46/ arbeits-los/ Künstlerportrait: Josef Schützenhöfer. Ingrid Reichel

 
Foto: © Ingrid Reichel  

Ingrid Reichel
Josef Schützenhöfer
Ein Maler, Arbeiter und Kämpfer

Ingrid Reichel und Peter Kaiser besuchten den Künstler Josef Schützenhöfer in seinem Wohnort Pöllau in der Steiermark im Februar 2011. Sie sprachen mit ihm über seine Malerei, seine Anliegen, über die Kunst als Ausdrucksmittel und über seine zukünftigen Projekte.

Gibt man den Geburtsort Josef Schützenhöfers in Google ein, kommt man auf eine Seite der Kleinregion Vorau mit dem Titel „Gesunde Region Vorau“ und den einleitenden Worten: Grüß Gott in Vorau! Herzlich willkommen im Joglland!

Das hat schon was Spöttisches und sagt eigentlich schon alles. Dazu muss man etwas ausholen, nämlich in die Vergangenheit, jene Vergangenheit, die in Österreich gerne unter dem Teppich gekehrt wird und von anderen zwecks Aufarbeitung und Reinigung wieder hervorgeholt wird. Man nennt sie in Österreich Staubaufwirbler oder schlimmer noch: Nestbeschmutzer. Wie man schon Thomas Bernhard völlig zu Unrecht beschimpft hat, so auch Josef Schützenhöfer. Menschen also, die den Dreck unter dem Teppich nicht mehr ertragen können und wollen.

Wir befinden uns in der oststeiermärkischen Region, wo die Aufarbeitung der Nazigräueltaten kaum stattgefunden hat. Die Gemeinde Pöllau, in der sich Schützenhöfer 1996 nach seiner 24-jährigen Emigration in die USA etablierte, hat eine Internetseite mit einem kurzen Geschichtsüberblick. Da heißt es, dass 1932 bereits 20 % der Pöllauer Bevölkerung für die Nationalsozialisten gestimmt hatten und dass nach der Machtübernahme 1938 wichtige Funktionen der Marktgemeinde neu besetzt wurden. Bis auf einen Bombenangriff blieb der Ort bis zum 27. April 1945 weitgehend verschont. „Unter den Armeen der Befreier, vor allem unter amerikanischen Piloten und Rotarmisten, führten die Kämpfe rund um Pöllau kurz vor Kriegsende zu Verlusten. Jüdische Opfer der nationalsozialistischen Terrorherrschaft, die von einem nicht geringen Teil der Bevölkerung gestützt wurde, gab es in Pöllau nicht.“ Bis Schützenhöfer zurück in seine Heimat kehrte, war, im Gegensatz zur Ehrung der gefallenen österreichischen Soldaten, nicht einmal der Gedanke an eine Gedenkstätte für die gefallenen Befreier aufgekommen. Soviel zunächst zu einer gesunden Region.

Josef Schützenhöfer wuchs somit in einem Ort auf, der noch nach dem Krieg den Mief der Altnazis nicht loswurde. Pöllau steht jedoch nicht alleine da, es steht leider repräsentativ für ganz Österreich! Schützenhöfer spricht von der Nazibrut, die sich bis in die 80er, vielleicht aber bis heute, auch in unseren Universitäten eingenistet hat. Sein Zorn richtet sich gegen die klerikale faschistoide Scheinheiligkeit, gegen Machtstrukturen - von politischen Obrigkeiten bis hin zur Polizei, die für ihn bis heute ein Paradebeispiel an rechter Klientel abgibt und einen höchstgestörten Apparat darstellt -, gegen österreichische Akademiker wegen ihres Titelwahns, gegen deren Selbstverherrlichung und ihre durchdringende Wartekultur, die jeden normalen Menschen zum Bittsteller degradiert. Und natürlich richtet sich sein Zorn auch gegen die Medien, die all dies als frohe Botschaft verbreiten. Im Grunde sprechen wir von der Gesellschaft eines kleingeschrumpften Österreichs, dessen angeknackstes Selbstbewusstsein sich auf ihre Bürger individuell überträgt und eine Angst vor dem Leben an sich bestärkt.

Schützenhöfer sieht sich als Kämpfer auf der Seite der Schwachen, Wehrlosen und Unterdrückten für das Grundgesetz und das Gleichheitsprinzip. Die Wichtigkeit sieht er im Individuum: „Wenn der Mensch stark und unabhängig ist, ist er angstfrei, und das interessiert mich. Denn ich brauche keine ängstlichen Sozialisten, ich will mit denen nichts zu tun haben. Ich bin für ein starkes Individuum, das aus Überzeugung solidarisch ist. Aus tiefer Überzeugung, aber nicht als Parteimitglied. Ich kenne Beispiele von Sozialisten, das ist ein Graus.“

