicht so definierst, dass man sie nicht mehr eindeutig erkennen kann, hat man fast automatisch eine akustische Assoziation.
Lieber Jörg, lieber Günter, herzlichen Dank für das Gespräch!
Günter Vallaster
Geboren 1968 in Schruns, lebt in Wien. Studium der Germanistik und Geschichte in Innsbruck. Mitarbeit in sprach- und literaturwissenschaftlichen Forschungsprojekten am Institut für Germanistik der Universität Innsbruck, u.a. Ulrich Ammon et al.: “Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz und Deutschland sowie in Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol”, Berlin/New York 2004 (deGruyter). Seit 2004 Herausgeber der literarischen edition ch in Wien, von 2005 bis 2008 Lektor an der Gesamthochschule Nyíregyháza (Ungarn). Literaturveranstalter (u.a. “bewegte sprache”, Veranstaltung der Grazer Autorinnen Autorenversammlung), Rezensent (u.a. für das Online-Buchmagazin des Literaturhauses Wien) und Kursleiter im Bereich Deutsch als Fremdsprache. Publikationen zuletzt: “Am Sims. Gedichte“, St. Wolfgang/Wien 2012 (Edition Art Science) und gemeinsam mit Jörg Piringer Hg. der Anthologie “A Global Visuage”, Wien 2012 (edition ch). www.guenter.vallaster.net und www.editionc.at
Jörg Piringer
Geboren1974 in Wien, lebt und arbeitet als Radio-, Sound- und Textkünstler sowie Visueller Poet in Wien. Er ist Mitglied des Instituts für Transakustische Forschung und des Gemüseorchesters. In seinen Arbeiten untersucht der Informatiker die Schnittstellen zwischen Sprache, bildender Kunst und Technologie. Neben zahlreichen Veröffentlichungen seiner Soundarbeiten auf herkömmlichen Tonträgern performt er live auf diversen internationalen Festivals. www.joerg.piringer.net, www.iftaf.org, www.gemueseorchester.org
Erschienen im etcetera Nr 53 / LitArena 6 / Oktober 2013