Künstlerportrait: Joe Sacco, der zeichnende Journalist in Palästina. Ingrid Reichel

 

 
Joe Sacco headshot © Michael Tierny  

Ingrid Reichel
Joe Sacco, der zeichnende Journalist in Palästina
Ein Portrait und eine Rezension

 

Die Medienlandschaft ist und bleibt ein problematisches Feld. Zum einen werden die Nachrichten kategorisch voneinander abgeschrieben, man könnte meinen wir leben in einer diktatorischen Mediengesellschaft. Man kann sich des Eindrucks nicht verwehren, dass das Volk einer kollektiven Massenverblödung durch die Medien zum Opfer fällt. Vielleicht ist es aber auch anders herum? Der seriöse Journalismus wurde von der von Einfältigkeit geprägten Bevölkerung ausradiert. Zum anderen kann es zeitweilig gefährlich, ja sogar lebensgefährlich für die Journalisten werden, wenn sie eine eigene Meinung vertreten. Wir wollen die ermordeten russischen Journalisten der letzten Jahre und diejenigen, die mitten aus den Krisen- oder Kriegsgebieten berichten, nicht vergessen. Und dann gibt es den dritten Aspekt, den der freien und unkontrollierten, virtuellen Meinungsäußerung: das Internet.

Beweise, dass es für den Journalismus nicht gut steht, gibt es genug. Waren in den 70ern die Tageszeitungen mit den vielen Bildern bei einigermaßen gebildeten Menschen noch verpönt, zeigt sich heute, dass ohne Bildreportagen der Verkauf einer Zeitung zum Stillstand kommt.

Nun gibt es eine neue Form der Berichterstattung, die sich in den letzten Jahren ausgezeichnet hat: die Comicreportage. Mit dem Comiczeichner Art Spiegelman, der von 1972-1991 in „Maus. Die Geschichte eines Überlebenden“ (Maus. A Survivor’s Tale) die Geschichte seines Vaters, der Auschwitz überlebte, erzählte, wurde der Grundstein dieses Genres gelegt. Spiegelman erhielt für diesen herausragenden schwarz-weißen Undergroundcomix 1992 den Pulitzer Preis. Nach dem Terroranschlag 09/11 äußerte er sich folgendermaßen: „Well, the press is a fearful creature here. It's not that brave.”

Für diese etcetera Ausgabe mit dem Thema Feindbilder wurde der Journalist und Comiczeichner Joe Sacco gewählt. In seinem Vorwort zu „Palestine“ in einer Sonderausgabe aus dem Jahr 2007 von Fantagraphics Books beschreibt Sacco seine damalige verspürte Beschämung als Abgänger einer Journalistenschule, wie erbärmlich amerikanische Journalisten die Situation im Nahen Osten darstellten. Seine Erschütterung verursachte nahezu einen physischen Drang zu handeln und er entschied sich im Winter 1991/1992 nach Palästina zu reisen. Sacco bezeichnet sich selbst - bis zu dem Zeitpunkt als er zum ersten Mal seine vorgefasste Meinung über Israel in Frage stellte - als naiven Niemand. Er begann Zeitungen zu lesen, deren Informationen nicht amerikanischer Herkunft waren. Bücher wie Blaming the victims von Christopher Hitchens und The question of Palestine von Edward Said, aber vor allem Noam Chomsky mit The Fateful Triangle halfen ihm die Situation besser einzuschätzen. Später gab er den Print-Journalismus auf, weil er keinen befriedigenden Job finden konnte. So widmete er sich wieder seiner lebenslangen Leidenschaft, dem Comic-Zeichnen. Sacco zog nach Berlin und arbeitete an Comic-Büchern und Postern und versuchte davon zu leben. Die Idee, den Comic als Medium der Darstellung für die Berichterstattung zu nutzen, wuchs. Sogar illustrierte Menschenrechtsberichte und Gerichtsprotokolle schwebten ihm am Anfang seiner Euphorie vor. Schließlich sollte es ein illustrierter Reisebericht, ein Tagebuch seiner Erlebnisse der letzten Tage der ersten Intifada werden. Damals hatte Sacco keine konkrete Theorie darüber, was er später selbst als Comic-Reportage bezeichnete. Sacco scheut sich nicht auf schwerwiegende Kritik an seinem Werk zu verweisen: die ersten Zeichnungen von „Palästina“ waren in Big-Foot-Stil ausgefertigt, was als respektlos angesehen wurde. Aber vor allem wurde seine einseitige Darstellung des Nahost-Konflikts kritisiert, da er bewusst die ohnehin medial vertretene israelische Seite ausließ.