Das Recht auf individuelle Freiheit liegt im Zentrum von Schützenhöfers Leben und Schaffen. Im achtzehnten Lebensjahr wurde es ihm in seiner Heimat zu eng. Doch auch Wien konnte ihm nicht genug Freiraum bieten. 1972 verteidigte er einen Sandler, der friedlich auf dem Rasen vor dem Kunsthistorischen Museum lag und von Polizisten aggressiv gestoßen wurde. „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ lautete das Urteil und brachte ihm eineinhalb Jahre Freiheitsstrafe auf Bewährung und 28 Tage Knast in der Roßauer Lände ein. Das war der Auslöser, der ihn in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten ziehen ließ. Angeschlagen und enttäuscht von seiner Heimat kam er in den Vereinigten Staaten an: „Ich habe mich immer in diesem Land (Österreich) unwohl gefühlt. Schon als Kind. Das Hauptproblem war die Katholische Kirche. Dieser Druck. Und dann dieser Faschismus, auch dieser klerikale Faschismus, der auf alle Aspekte des täglichen Lebens eingewirkt hat. Schulbetrieb, … einfach alles. Damals wollte ich hier weg. Bin nach Wien. Aber das war auch zu eng. Ich wollte dorthin, wo die individuelle Freiheit präsent ist. Und das habe ich in Amerika gesehen und das war befreiend. Da ist viel Platz…“. Damals konnte man in Amerika leicht einwandern. Die Sicherheitskontrollen von heute gab es nicht.

Als ihm das Geld für das Studium der Malerei ausging, bewarb er sich bei der Navy, die ihm im Gegenzug die Finanzierung seines Studiums versprach. Seine Zerrissenheit gegenüber Machtgefügen sieht er im Zusammenhang mit seinem Eintritt in die US-Navy beinahe verklärt romantisch: „Man muss sich für den Staat, auch wenn ich gegen dessen Machtstrukturen bin, für das Grundgesetz und die Grundgedanken der Freiheit, einbringen – to serve someone. […] Wenn da soviel Blech auf dem Ozean schwimmt, das ist schon was Besonderes und dann auch noch mit Leuten zu dienen, mit African Americans und Hispanics, die kulturell ganz anders sind als ich. Das war eine grandiose Zeit, ich schätze diese vier Jahre so sehr, mit der untersten Schicht Amerikas gedient zu haben.“

Dass er damit die österreichische Staatsbürgerschaft verlor, eine zeitlang staatenlos war, bis er die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt, war ihm egal. Wichtig war ihm seine Ausbildung im weitesten Sinne. Angetan hat es ihm vor allem die US-Geschichte der 30er Jahre nach der großen Weltwirtschaftskrise. Bücher, die ihn formten, von denen zehrt er heute noch. Entscheidend geprägt haben ihn der Pulitzer-Preisträger John Steinbeck mit seinem Monumentalwerk The Grapes of Wrath (1939, Dt.: Früchte des Zorns), die berühmte Geschichte der Farmerfamilie Joad, die heimatlos wird, alles verliert und nach Kalifornien reist. Aber auch der amerikanische Autor, Journalist und Sozialaktivist James Agee und der amerikanische Fotograf Walker Evans, die diese Zeit der Armut und Repression dokumentierten. Und natürlich Literatur von dem berühmten amerikanischen Sozialisten und Arbeitsbewegungsaktivisten Eugene Victor Debs und dem Arbeiterführer und Gewerkschaftsgründer Joe Hill. Diese 30er Jahre, die Wirtschaftskrise und die Works Progress Administration (WPA), die im Zuge des New Deal, des unter Präsident Franklin Delano Roosevelt durchgesetzten Wirtschafts- und Sozialreformbündels, geschaffen wurde, um der Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken. Unter anderem weitete sich die Arbeitbeschaffungsmaßnahme der US-Regierung auch auf arbeitslose Intellektuelle mit bundesweiten Projekten für Schriftsteller (FWP), für Musiker (FMP), für Theaterschauspieler (FTP) und für Künstler mit dem Federal Arts Project (FAP) aus. Letzteres förderte das Bewusstsein junger amerikanischer Künstler und war von großer Bedeutung für die Entwicklungsgeschichte moderner amerikanischer Kunst im 20. Jhdt. Maßgeblich inspiriert waren die damaligen amerikanischen Realisten von dem Sozialen Realismus mit den Murales der Mexikanischen Revolution, wie sie beispielsweise Diego Rivera anfertigte.

Nach dem Ausbruch des II. Weltkriegs und mit Beginn des Kalten Kriegs wurde dieses Genre vom Abstrakten Expressionismus abgelöst. Vertreter des Amerikanischen Realismus waren, vor allem jene, die den Regionalismus im Mittleren Westen (v.a. Missouri, Kansas Iowa) prägten, Thomas Hart Benton (1889-1975) - mit seinen Alltagsszenen, insbesonders mit ländlichen Szenen des vorindustriellen Agrarlebens und mit seinen in übertriebener Plastizität und zum Teil ins Karikaturistische und Zeitkritische ausgearbeiteten Werken - und Grant Wood (1891-1942), der Sohn einer Quäkerfamilie mit seinen Gemälden von Menschen und Landschaften seiner Heimat. Sein berühmtestes Werk „American Gothic“ (1930) - auf dem ein Mann mit einer Heugabel und seine Tochter vor einem Haus im Zimmermann-Gotik-Stil zu sehen sind - sorgte für Aufregung, war man sich doch nicht darüber schlüssig, ob die Ausführung satirisch oder glorifizierend sei, ob sie einen nostalgischen Rückblick oder eine ironische Gegenwartsdarstellung der 30er zur Schau stellte.

