86 / Umweg / Bericht / 24. Philosophicum

Lech 22.-26. Sept. 2021
zum Thema „Als ob! Die Kraft der Fiktion“

Am literarischen Vorabend mit Michael Köhlmeier und Konrad Paul Liessmann wurde intensiv über Hamlet und sein Schicksal und sein Handeln gesprochen.

Als Einstand begann das Magma-Impulsforum zum Thema „So tun als ob“. Fiktion in Politik und Gesellschaft“ eine interessante Podiumsdiskussion mit Ralf Beste, Irmgard Griss, Christian Kern und Nina Tomaselli. Die Eröffnung nahmen dann Obmann des Vereines Philosophicum Lech Ludwig Muxel, Bürgermeister von Lech Stefan Jochum und LHptm. Markus Wallner vor. Der Präsident des Magma Europe & Asia sprach zum Thema: „Brauchen Ingenieure die Kraft der Fiktion?“.
Jan Assmann aus Konstanz leitete zum Thema „Religion und Fiktion“ die philosophische Vortragsreihe ein. Thomas Strässle/Zürich „Faketionales Erzählen. Über die Erfindung von Wahrheit“.
Daniela Strigl/Wien „Abgeschrieben kann das Leben nie werden. – Biographie und Fiktion“.
Matthias Burghardt/Köln „geistlose Traumfabriken und Phantasmagorien der Bildungsreform“.
Konrad Paul Liessmann7Wien „So tun als ob“ Die Kraft der Fiktion!“.
Andreas Urs Sommer/Freiburg „Politischer Fiktionalismus. Zur direkten Zukunft der Demokratie“.
Lambert Wiesing/Jena „Wie können Bilder zu Fiktionen werden?“.
Sibylle Anderl/Frankfurt „Die Erforschung des Kosmos zwischen Fiktion und Empire“.
Barbara Bleisch/Zürich bot einen Ersatzvortrag statt Dietmar Dath an und sprach über Echtheit oder Fälschung und die Authentizität des Menschen.
Sophie Wennerscheid/Kopenhagen „Illusion, Phantasma, Fake? Liebe in künstlichen Welten“.
Roberto Simanowsk/Berlin/Rio de Janeiro „Todesalgorithmus. Die Fiktionen der künstlichen Intelligenz“.
Viele Statements oder Fragen zum Thema erweiterten das Denkgebäude: Ist alles Fiktion? Stellen die sozialen Medien die Wirklichkeit dar? Conrad Paul Liessmann meinte in der Diskussionsrunde nach dem Vortrag von: Alle Medien stellen nicht die Wirklichkeit dar, alle sind angereichert, fingiert, denn ausgeschmückte Wirklichkeit ist schöner! Nicht
die Darstellung der Wirklichkeit, sondern die NACHstellung der Wirklichkeit ist interessant.

Ein Kurzbericht von Eva Riebler zu Lambert Wiesing,

 

„Wie werden Bilder zu Fiktionen?“

Vorbemerkung
„Das Thema unserer Tagung ist die Kraft der Fiktion. Wenn ich die bisherigen Vorträge richtig überschaue, so haben wir uns auf die Kraft der sprachlichen Fiktionen konzentriert. Es ging um Fiktionen in der Literatur, in politischen und religiösen Kontexten, es ging um fiktionale Geschichten, aber in jedem Fall ging es dabei um Fiktionen, die mittels einer verbalen Sprache – etwa in Deutsch oder in Englisch – verfasst sind und durch diese Sprachen kommuniziert werden. Vor diesem Hintergrund wechsle ich in meinem Vortrag nun das Thema grundlegend, ich wechsle nämlich das Medium, in dem die Fiktionen gebildet werden: von der verbalen Sprache hin zum sichtbaren Bild, das heißt: von der fiktionalen Rede zum fiktionalen Bild.
Ich möchte eine recht einfache Frage stellen und mit Ihnen diskutieren, nämlich die Frage, …warum und wann ein Bild ein fiktionales Bild ist“. …

