Ingrid Reichel
Das Heulen der Wölfe
Zusammenfassung 14. Philosophicum Lech:
Der Staat. Wie viel Herrschaft braucht der Mensch?
22.09.2010 -26.09.2010
Wie der Titel bereits impliziert, erläuterte der philosophische Leiter Konrad Paul Liessman die Unentschlossenheit, in der sich der Bürger befindet, wenn es um die Quantität der Macht geht, die er zu ertragen hat oder nach der er sich sehnt. Der väterliche Staat, der sich fürsorglich um all unsere Defizite kümmert, der unsere Altersvorsorge sichert, sich um unsere Gesundheit sorgt, uns eine Hygiene, eine gute Ausbildung und Bildung ermöglicht, uns Jobs garantiert, für die Gleichberechtigung kämpft, uns vor Feinden beschützt etc…, besitzt auch die elterliche Autorität gegenüber Unmündigen. Inwiefern uns der Staat also in unserer Entwicklung zu einem verantwortungsvollen Bürger hindert oder unsere Unfähigkeit wohlwollend korrigiert, bildete die Kernfrage dieser Tage in Lech. Es wäre wohl kein Philosophicum, wenn die Frage nach der Macht des Staates nicht von der Antike her aufgerollt werden würde. Den Ursprung der griechischen polis und der römischen res publica erläuterte Christian Meier, emeritierter Professor für Alte Geschichte. Der Mitinitiator vom Philosophicum, der Autor Michael Köhlmeier reflektierte schon am Vorabend am Beispiel Kadmos’, des Gründers und Königs von Theben, dass meist nur ein Zufall den Gründungsort bestimmt, zur Bildung eines Gemeinschaftswesens mehr als eine Person benötigt wird und dadurch Konflikte prädestiniert sind. Auch müsse man die gebildeten Gemeinschaften unterscheiden, denn Territorialstaat sei mit dem Nationalstaat nicht identisch, erklärt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler. In Europa leben verschiedene ethnische Gruppen von Flächen begrenzten Staaten. Bei der Nation handelt es sich um eine zum Staat komplementäre politische Ordnungsvorstellung. Nach vielen Kriegen hat sich von Westeuropa nach Mittel-, Süd- und Osteuropa die Vorstellung einer Kongruenz von Territorialstaat und Nation als politische Norm durchgesetzt. Solange nicht die Nationalität, sondern die Souveränität und Territorialität zu tragen kommt, ist der Staat handlungsfähig. Die Stabilität des Staatensystems könne erst durch die Gleichartigkeit der politischen Akteure gesichert werden. Ein weiterer wichtiger Hinweis zum Diskurs bot die Politikwissenschafterin und Vizerektorin der Universität Salzburg Sonja Puntscher-Riekmann, indem sie darauf verwies, dass moderne Gesellschaften auf Staat und Markt beruhen. Sie erörterte die ewig spannende Suche nach dem ausgewogenen Verhältnis der beiden Pole, das einem pepetuum mobile gleichkäme, und zielte dann konkret auf die EU-Union während der letzten Weltwirtschaftskrise.
Für besondere Aufregung sorgte der emeritierte Wirtschaftsprofessor Hans-Hermann Hoppe gleich während seines Vortrages und teilte das Publikum in zwei Lager. Natürlich arbeite es sich sorgloser mit fremden als mit eigenem Kapital, daher plädiert Hoppe für eine Privatgesellschaft, in der Menschen die Verantwortung selbst übernehmen. Er habe die Lösung all unserer Probleme beteuerte er und erklärte in seinem einstündigen Vortrag vereinfacht die vier Grundregeln seines Gesellschaftsmodells, in dem jede Person der exklusive Eigentümer ihres physischen Körpers, Privateigentümer der naturgegebenen Güter, die sie zuerst als knapp wahrgenommen hat und selbst zu nutzen und zu bearbeiten begonnen hat, sowie Eigentümer der von ihr selbst angeeigneten oder selbst hergestellten Güter sei. Güter, die durch gemischte Arbeitsteilung entstanden sind, können nur noch auf dem Weg eines freiwilligen, wechselseitigen, vorteilhaften und konfliktfreien Eigentumstitels übertragen werden. Der wesentliche Unterschied zum herkömmlichen Staat beruhe auf einem Vertrag, denn laut Hoppe operiere der Staat als ultimativer Rechtsmonopolist in einem vertraglosen rechtlichen Vakuum. Auf ethische und ökonomische Rechtfertigungen dieser Regeln verzichtet Hoppe in diesem Vortrag. Nur solches sei kategorisch festzuhalten: Der Zweck von Normen diene dazu, die ansonsten unvermeidbare Konflikte zu vermeiden. Ein Staat also, der Gesetze aufstellt, die wiederum Konflikte erzeugen, statt sie zu vermeiden, sei eine Perversität, argumentiert der - laut Liessmann - Vertreter eines militaren Kapitalismus (Ö1, 29.09.2010, 21 Uhr), der selbst aber den österreichisch-amerikanischen Wirtschafts- und Gesellschaftheoretiker Ludwig von Mises als seinen „persönlichen, intellektuellen Lehrmeister“ nennt.
Nach Hoppes radikaler Weltanschauung folgte an diesem Vormittag des 2. Tages des Philosophicums gleich das Gegenstück mit der Politikwissenschaftlerin Ulrike Ackermann, die selbst mehrmals in der ehemaligen DDR mit den Gesetzen des kommunistischen Regimes in Konflikt geriet und Gefängnisaufenthalte über sich ergehen lassen musste. Seither weiß sie, was Freiheit bedeute. Um dieses höchste Gut zu erlangen, plädiert die Friedensaktivistin für mehr Mündigkeit und Eigenverantwortung der BürgerInnen ohne den sozialen Aspekt des Staates außer Acht zu lassen.