All dies hat Schützenhöfer als wissensdurstiger junger Mensch aufgesaugt und das hat ihn geformt. „[…] das ist so eine provinzielle Art der Malerei, die entspricht nicht dem kosmopolitischen Bereich von NY, sondern das ist America Middle East, das ist realistische Malerei, die im Kontrast zu der Abstrakten in New York steht.“

Mit der Wahl von Ronald Reagan zum Präsidenten der USA (1980) begann Schützenhöfer seinen persönlichen Realismus in der Malerei umzusetzen. Seine künstlerisch-politische Rebellion richtete sich gegen kriegsführende Präsidenten, gegen die US-Army, die am Uni-Campus mit einem Plakat versuchten Leute für die Armee zu rekrutieren, gegen Fernsehprediger u.v.m. und stieß auf keine Gegenliebe: „Da hat es allerhand Konflikte gegeben, mit Zensuren und solchen Sachen, aber eigentlich harmlos.“

1996 kehrte Schützenhöfer mit seiner Familie nach Euro pa, genauer gesagt nach Pöllau in Österreich zurück. Grund dafür war zunächst eine rein private Entscheidung, die auf der Annahme basierte, dass eine gute Schulausbildung für seinen Sohn Louie in Europa erschwinglicher als in Amerika sei. Eigentlich wollte er nach Arkansas, dort wo der Regionalismus in der Bildenden entstand. Doch Janice, seine Kollegin, wie er sie liebevoll nennt - weil er den Begriff „meine Frau“ für eine sprachliche Perversion hält und auch „Partner“ für ihn inakzeptabel ist – hat Europa immer gefallen. „[…] also nicht Österreich, sondern Europa: Frankreich, Deutschland, England, Italien, da ist wirklich Kultur.

Österreich ist Barock, aber in Europa ist Kultur. Wir haben einen Sohn, und Janice hat gemeint, dass in Europa der Zugang zur Bildung, wenn man eine Existenz am Rande führt, leichter wäre. Und nun gibt es ja ein Europa. Es gab ja nicht mehr das Österreich. […] Und dann merkt man, dass die Bildung hier ist, wie das Trainieren von Affen. So kommt mir das Bildungssystem hier vor. […] Es gibt hier z.B. eine Musikschule, da bringen alle ihre Kinder hin. Diese Musik, das ist ja so was Affirmatives, so was Peinliches. Diese Musikkappellen, das sind trainierte Affen für mich. Da hat es begonnen immer problematischer, immer schwieriger zu werden.“ (Kommentar der Redaktion: Schützenhöfer bezieht sich hier vor allem auf die Kernstock-Kapelle vor Ort.)

Schützenhöfer polarisiert, er sieht nicht ein, warum sein Sohn in einer Jahnturnhalle Sport betreiben soll, die erst 2001 renoviert und wo das stilisierte Hakenkreuz, welches in der Nazizeit als Turnerbundzeichen verwendet wurde, frisch aufgepinselt wurde, warum in Pöllau ausgerechnet die Volksschule den Namen des deutschnationalen Augustiner-Chorherren Ottokar Kernstock (1848-1929) trägt, der 1923 für die Fürstenfelder Ortsgruppe der DNSAP das Hakenkreuzlied verfasste und der bereits 1916 von Karl Kraus in seiner Zeitschrift Die Fackel schwerst kritisiert worden war. Doch Schützenhöfer wird Österreich nicht wieder verlassen, er tröstet sich mit Europas Kultur: „Das ist die Sache mit dem Alter. Wenn ich 42 wäre, wäre ich sofort wieder unterwegs. Es braucht immer 10 Jahre, bis du dich in der Kunst wo aufbaust. Kunst ist sehr langsam, sehr schleppend, bis sie wieder aufmerksam werden. Das heißt, du brauchst Geld für so etwas. Mit Geld sind wir nicht gesegnet.

Also muss ich da irgendwie verbleiben. Aber ich habe eine Hafenlandschaft hier, das heißt, du kannst immer wieder weg. Was ich an diesem Europa besonders schätzen gelernt habe, ist diese Nähe zu Italien. Es ist unglaublich, ich habe das nie kapiert. In den USA habe ich das nur gelernt: Caravaggio, Tintoretto und das Ganze. Es war mir nicht bedeutend, ich habe das halt absolviert. Und ich war jetzt einmal in Venedig. Das ist einfach unvorstellbar, was es da für einen Kulturreichtum gibt. Da fahre ich gerne wieder hin.“