„Bei einer Illusion entsteht das Bewusstsein der Nichtigkeit des Gesehenen ausschließlich dadurch, dass man von der Illusion weiß: „Eine Wachsfigur im Wachsfigurenkabinett (Vollkommenheit der Ausführung zunächst vorausgesetzt) ist eine Illusion.“1
Damit ist gesagt: Bei einer Wachsfigur kommt es nicht zu dem bildlichen Erlebnis, als ob man einen Menschen sieht, sondern zu dem täuschenden Erlebnis, dass man glaubt, einen wirklichen Menschen zu sehen. Das ist bei einem Bildobjekt anders: Bei einer Illusion entsteht das Bewusstsein der Nichtigkeit des Gesehenen ausschließlich dadurch, dass man von der Illusion weiß: „Eine Wachsfigur im Wachsfigurenkabinett (Vollkommenheit der Ausführung zunächst vorausgesetzt) ist eine Illusion.“2

Damit ist gesagt: Bei einer Wachsfigur kommt es nicht zu dem bildlichen Erlebnis, als ob man einen Menschen sieht, sondern zu dem täuschenden Erlebnis, dass man glaubt, einen wirklichen Menschen zu sehen. Das ist bei einem Bildobjekt anders:“
Weiters wurde die Glaubwürdigkeit des Bildes im Gegensatz zum Foto erläutert. Es ist wie immer eine Vertrauenssache….

„Die verbreitete Ansicht hierzu dürfte lauten: Ja, dieses Bild ist eine Fotografie, die den Geheimagenten James Bond zeigt. Bond ist bekanntlich eine fiktive Person. Folglich ist es naheliegend zu sagen, dass es sich hierbei um ein fiktionales Bild handelt. Doch warum und wann kann man sagen, dass dieses Bild James Bond zeigt? Genau das ist das Problem: Genauso gut ließe sich sagen, dieses Bild zeige Sean Connery in seinen besten Jahren – bekanntlich ein realer Schauspieler. Dann ist das Bild alles andere als ein fiktionales Bild.“ …
„Oder nehmen wir als ein weiteres Beispiel dieses Bild von Picasso. Meine Frage lautet hier: Sollte man dies als ein fiktionales Bild auffassen, weil es eine derartig aussehende Frau nicht gibt? Personen, die so aussehen, sind vollkommen fiktiv. Auf der anderen Seite behauptet Picasso selbst, dass dies das Porträt von Dora Maar sei, einer Frau, die es zu Picassos Lebenszeit gab. Wenn dies so ist, wäre dieses Bild kein fiktionales Bild, sondern ein vielleicht entstellendes, extremes Porträt“.

„Das Wort „zeigen“ wird im Sinne von „wird auf dem Bildträger sichtbar“ verwendet. Das ist der spannende Punkt. Bilder sind nicht Darstellungen, weil sie sich auf etwas beziehen, sondern weil sie etwas herstellen: etwas, das nur sichtbar ist. Damit hat man den signifikanten Unterschied zwischen Sprache und Bild. Bilder müssen keinen Bezug zu etwas in der Welt haben, Bilder müssen nicht etwas in der Welt beschreiben, Bilder müssen nicht etwas repräsentieren, Bilder müssen nicht auf etwas verweisen. Sprache besteht hingegen immer aus Zeichen.”

Wir haben eine entscheidende Differenzierung: Illusionen und Fiktionen sind die zwei einzigen Arten, wie Menschen etwas sehen können, das nicht da ist. Aber es sind zwei sehr unterschiedliche Arten. Bei einer Illusion entsteht das Bewusstsein der Nichtigkeit des Gesehenen ausschließlich dadurch, dass man von der Illusion weiß: „Eine Wachsfigur im Wachsfigurenkabinett (Vollkommenheit der Ausführung zunächst vorausgesetzt) ist eine Illusion.“3

Damit ist gesagt: Bei einer Wachsfigur kommt es nicht zu dem bildlichen Erlebnis, als ob man einen Menschen sieht, sondern zu dem täuschenden Erlebnis, dass man glaubt, einen wirklichen Menschen zu sehen. Das ist bei einem Bildobjekt anders: Die Nicht-Realität des Bildobjekts ist nicht die einer Illusion, sondern die eines Fiktums: Die Fiktion ist wie das Bewusstsein von einer Illusion ein Bewusstsein von etwas Nicht-Anwesendem, aber im Gegensatz zur Illusion „ist das Bildfiktum eine Nichtigkeit eigenen Typus’.“4 das durch die umgebende Wirklichkeit aufgehoben wird.“