Konsequent ergibt sich für den Politiktheoretiker Wolfgang Fach die Umkehrfrage, wie viel Mensch der Staat braucht? Humorvoll und makaber stellte er den gemeinsamen Erwartungshorizont dar. Das Problem der „doppelten Kontingenz“ müsse also gelöst werden. Opportunitäts- und Organisationsstrukturen wären hierfür Voraussetzung. Hierbei beschreibt Fach drei Typen von BürgerInnen: Bürger, die nicht wählen gehen, und die den Eindruck, alles wäre bestens, vermitteln; BürgerInnen, die wählen gehen, wenn sie unzufrieden sind, und jene, die man als comman man oder auch forgotten man bezeichnet, jene also, die man als brave, Steuer zahlende, unaufmüpfige BürgerInnen bezeichnet und in einer Politik, die Schweigen nicht honoriert, vergessen werden. Für Fach bestehe jedoch die Sicherheit des Systems in der Schulden- und Steuerzahlung. Erst wenn dieser Zahlungsprozess nicht mehr organisiert werden könne, dann wäre der Zusammenhalt gefährdet, das sehe man anhand der Krisenzeiten. Normalität sei eben nicht kostenlos!
Mit Freude wurde nun der unbequemste Philosoph in der Runde erwartet. Rudolf Burger fackelte nicht lange. Er entschied sich in Anbetracht der Situation gleich für einen Nachruf des Liberalismus. Der Traum des Absterbens des Staates in einer Überflussgesellschaft sei eine romantische Illusion, denn die Herrschaft ist ein Existential, kontert Burger seine geistigen Kontrahenten. Den Tod des Liberalismus argumentiert er, indem er auf unsere amoralische Gesellschaft, die voller Individualisten und Konsumisten ist, verwies.
Am dritten Tag schließlich verbildlichte der Soziologe Heinz Bude die Metamorphose des Staatsglaubens nach 1945. Nach dem notwendigen, erweiterten, gefräßigen und launigen Staat sei man zum jetzigen Zeitpunkt beim freundlichen Staat angelangt, der als Ratgeber zum Wohle des Einzelnen fungiere. Nach 25 Jahren des Neoliberalismus ist das Vertrauen in den Staat, auch auf Grund der Finanzkrise, abhanden gekommen und man befinde sich auf der Suche nach einem neuen Regulativ. Auf den Vortrag des Rechtsphilosophen Christoph Möllers, der sich mit der Demokratie als explizite Herrschaftsform der Befreiung beschäftigte, kann auf Grund der oralen Komplexität des Vortrags und wegen nicht vorhandener Presseunterlagen nicht eingegangen werden. Das Philosophicum endet mit einer Grundsatzkritik an der staatlichen Souveränität des Sozialphilosophen Daniel Loick, der anhand der US-Fernsehserie Deadwood die Ambiguität der staatlichen Gewalt darlegte, die sich in ihrem Ergebnis nur im Symbolischen differenziere, legitime Macht unterscheide sich weder quantitativ noch qualitativ von der illegitimen, wenn das Urteil und seine Vollstreckung identisch sind.
Zum Abschluss referierte Michael Köhlmeier anhand von Daniel Defoes Robinson Crusoe, William Goldings Herr der Fliegen, Joseph Conrads Herz der Finsternis sowie Robert Louis Stevensons Dr. Jekyll und Mr. Hyde über den Traum und Alptraum der Dichter: ein Leben ohne Staat. Warum Köhlmeier nicht auf modernere und innovativere Werke verwies, bleibt dahingestellt.
Eine Antwort auf die Frage, wie viel Herrschaft nun der Mensch tatsächlich brauche, blieb das Philosophicum dem Publikum wie erwartet schuldig. Die Angst vor dem menschlichen Ungeheuer geistert jedoch seit Thomas Hobbes, dem britischen Staatstheoretiker des 17. Jahrhunderts, und seinem Hauptwerk Leviathan im Angesicht des britischen Bürgerkriegs (1642-1649) in unseren Köpfen weiter: „[…] both sayings are very true; that Man to Man is a kind of God; and that Man to Man is an arrant Wolfe.“ - „[…] es stimmt sowohl, dass der Mensch dem Menschen gottgleich ist, als auch, dass der Mensch dem Menschen unverhüllt ein Wolf ist“. Ursprünglich stammt das Zitat aus der Eselskomödie - „Asinaria“ des römischen Komödiendichters Plautus: „Ein Wolf, kein Mensch, ist der Mensch dem Menschen, solange er nicht weiß, welcher Art er ist.“ („lupus est homo homini, non homo, quom qualis sit non novit.“ (Quelle: Wikipedia).
Das Philosophicum bot somit ein gelungenes, rundes Programm zum Thema und sorgte durch die Vorträge für neue aufkeimende Fragen, wie nach der Motivation von Macht, im Sinne von regieren wollen, und die Frage nach der Frustrationsgrenze. Hand aufs Herz: Wer will nach acht Jahren Bush-Regierung freiwillig amerikanischer Präsident werden? Aber das ist eine andere Geschichte …
Näheres zu den Vorträgen
Vorschau:
Anthologie zum 14. Philosophicum Der Staat. Wie viel Herrschaft braucht der Mensch.
Wien: Zsolnay Verlag, 2011.
15. Philosophicum: Die Jagd nach dem Glück – Perspektiven und Grenzen guten Lebens.
21. – 25.09.2011, Neue Kirche, Lech am Arlberg. Anmeldung: www.philosophicum.com
etcetera 43/ Feindbilder. Zwischen Barrikaden und Blockaden/ März 2011 mehr...