Was er am österreichischen Barock auszusetzen hat? „Er ist dürftig, er ist hinterhältig, er ist katholisch, das ist ein Scheiß. Okay? Da unten ist sie (Kommentar der Redaktion: die Kultur) zwar auch katholisch, aber das ist viel komplizierter, vielschichtiger, philosophischer, viel reicher. Und es ist ein Handwerk da, eine Meisterlichkeit in der Sprache, wo ich Anleihe nehme. Und wenn ich zurückkehre, erhoffe ich mir, wenn ich male, dass ich dieses Handwerk auch ein bisserl erlernen kann, in meine Arbeit einfließen lasse. Jetzt rede ich nicht vom Inhalt, sondern rein von der Handfertigkeit des Malens und der Möglichkeit, es kunstgeschichtlich zu erfassen. Das ist das Schöne an Venedig, wenn man da hinfährt und sich z.B. einen Giotto anschaut, oder einen Tiepolo, sehr modern im Strich, wirklich gut. Unglaublich, da kannst du den Tag dort sitzen, dir das anschauen und dann ein kleines Stück zurückbringen und ein Jahr davon zehren, hier (in Österreich). Das schätze ich schon gewaltig.“

Schützenhöfer kann auch mit der österreichischen Kunst der Moderne nichts anfangen, die seiner Ansicht nach nichts zu sagen hat: „[…] ich hasse den Egon Schiele. Das ist ein Kretin, eine Krätzen, ein absolut Überdotierter, ein selbstverliebter Katholik. Jemand, der andauernd diese scheiß Selbstporträts macht, was bringt uns das? Was bringt mir dieses scheiß Selbstporträt von dem ewig? Was bringt mir der Nitsch, der immer … self-referential da ist, immer über sich selbst. Das ist eine österreichische Krankheit, und die kannst du mit dieser scheiß Kirche erklären.“

Schützenhöfers Malerei lehnt sich an den US-Realismus der 30er Jahre. Sie ist von keinem gekünstelten Fotorealismus der Moderne geprägt, die mit Diaprojektoren an die Leinwand geschmissen wird. In Schützenhöfers Atelier geht es noch um Handwerk, um Können. Hier gibt es kein Können ohne Inhalt, kein Inhalt ohne Können. Kunst ist Arbeit, Schwerarbeit, wenn man den Kampf und die Schwierigkeiten miteinbezieht, die diese Kunst auslöst. Für ihn ist Kunst ein Ausdrucksmittel, Paroli zu bieten und anderen den Mut zu geben Gleiches zu tun, aufzubegehren, sich zu empören, wie es der ehemalige Widerstandskämpfer Stéphane Hessel in seinem kleinen Manifest „Indignez-vous!“ 2010 ausgerufen hat.

„Es sollte Dein Auftrag als Journalist und mein Auftrag als Künstler sein, diesen Grenzbereich immer zu patrouillieren. Es gibt einen Grenzbereich, wo die Legalität zur Illegalität wird. Diese konservative Regierung, die versucht diese Grenzbildung immer enger zu schnüren und es ist deine Aufgabe zu patrouillieren, dass es nicht enger geschnürt wird! Das Gleichheitsprinzip, das Grundgesetz zu schützen!“, mahnt Schützenhöfer bei unserem gemeinsamen Gespräch.

So wie er vehement seit Jahren in Pöllau für die Errichtung eine Denkmals für die Befreier Österreichs kämpft und ein dauerhaftes Projekt etablieren will, wo Künstler der alliierten Länder nach Pöllau kommen und gemeinsam ein Kunstwerk anfertigen sollen, verfolgt Schützenhöfer die Vorgehen bezüglich Schließungen diverser Großkonzerne. Seine Erfahrungen diesbezüglich verdankt er seinem Projekt über einen Streik gegen die Schließung eines Caterpillar-Werks in York (Pennsylvania) 1986/87. Die Politik der Schwächung der Gewerkschaften von Seiten der Regierung und die damit verbundene Stärkung der Zulieferindustrie sieht er auch in Österreich umgesetzt. Genauso verfolgte er Stronachs Erfolgskurs und das Ende der verstaatlichten österreichischen Automobilindustrie. Es mag wohl eine gewisse Nostalgie dahinterstecken, als Schützenhöfer zwischen 1994 und 1999 auf eigene Faust in den Grazer Puch-Werken beginnt zu malen. Malerischer Fokus waren zunächst die Arbeiter und der Pinzgauer - der Nachfolger des Haflinger, eines österreichischen Militärgeländefahrzeuges – dessen rentable Produktion nach der Übernahme durch den Magna-Konzern eingestellt wurde. Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Puch-Werke stellte Schützenhöfer 1999, die mittlerweile durch Magna in Auftrag gegebenen Werke unter dem Titel Kunst kommt von Arbeit aus. Mit dem großformatigen Stronach-Gemälde Friendly takeover (friendly fire), wo er den Magna-Gründer mit Anzug, aber bloßfüßig auf einer Seemine auf hoher See vor einer Seeschlacht mit Segelschiffen aus der Entdeckungszeit Amerikas stehen lässt, wagt er eine Kritik zu Stronachs Wirtschaftsstrategie, die ihm Hausverbot einbrachte. Auch als die Reifenproduktion der bereits 1985 an die Continental AG Hannover verkauften Semperit-Werke in Traiskirchen 2002 nach Tschechien verlegt wurde, war Schützenhöfer präsent und dokumentierte den Ausverkauf, indem er wieder einmal in den letzten Tagen im Werk die Arbeiter und Arbeiterinnen und ihre Vulkanisierungmaschine auf lebensgroße Sperrholzplatten malt. Für eine Aktion der Intro Graz Spection montierte er diese im öffentlichen Raum vor dem Grazer Gewerkschaftshaus zu einem quadratischen Turm und errichtete damit ein Denkmal für die Arbeiter und Arbeiterinnen und ihre Arbeit gegen den Maximierungsprofit des Konzerns. Ende Oktober 2010 beschließt der Wäschekonzern Triumph International das oststeirische Werk in Hartberg zu schließen. Schützenhöfer stellte eine Serie von lebensgroßen Porträts der Arbeiterinnen der Firma Triumph im Rahmen der Ausstellung Land of Human Rights: Womit verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt? bei <rotor> association for contempory art in Graz aus. Es war nicht leicht eine Genehmigung von der Betriebsleitung zu bekommen. Auf Intervention der Betriebsrätin durfte er immerhin Fotos von den Arbeiterinnen machen, die er dann wie schon bei den Puch- und Semperit-Werken auf Spanplatten malerisch umsetzte.

