40/ Prosa: Das Vermächtnis. Eva Austin
Eva Austin
DAS VERMÄCHTNIS
Von Manchem ist eine Hälfte schon eine Hälfte zu viel. Und zuweilen kann selbst ein Viertel von Etwas noch eine enorme Lebensaufgabe bedeuten.
Meine Gene sind so ein Fall. Der großmütterliche Anteil ist mein Problem. Mit dem hundertprozentigen Original haderte ich bereits, kaum dass ich geboren war. Mit der Hälfte – die sich in meinem Vater befindet – kann ich gerade noch leben. Aber mein geerbtes Viertel wird mehr und mehr zu meinem Thema, je älter ich werde. Lang schon ist der Ursprung meines Kummers verstorben. Die Großmutter war, schlicht gesagt, ein böser Mensch. Sie tat, was böse Menschen seit jeher tun: Sie machte guten Menschen das Leben zur Hölle. Ein wenig Hoffnung trug ich stets in mir, dass mit ihrem Ableben der giftige Keim in unserer Familie aussterben würde. Doch sie nahm nicht alles mit. Mein Vater kann mit seiner Hälfte relativ gut umgehen – zumindest würde er es so sehen, dass im Lauf der Jahre Friede in seine leidigen Anteile eingekehrt sei. Meine Mutter ist anderer Meinung. Im Alter kommt´s immer mehr raus, hat sie letztens gesagt. Ich habe nicht nachgefragt, was denn rauskäme. Wollte es gar nicht so genau wissen. Sofort nämlich war ich mir meiner fünfundzwanzig Prozent wieder schmählich bewusst.
Wie viel genau ist ein Viertel von Böse? Kann ich damit noch unter die Leute? Bin ich damit noch ein sozial verträglicher Mensch? Darf ich damit noch Freundschaften pflegen, Partner lieben und Kinder kriegen? Oder würde es die Verantwortung der Menschheit gegenüber gebieten, das gefälligst bleiben zu lassen und sich in eine Eremitage zurückzuziehen, um niemandem schaden zu können?
Meine Großmutter hatte nie solcherlei Gedanken. Sie war voller Überzeugung, im Recht zu sein. Das Recht der Starken und Mächtigen über die Armen und Schwachen. Sie war eben etwas Besseres, das war doch nicht ihre Schuld. Oder? Warum habe ich noch immer Angst vor ihrem genetischen Nachlass? Warum klammere ich mich so verzweifelt an meine Gutmensch Prinzipien, als würde ich ohne sie Gefahr laufen, meinen Teufelchen schon zum Frühstück Nährstoffkonzentrat zu verabreichen? Und, was ich mich schon, seit ich denken kann, frage: Ist es leichter ein guter oder ein böser Mensch zu sein?
Nun sind die Dinge jedenfalls so wie sie sind. Das Böse ist tot, aber eben noch nicht ganz. Teile davon schwirren noch im Universum herum, fünfundzwanzig Prozent allein in mir. Was soll ich jetzt damit tun? Wie bringe ich das in ein paar Jahren meinem Kinde bei, dass es ebenfalls noch ein gemeines Achterl im Blute trägt? Wird das reichen, um jemandem zu schaden? Um die Welt ein bisschen schlechter zu machen, als sie schon ist? Oder wird mein Viertel Anteil vorher schon alles vernichtet haben?
Ich lerne zu meditieren. Mache Yoga. Übe und praktiziere Entspannung, wo immer es nur geht. Ernähre mich makrobiotisch, TCM konform und buddhistisch einwandfrei. Ebenso nähre ich meinen Geist mit ethisch – moralisch geprüfter Weltanschauung. Töte keine Tiere und helfe wo ich kann. Bin immer da, wenn man mich braucht, ziehe jeden Tag nebst frischer Unterwäsche ein sauberes, zutiefst ehrliches Lächeln an und habe seit Jahren nicht mehr Nein gesagt. Nun denn, was soll mir also noch passieren? Ich habe das Böse im Griff, habe es besiegt. Ich bin Hüterin unseres genetisch nicht einwandfreien Nachlasses und passe darauf besser auf, als das Pentagon auf seine roten Knöpfe. Von mir wird kein giftiger Keim nach außen dringen, keine Bazille jemandes Nase verschnupfen. Ich bin mir meiner Verantwortung der Menschheit gegenüber bewusst. So soll es sein. Ich habe das Böse unter Kontrolle!