2009 erfolgte durch den Schweizer Verlag Edition der Moderne eine deutsche Neuauflage von „Palästina“. Der deutsche Journalist, Auslandskorrespondent und Kriegsberichterstatter Ulrich Tilgner verfasste hierzu das Vorwort: Mehr als Bild und Ton. Joe Saccos Zeichnungen haben ihn aufgewühlt, wie es kein Fernseh- oder Zeitungsbericht zustande gebracht hätte. „Es sind die Zeichnungen des sonst nicht Gezeigten, die beunruhigen.“, bekundet Tilgner und weist auf die Schonungslosigkeit in der Banalität der Texte hin. Gerade in dieser Kombination fühlt Tilgner die erschütternde Realität seiner eigenen Erfahrungen wieder aufflackern.

In der Tat scheint der psychologische Effekt der Comic-Reportage aufzugehen. Wenig Text verknüpft mit Bildern, die man eigentlich nur unbewusst beim Lesen wahrnimmt, da einem die Spannung weiterblättern lässt, vermitteln eine Nachrichtenübertragung in Zeitlupentempo. Immer wieder ertappt man sich dabei, bewusst inne zu halten und den Zwang zurückzublättern nachzugeben, um den Zeichnungen kontemplativen Respekt zu erweisen. Nur um den tatsächlichen psychologischen Aspekt dieses Genres zu verdeutlichen, sei meine Fahrt von Wien nach St. Pölten erwähnt. Als ich schließlich am Bahnhof ausstieg und durch die nächtlich nebelige und menschenleere Stadt nach Hause spazierte, musste ich mir tatsächlich vergegenwärtigen, dass ich mich nicht in Palästina befinde, ich nicht die Ausgangssperre missachtete, kein Scharfschütze auf einem Dach aus dem Hinterhalt auf mich zielte. Ich nichts zu befürchten hatte, mich in Sicherheit befand. Nie hatte etwas Gelesenes eine dermaßen starke und einprägsame Nachwirkung in mir entfaltet wie Joe Saccos Palästina. Mit ihm bin ich von Kairo nach Nablus im Norden des Westjordanlands, der so genannten West Bank, durch Straßensperren südwärts nach Jerusalem, ins Kidrontal, weiter ins Flüchtlingslager Kalandia, dann nach Ramallah bis nach Hebron im Süden gefahren. Er hat mich durch die palästinensischen Flüchtlingslager Nusseirat und Dschabaliya im Gazastreifen geführt, mit mir eine Tomatenplantage in Deir al-Balah und Gaza-Stadt besucht. Er hat mich von der unmöglichen Arbeitssituation der Palästinenser überzeugt, mir die Zustände in den Krankenhäusern, die unendlichen Missstände gezeigt: Hygienemangel, den Handelsboykott durch unmotiviert verhängte Ausgangssperren, die Kontrolle der Israelis über die Wasserressourcen, die ewigen Strom- und Heizungsausfälle, das Leben der Behinderten, der Kinder, der Schüler, die mit Steine bewaffnet gegen Schikanen israelischer Siedler vorgehen… Sacco erkundigt sich über die palästinensische Frauenbewegung und der traditionellen Körperbedeckung Hidschab. Aber vor allem geht es ihm darum, die Nicht-Einhaltung der Menschenrechte, die korrupte Justiz und Bürokratie, die Organisation in den Gefängnissen wie in Ansar III aufzuzeigen. Unweigerlich konfrontiert uns Sacco mit Zeichnungen von Foltermethoden des Shin-Bet, des israelischen Inlandsgeheimdienstes, wie wir sie erst 2004 durch die in die Öffentlichkeit geratenen Aufnahmen von Folterungen Gefangener im US-Gefängnis in Guantánamo kennen gelernt haben. Sacco interviewt unermüdlich Augenzeugen und geht schonungslos mit sich selbst um: „Aber wir wollen Gesichter, wir wollen Not, wir wollen Menschen hautnah, denen unerträgliches Leid zugefügt wurde … (ich jedenfalls will das […]) …“ (S. 61) „… und seien wir ehrlich, meine Comics brauchen Konflikte; mit Frieden ist kein Blumentopf zu gewinnen.“ (S. 78.) Sacco zeigt, wie Israelis methodisch vorgehen Palästinenser in die Flucht zu treiben, indem sie sie daran hindern, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, indem sie ihre Olivenbäume fällen, den Export ihrer Tomaten verhindern, Juden durch viele Vergünstigungen schmackhaft machen, sich auf besetzten arabischen Gebieten anzusiedeln und Palästinensern nachts den Schlaf zu rauben, sie aus ihren Häusern treiben und diese niederreißen. „Glauben Sie, Juden und Araber können je miteinander leben?“, fragt Sacco einen Palästinenser. „Wir können mit den Juden aus dem Osten, aus dem Iran, aus Nordafrika leben … aber mit den Juden aus Europa? Sie sind anders … Sie wollen immer oben sein, bestimmen, nehmen …“ antwortet dieser (S. 42). „In den besetzten Gebieten wimmelt es von Weltverbesserern, Menschenrechtsbewahrern, Nonnen, Quäkern und mit Klemmbrettern ausgerüsteten Juristen aus aller Welt, alle scharf darauf, Palästinenser mit Bergen von Dokumenten und Studien zu versorgen. (S. 61)