Diese Ganzkörperporträts der Arbeiter und Arbeiterinnen sind präzise, im Vergleich jedoch zu seinen anderen großformatigen Werken, in skizzenhaftem Stil ausgeführt. Hier gibt es keine in die Karikatur gehenden Details. Alle sind in ihrer Arbeitstracht festgehalten. Der Hintergrund bleibt unbehandelt. Es ist, als ob Schützenhöfer mit diesem bewusst unvollkommenen Stil den gemalten Personen in der fragilen Situation ihrer Existenz ihre Ehre und Würde wiedergeben würde. Und nicht nur das, es ist die gelebte und ausgedrückte Solidarität des Künstlers zu seinen arbeitslos gewordenen Helden.

Kompromisslos arbeitet Schützenhöfer weiter, weicht nicht von seinem geradlinigen Weg ab. Nun widmete er sich wieder verstärkt der Pöllauer NS-Zeit. Vor drei Jahren hatte er mit Schülern der Hauptschule Kaindorf am Ort des Absturzes eines amerikanischen B24-Bombers am 22. Februar 1944 ein Denkmal in Rabenwald errichtet. Sein persönliches Denkmal hierzu konnte er in der Grazer ÖVP-Zentrale dauerhaft platzieren. Das Werk ist dem US-Piloten Harry W. Moore und seiner Besatzung von 11 Männern gewidmet. „Es ist zu sagen, dass hier in diesem Ort im Krieg viele Alliierte ihr Leben auch gegeben haben, um dieses Land zu befreien.

Das sind die Amerikaner, die Russen, die Engländer und die Franzosen. Wir schätzen, dass alleine in diesem Tal 21 Amerikaner umgekommen sind. Von den Russen kann ich es nicht sagen, die haben nicht so gut Buch geführt. Es waren ein paar Franzosen Kriegsgefangene usw.“ Am 18. Juni 2011 war es dann soweit und Schützenhöfer präsentierte das Liberation Art Project in Pöllau, das sich mittlerweile zu einem mehrschichtigen Gesellschaftsprojekt entwickelt hat, mit einem namhaften Personenkomitee aus der Literatur, aus der bildenden und angewandten Kunst, Musik, Wissenschaft, Wirtschaft sowie dem Sport, welches das Projekt unterstützt. Fürs erste waren die amerikanischen Künstler Douglas Hoagg, Will Contino und Emily Hines eingeladen mit Schützenhöfer gemeinsam einen präzisen Nachbau von einem Leitwerk einer B24 anzufertigen. „[…] es ist ungefähr drei Meter hoch, aus Aluminium konstruiert und ist bemalt, bedruckt und gestaltet.“ Um 16 Uhr wurde das Denkmal eröffnet.

„Hier in diesem Ort sind vier dieser Flieger abgestürzt. Es gibt keinen Hinweis. Es gibt natürlich viele andere Geschichten. Es gab Widerstandskämpfer, die hier ermordet wurden, die Frau Spieß im Mai 1945 z.B., auch da gibt es keinen einzigen Hinweis. Es sind allerhand Dinge, auf die wir hinweisen. Aber irgendwann müssen wir den Anfang machen. Und ich glaube dieses Objekt ist ganz wichtig. Und das soll der Anfang sein.“ Für zukünftige Projekte der Liberation Art wird Schützenhöfer Gäste aus der Ukraine, den USA und England einladen. „Die sollen schauen, was aus dieser Investition aus 45 wurde, wie demokratisch der Herr Bürgermeister hier ist und was das bedeutet, nach dem Kameradschaftsbund der Altnazis zu rufen, wenn irgendwer ein Kunstobjekt macht. Die sollen das dann bewerten. […] Wir werden sehen, was sich da tut, wie es weitergeht.“

Josef Schützenhöfer
Geb. 1954 in Vorau im Bezirk Hartberg in der Oststeiermark. 1973: Emigration in die USA. Beginn des Studiums der Malerei. 1976-77: USN School of Dental Science/San Diego, Cal. DN. 1977-80: Dental Hygienist, US-Navy, NNSY Norfolk VA. 1980-84: Studium der Malerei an der Old Dominion University Norfolk/Virginia, USA Bachelor of Arts/ Painting and Printmaking. 1984-87: Maryland Institute College of Art, Baltimore/Maryland, USA, Master Class of Painting bei Grace Hartigan (1929-2008) (Abstrakter Expressionismus) und Sal(vatore) Scarpitta (1919-2007) (The Outlaw of Art and Racing), Master of Art. 1994: Hochschule für Angewandte Kunst Wien, Nostrifikation Mag. Art. 1997: Rückkehr nach Österreich.