Oder? Gerade lässt mich meine Souveränität im Stich. Ich wage es kaum zu erwähnen, ich schäme mich in Grund und Boden. Eine Spinne nähert sich meinem Fuß. Spinnen sind sehr nützliche Tiere. Wenn ich könnte, würde ich jede einzeln hochheben, streicheln und mich bei ihr für ihr Dasein bedanken. Leider kann ich das nicht. Eine Spinnenphobie begleitet mich seit meiner Kindheit. Die Spinne kann natürlich nichts dafür, dass sie gerade über meinen Fuß krabbelt. Spinnen tun so etwas. Sie sind deswegen nicht böse. Böse sind nur Menschenfüße, die auf Spinnen treten. Aber ich schwöre, das ist … das war ein Reflex. Ein Automatismus. Niemand könnte mir deswegen einen Vorwurf machen! Ich hätte doch nie …
Eine Sekunde lang die fünfundzwanzig Prozent aus den Augen gelassen und vorbei mit dem hehren Anspruch! Alle Mühe war umsonst. Ich werde es nie loswerden. Man ist, was man ist. Ich trage den Nachlass eines indiskutablen Genpools in mir. Alles, was man dagegen tun kann, ist entweder aussterben lassen oder vermischen. Neue Gene hineinbringen.
Das Böse ausschwemmen. Aber das hilft erst meinen Nachfahren. Und was ist derweil mit mir?
Ich muss mein gefährliches Viertel besser hüten. Muss mich noch mehr bemühen. Muss Buße tun. Ich grabe die Spinne in dem Blumentopf mit der Yucca ein und spendiere ihr noch ein Gänseblümchen als Grabstein.
Es fällt mir nicht leicht, die richtigen Worte zu finden, aber ich bemühe mich um eine kleine Ansprache.
Dann gehe ich an die frische Luft, ich brauche Abstand.
Denke an die Großmutter. Und warum ich sie nicht loswerden kann. Und da kommt mir ein neuer Gedanke:
Vielleicht soll ich sie auch gar nicht loswerden?
Wer weiß, so ein bisschen Böse, wozu das gut sein könnte. Und mit einem Mal tun sich neue Welten auf. Ich könnte in die Politik gehen. Ich könnte Scheidungsanwältin werden. Priesterin. Oder sogar Lehrerin!
Ich könnte mehr Spaß haben. Mehr Sex. Mehr Spaß am Sex! Ich könnte Abenteuer genießen. Mal die Sau raus lassen. Mal nur an mich denken. Ich könnte …
Und dann höre ich sie plötzlich lachen. Ich kenne ihr Lachen genau, ich habe es immer gehasst. Großmutter, warum hast du so einen großen Mund? Damit ich dich besser fressen kann! Sie lacht mich aus, glaubt, gewonnen zu haben.
Aus dem Jenseits will sie weiter Böses spielen, aber da hat sie sich verrechnet! Nicht mit mir. Es ist nur ein Viertel! Ein winzig kleines Viertel! Damit kann man nicht viel anrichten. Eine Spinne, gut, das war nicht nett. Aber mehr gibt’s nicht, beschließe ich, und gehe nach Hause.
Hinter mir macht es tock – tock tock. Ich drehe mich nicht um. Ich weiß, dass Großmutter jetzt schmollt. Soll sie nur. Ich werde sie nicht in der Hölle besuchen. Meine restlichen fünfundsiebzig Prozent gedeihen besser im gemäßigten Klima. Der Pferdefuß macht weiter tock – tock tock, doch das Geräusch wird immer leiser und leiser.
Irgendwann wird es ganz aufhören.
Eva Austin:
Geb. 1965 in Kapfenberg, lebt in Wien. Schreibt Vielerlei. Mit Kreide auf Asphalt (& Radieschen Nr. 13/ 2010); Eine Liebe ist eine Liebe (Anthologie Schreibspuren 2010); Zweckentfremdet (DUM 52/2009); Diesen Mann muß ich haben (Roman, Rowohlt/Wunderlich 1998).