Saccos Bericht aus den Anfängen der 90er ist leider kein bisschen veraltet, zeigt die Ausweglosigkeit des Nahost-Konflikts. „Palästina“ gehört zur Pflichtlektüre. Die Fortsetzung „Footnotes in Gaza“ erschien 2009. Im deutschsprachigen Raum zeichnet sich der Schweizer Verlag Edition Moderne besonders mit Graphic Novels aus und sei daher jedem ans Herz gelegt. (www.editionmoderne.ch)

Joe Sacco
Geboren 1960 in Kirkop auf Malta. Lebte als Kind in Australien und kam mit 12 Jahren nach Portland in Oregon (USA). Nach seinem Studienabschluss in Journalismus an der Universität in Oregon 1981 widmete er sich den Comics. 1986 zog er nach los Angeles und wurde Mitarbeiter bei Fantagraphics Books, wo er am Comics Journal mitarbeitete und das satirische Magazin Centrifugal Bumble-Puppy gründete. Zwischen 1988 und 1992 reiste er durch die Welt und entwickelte seine eigene Comic-Buchreihe Yahoo. Im Winter 1991/92 reiste er für zwei Monate nach Israel und in die besetzten Gebiete. Von 1993-1995 erschien eine Serie von 24- bzw. 32-seitigen Heften unter dem Titel „Palestine“, die 1996 in zwei Bänden erschien und als deutsche Erstausgabe Palästina: Zweitausendundeins, Frankfurt/ Main 2004; Edition der Moderne, Zürich 2009, unter Genehmigung der Übersetzung von Waltraud Götting und Letterings von Gerhard Förster von Zweitausendeins. 1995/96 Aufenthalt in Bosnien/ Enklave Goražde. Safe Area Gorazde: The War in Eastern Bosnia 1992-1995, Fantagraphic Books, 2000. (Deutsche Ausgabe: Bosnien. Edition Moderne, Zürich 2010). 1998 verfolgte er die Jugoslawien-Prozesse am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Weiters erschienen: The Fixer. A Story from Sarajevo, 2003; Notes from a Defeatist, 2003; More Women, More Children, More Quickly, 2003; But I Like it, 2006. Footnotes in Gaza (Metropolitan Books) erschien 2009 als Fortsetzung von Palestine.

 

 

Palästina
Joe Sacco
Zürich: Edition Moderne, 2009, 288 S.
ISBN 978-3-03731-050-2

 

etcetera Nr. 43/ Feindbilder. Zwischen Barrikaden und Blockaden./ März 2011