Awards:
1996: NEA Award for Painting (National Endowment for the Arts).
1985: Graduate Fellowship, Richmond Museum, Richmond/VA.
1983: Undergraduate Student Fellowship, Richmond Museum, Richmond/VA.
1981: Student Fellowship, Hermitage Foundation, Norfolk/VA Zahlreiche Ausstellungen in Europa und USA (Kurzauszug!)
2006 Feb-März: „Bühne Land“, Forum Stadtpark/Graz
2005 Mai-Nov: „Lauter Helden“ (NÖ Landesausstellung/ Heldenberg, Doppelporträt Kommandant und Idol) 2004: „Reich oder Arm“, Literatur im März/Kunsthalle Wien
2003 Okt: Joseph Schuetzenhoefer at the ODU Gallery/Norfolk, Virginia
2002 April: “Schützenhöfer applies Labour to Art”, Retzhof/Leibnitz
2001 Sept: “Oh Lord Would You Buy Me a Mercedes Benz Unimog and other Things Please!”, Technisches Museum/Wien
2000 März: Diagonale Graz, Filmdokumentation von Christian Reiser über die Art Comes from Labor-Installation
1999 Mai: “Steyr Case 99” Schlossgalerie/ Pöllau, solo show
1998 Mai: “America no more”, Schlossgalerie/ Pöllau, solo show
1997 Mai: “Work”, Work Art Gallery, Gewerkschaftshaus Graz - solo show
1987 Juli: “Sweet Land of Liberty”, Gallery 33 Art Center/ Baltimore, Maryland
1985: “World War II Drawings”, Grey Gallery New York University, New York- solo show

Publikationen: Wespennest Sonderausgabe 6/April 2006/Schützenhöfer zur Ausstellung an der Wiener Hausfassade Rembrandtstr. 31 Kunst kommt von Arbeit; Katalog zur Ausstellung Josef Schützenhöfer: Früchte des Zorns. Ölbilder, Aquarelle, Zeichnungen 1984-2009. KPÖ Bildungsverein. Nov. 2009.
Alle Fotos der Werke von Josef Schützenhofer wurden mit freundlicher Genehmigung des Fotografen Reinhard Öhner und wespennest, zeitschrift für brauchbare texte und bilder abgedruckt: oehner.jimdo.com, www.wespennest.at

Ausstellung Schützenhöfer: 30.11.11-08.01.12: Stadtmuseum St. Pölten, Prandtauerstr. 2, 3100 St.Pölten.
Eröffnung bei der etcetera - Heftpräsentation am 30.11. um 19 Uhr.

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46/ arbeits-los/ Künstlerportrait: Josef Schützenhöfer. Ingrid Reichel

46/ arbeits-los/ Portrait: Delphine Blumenfeld. Reinhard Müller

 
Foto: © dermaurer  

Reinhard Müller
Delphine Blumenfeld

Prosaisches: Leben

Delphine Blumenfeld, 1961 in Klagenfurt / Celovec geboren, besuchte dort seit 1968 die Volksschule, anschließend die Hauptschule und bis 1979 das Gymnasium. Seit 1988 arbeitete sie bei einem Projekt im Frauenzentrum „Belladonna“ und war Mitherausgeberin der gleichnamigen „Zeitschrift des Frauenkommunikationszentrums Klagenfurt“.

1990 wirkte sie im Rahmen des Vereins „VIBS“ (Verein für Innovation, Beratung und Supervision) an der Erstellung eines psychosozialen Atlasses für Kärnten und Osttirol mit.

1998/99 und erneut 2000 war Blumenfeld als Tierpflegerin und Fremdenführerin am Affenberg Landskron in Villach / Beljak tätig, einem Freigehege für Japanmakaken (Schneeaffen), dazwischen 1999 als Redakteurin, Moderatorin, Sendungsmacherin und Radiojournalistin bei „freies radio AGORA / svobodni radio AGORA“, Klagenfurt.

2000 war sie Behindertenfachbetreuerin in der Marienanstalt Maria Saal / Gospa Sveta für schwerst- und mehrfachbehinderte Kinder, Jugendliche und Erwachsene sowie 2001 Betreuerin bei der HELP-Sozialpädagogik im Therapiezentrum Saualpe in St. Oswald / Št. Ožbolt (zu Ebenstein / Svinec) für alkoholund mehrfachabhängige Klienten. Delphine Blumenfeld, die 2011 die Prüfung als Falknerin ablegte, lebt heute in Klagenfurt.