„Schaut man auf dieses berühmte Bild von Giovanni Bellini, das dieser 1488 für die venezianische Frari-Kirche gemalt hat, dann sieht man etwas, was an der Stelle, wo man es sieht, nicht da ist. Eben die Maria mit dem Jesuskind in einer Nische, flankiert von zwei weiteren Nischen mit Heiligenfiguren. Alles ist nichtanwesend, doch mit einem Unterschied: Die Maria ist nichtanwesend und man sieht, dass sie nicht anwesend ist. Doch die Nischen mit den seitlichen Pilastern sind auch nicht anwesend, aber es sieht so aus, als wären sie real. Man hat eine Illusion echter Säulen und echten Gebälkes.“

„Das Bildobjekt legt nicht fest, was mit ihm gezeigt werden soll. Dies geschieht durch den Titel, den Kontext, durch Vorwissen – eben indem man von außen dem Bild einen Sinn zuschreibt, das heißt: sagt, was man mit ihm zeigen soll. Je nach Sinnzuschreibung und Verwendung ist dieses Bild ein fiktionales oder ein nichtfiktionales:

Dasselbe gilt nun auch für mein zweites Eingangsbeispiel:“

… nach weiteren Beispielen fährt Wiesing fort…

„Damit wird deutlich: Es gibt a priori keine fiktionale Fotografie. Die kann es gar nicht geben. Denn wenn man ein Foto von etwas hat, dann ist dieses etwas existent gewesen. Es muss existent gewesen sein, weil nur etwas Reales in der Welt eine Ursache sein kann, die das Aussehen des Bildträgers physikalisch bestimmt. Deshalb kann man mit Fotos etwas in der Welt nachweisen, deshalb stört es in der Regel einen Ehemann deutlich mehr, wenn er ein Foto seiner Frau mit einem Liebhaber im Arm sieht als ein Gemälde seiner Frau mit einem Liebhaber im Arm.”

„Sie sehen, wenn wir über fiktionale Bilder spre chen, ist es von allergrößter Bedeutung kategorial ganz deutlich zwischen Bild und Fotografie zu unterscheiden – und das ist einfach möglich: Eine Fotografie von Sean Connery kann keine Fotografie von Bond sein. Es gibt Bilder von Bond, aber keine Fotografien.”

„Sie kennen vielleicht den sogenannten Fotorealismus aus der Kunstgeschichte, hier ein jüngeres Beispiel von Oscar Ukonu aus dem Jahr 2016:

Dieses Bild ist keine Fotografie, sondern eine Kugelschreiberzeichnung, deren Betrachtung mit der Illusion verbunden ist, eine Fotografie zu sehen.
Diese Illusion, man habe es mit einer Fotografie zu tun, obwohl es digitale Malerei ist.“

… weiters kommt Wiesing nach einigen Beispielen zum Schluss …
„Es dürfte schwer sein, dieser Gefahr einer Illusionsbildung durch Bilder zu entrinnen. Das einzige, was hilft, ist ein Wissen, dass die sogenannten digitalen Fotografien gar keine Fotografien sind. Wir haben ein Beispiel für den Fall, dass eine falsche Namensgebung katastrophale gesellschaftliche und soziale Folgen haben kann. Es wäre tausendmal besser gewesen, hätte man die sogenannte digitale Fotografie als das bezeichnet, was sie ist: als digitale Malerei, die wie Fotografie aussieht, aber keine ist. Dann hätte man sprachlich eine Kategorisierung vorgenommen, die hilfreich ist, angeblich durch Bilder bewiesene Aussagen nicht zu glauben.“

Prof. Dr. Lambert Wiesing
Lehrstuhl für Bildtheorie und Phänomenologie, Philosophische Fakultät, Friedrich-Schiller-Universität Jena.

 

Endnotes
1 Husserl, „Zur Lehre vom Bildbewusstsein u. Fiktumsbewusstseins“,
Husserliana, Bd. 23, S. 487.
2 Husserl, „Zur Lehre vom Bildbewusstsein u. Fiktumsbewusstsein“,
Husserliana, Bd. 23, S. 487.
3 Husserl, „Zur Lehre vom Bildbewusstsein u. Fiktumsbewusstsein“,
Husserliana, Bd. 23, S. 487.
4 Husserl, „Zur Lehre vom Bildbewusstsein u. Fiktumsbewusstsein“,
Husserliana, Bd. 23, S.

 

Im Jahr 2022 findet das 25. Philosophicum Lech vom 20. bis 25. September zum Thema „Der Hass, Anatomie eines elementaren Gefühls“ statt.
Anmeldung ab 4. April 2022 online.