50/Wozu Literatur?/Lyrik: gegen die hilflosigkeit gedichte zu schreiben. Thomas Rackwitz

Thomas Rackwitz
gegen die hilflosigkeit gedichte zu schreiben

wer heute noch schreibt
glaubt nicht an zufall
oder an die form des monats auf dem fahndungsbild
oder an die karriere des alphabets

wer heute noch schreibt
kämpft mit der ämterguerilla
oder pimpt seinen lebenslauf
mit wohlfahrtsstipendien

wer heute noch schreibt
wünscht sich zurück
die zensur denn die weckt
die aufmerksamkeit

wer heute noch schreibt
wär besser krawattenvertreter
ein ultra in einer arche
die richtungsonne treibt

wer heute noch schreibt
wäre am besten in einer stahlkammer
amok gelaufen
als er die chance dazu hatte

wer heute noch schreibt
streitet mit baumaktivisten
ringt mit dem vergessen
im sumpf der zitate

wer heute noch schreibt
hat besser was gegen die zukunft
in der hand

 

Thomas Rackwitz
das gedicht als antimaterie

ich floh vor der enge des weltraums
und fand eine zuflucht in diesem stillgelegten gedicht
hinter einem in zeitlupe verschwendeten rauschen

hier war ich sicher vor dem voting
des lieblingsbuchstabens oder der möglichkeit
den weltrekord im schielen zu brechen

hier gab es keine friedhofstouristen
keinen regen nach der werbung
hier weste niemand
vom zinseszins früherer küsse

hier schlug kein herz von zeit zu zeit
in schwarzweiß wurden keine steine gequält
wurden die schockgefrorenen weder gehypt
noch diskriminiert

in dieser höheren form der antimaterie
trieben keine bitte-nicht-stören-schilder
durch die kanalisation
in dieser höheren form der antimaterie
war alles immer noch
an seinem angestammten platz
besaß jedes zeichen
die sprengkraft des vergessens

Thomas Rackwitz
Geb. 1981 in Halle/Saale, lebt in Berlin und Gröbers, arbeitet als Lektor und Übersetzer, ist Mitglied des Friedrich-Bödecker-Kreises, der IGdA und im Förderkreis der Schriftsteller in Sachsen-Anhalt e.V., veröffentlichte 4 Bücher und in Anthologien/Zeitschriften, erhielt u. a. den irischen Féile Filíochta Award 2007, das Walter-Bauer-Stipendium der Städte Merseburg und Leuna 2008 sowie den 3. Preis beim lauter niemand preis für politische lyrik 2011.

LitGes, etcetera Nr 50/ Wozu Literatur?/ November 2012