Poetisches: Schaffen

Schon mit ihren ersten Büchern erregte Delphine Blumenfeld bemerkenswerte Aufmerksamkeit: Der Clown mit dem Spiegel (1987), Seesterngedichte (1996), Schneeläufer / Puščavske rože (2000). Kein geringerer als H. C. Artmann bezeichnete damals Blumenfelds Lyrik als „Weltliteratur“, und Bertram Karl Steiner meinte: „So souverän ist noch kein Kärntner Autor mit dem Kärntner Dialekt umgegangen und keiner hat diese Sprache so ernst und beim Wort genommen.“ Und Helmuth Schönauer fand, ihre „Gedichte gehen unter die Haut, weil sie wie ein wohltuendes Gel zuerst Zustimmung auslösen und erst nach einer genau bemessenen Zündzeit die wahre Botschaft aufsprengen: In den Adern fließt zuweilen eiskaltes Winterblut!“

Delphine Blumenfeld wandert biografisch wie poetisch am Rande der Gesellschaft, also im Zentrum menschlichen Seins. In ihren Worten wie Bildern über geschundene Kreatur und Natur stellt sie dem in der Gegenwartsliteratur beliebten jämmerlich Jammernden und aufgesetzt Tiefgründigen ihre sperrige Ironie und ihren grotesk-komischen Lebensmut gegenüber. Mit „angstwandern“ wendet sich Delphine Blumenfeld erneut jenem Themenkreis zu, der in der deutschsprachigen Literatur so wenig Niederschlag findet, und wenn, dann über Plakatives und Mitleidsarroganz kaum hinauskommt. Diese „noch ein paar arbeitslosenlieder“ sind Fort-, Weiter und Über-Setzung einiger Texte ihres letzterschienenen Buchs, dessen Titel Blumenfeldsche Pro-Grammatik ist: Arbeitslos. Heimatlos. Alles los (2008). „Nein, das ist nicht schon wieder eines jener um pädagogische Betroffenheit bemühten ‚gesellschaftskritischen‘ Bücher, wie es der Titel … suggerieren könnte. In einem solchen könnte die tiefe Depression einer Langzeitarbeitslosen, einer wirklich armen Frau über ihr ‚hiniges Leben‘ nicht in derart koboldhafte Sätze wie diese umschlagen: ‚Wenn ich kein Geld habe, hole ich Kerzen vom Friedhof. Ich steige nachts über die Mauer und pflücke die noch nicht abgebrannten Kerzen von den Gräbern. Dabei bitte ich die Toten, mir zu verzeihen. In der Regel tun sie es…‘ Delphine Blumenfeld, pardon, ist, auch wenn sie es nicht und nicht zugeben will, eine Poetin von Rang – was ihr übrigens … H. C. Artmann auf den Kopf zusagte, nachdem er ihre zum Heulen traurig-komischen Gedichte gelesen hatte.“ (Bertram Karl Steiner 2008.)

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46/ arbeits-los/ Portrait: Delphine Blumenfeld.  Reinhard Müller

Künstlerportrait: Joe Sacco, der zeichnende Journalist in Palästina. Ingrid Reichel

 

 
Joe Sacco headshot © Michael Tierny  

Ingrid Reichel
Joe Sacco, der zeichnende Journalist in Palästina
Ein Portrait und eine Rezension

 

Die Medienlandschaft ist und bleibt ein problematisches Feld. Zum einen werden die Nachrichten kategorisch voneinander abgeschrieben, man könnte meinen wir leben in einer diktatorischen Mediengesellschaft. Man kann sich des Eindrucks nicht verwehren, dass das Volk einer kollektiven Massenverblödung durch die Medien zum Opfer fällt. Vielleicht ist es aber auch anders herum? Der seriöse Journalismus wurde von der von Einfältigkeit geprägten Bevölkerung ausradiert. Zum anderen kann es zeitweilig gefährlich, ja sogar lebensgefährlich für die Journalisten werden, wenn sie eine eigene Meinung vertreten. Wir wollen die ermordeten russischen Journalisten der letzten Jahre und diejenigen, die mitten aus den Krisen- oder Kriegsgebieten berichten, nicht vergessen. Und dann gibt es den dritten Aspekt, den der freien und unkontrollierten, virtuellen Meinungsäußerung: das Internet.

Beweise, dass es für den Journalismus nicht gut steht, gibt es genug. Waren in den 70ern die Tageszeitungen mit den vielen Bildern bei einigermaßen gebildeten Menschen noch verpönt, zeigt sich heute, dass ohne Bildreportagen der Verkauf einer Zeitung zum Stillstand kommt.

Nun gibt es eine neue Form der Berichterstattung, die sich in den letzten Jahren ausgezeichnet hat: die Comicreportage. Mit dem Comiczeichner Art Spiegelman, der von 1972-1991 in „Maus. Die Geschichte eines Überlebenden“ (Maus. A Survivor’s Tale) die Geschichte seines Vaters, der Auschwitz überlebte, erzählte, wurde der Grundstein dieses Genres gelegt. Spiegelman erhielt für diesen herausragenden schwarz-weißen Undergroundcomix 1992 den Pulitzer Preis. Nach dem Terroranschlag 09/11 äußerte er sich folgendermaßen: „Well, the press is a fearful creature here. It's not that brave.”

Für diese etcetera Ausgabe mit dem Thema Feindbilder wurde der Journalist und Comiczeichner Joe Sacco gewählt. In seinem Vorwort zu „Palestine“ in einer Sonderausgabe aus dem Jahr 2007 von Fantagraphics Books beschreibt Sacco seine damalige verspürte Beschämung als Abgänger einer Journalistenschule, wie erbärmlich amerikanische Journalisten die Situation im Nahen Osten darstellten. Seine Erschütterung verursachte nahezu einen physischen Drang zu handeln und er entschied sich im Winter 1991/1992 nach Palästina zu reisen. Sacco bezeichnet sich selbst - bis zu dem Zeitpunkt als er zum ersten Mal seine vorgefasste Meinung über Israel in Frage stellte - als naiven Niemand. Er begann Zeitungen zu lesen, deren Informationen nicht amerikanischer Herkunft waren. Bücher wie Blaming the victims von Christopher Hitchens und The question of Palestine von Edward Said, aber vor allem Noam Chomsky mit The Fateful Triangle halfen ihm die Situation besser einzuschätzen. Später gab er den Print-Journalismus auf, weil er keinen befriedigenden Job finden konnte. So widmete er sich wieder seiner lebenslangen Leidenschaft, dem Comic-Zeichnen. Sacco zog nach Berlin und arbeitete an Comic-Büchern und Postern und versuchte davon zu leben. Die Idee, den Comic als Medium der Darstellung für die Berichterstattung zu nutzen, wuchs. Sogar illustrierte Menschenrechtsberichte und Gerichtsprotokolle schwebten ihm am Anfang seiner Euphorie vor. Schließlich sollte es ein illustrierter Reisebericht, ein Tagebuch seiner Erlebnisse der letzten Tage der ersten Intifada werden. Damals hatte Sacco keine konkrete Theorie darüber, was er später selbst als Comic-Reportage bezeichnete. Sacco scheut sich nicht auf schwerwiegende Kritik an seinem Werk zu verweisen: die ersten Zeichnungen von „Palästina“ waren in Big-Foot-Stil ausgefertigt, was als respektlos angesehen wurde. Aber vor allem wurde seine einseitige Darstellung des Nahost-Konflikts kritisiert, da er bewusst die ohnehin medial vertretene israelische Seite ausließ.

2009 erfolgte durch den Schweizer Verlag Edition der Moderne eine deutsche Neuauflage von „Palästina“. Der deutsche Journalist, Auslandskorrespondent und Kriegsberichterstatter Ulrich Tilgner verfasste hierzu das Vorwort: Mehr als Bild und Ton. Joe Saccos Zeichnungen haben ihn aufgewühlt, wie es kein Fernseh- oder Zeitungsbericht zustande gebracht hätte. „Es sind die Zeichnungen des sonst nicht Gezeigten, die beunruhigen.“, bekundet Tilgner und weist auf die Schonungslosigkeit in der Banalität der Texte hin. Gerade in dieser Kombination fühlt Tilgner die erschütternde Realität seiner eigenen Erfahrungen wieder aufflackern.

In der Tat scheint der psychologische Effekt der Comic-Reportage aufzugehen. Wenig Text verknüpft mit Bildern, die man eigentlich nur unbewusst beim Lesen wahrnimmt, da einem die Spannung weiterblättern lässt, vermitteln eine Nachrichtenübertragung in Zeitlupentempo. Immer wieder ertappt man sich dabei, bewusst inne zu halten und den Zwang zurückzublättern nachzugeben, um den Zeichnungen kontemplativen Respekt zu erweisen. Nur um den tatsächlichen psychologischen Aspekt dieses Genres zu verdeutlichen, sei meine Fahrt von Wien nach St. Pölten erwähnt. Als ich schließlich am Bahnhof ausstieg und durch die nächtlich nebelige und menschenleere Stadt nach Hause spazierte, musste ich mir tatsächlich vergegenwärtigen, dass ich mich nicht in Palästina befinde, ich nicht die Ausgangssperre missachtete, kein Scharfschütze auf einem Dach aus dem Hinterhalt auf mich zielte. Ich nichts zu befürchten hatte, mich in Sicherheit befand. Nie hatte etwas Gelesenes eine dermaßen starke und einprägsame Nachwirkung in mir entfaltet wie Joe Saccos Palästina. Mit ihm bin ich von Kairo nach Nablus im Norden des Westjordanlands, der so genannten West Bank, durch Straßensperren südwärts nach Jerusalem, ins Kidrontal, weiter ins Flüchtlingslager Kalandia, dann nach Ramallah bis nach Hebron im Süden gefahren. Er hat mich durch die palästinensischen Flüchtlingslager Nusseirat und Dschabaliya im Gazastreifen geführt, mit mir eine Tomatenplantage in Deir al-Balah und Gaza-Stadt besucht. Er hat mich von der unmöglichen Arbeitssituation der Palästinenser überzeugt, mir die Zustände in den Krankenhäusern, die unendlichen Missstände gezeigt: Hygienemangel, den Handelsboykott durch unmotiviert verhängte Ausgangssperren, die Kontrolle der Israelis über die Wasserressourcen, die ewigen Strom- und Heizungsausfälle, das Leben der Behinderten, der Kinder, der Schüler, die mit Steine bewaffnet gegen Schikanen israelischer Siedler vorgehen… Sacco erkundigt sich über die palästinensische Frauenbewegung und der traditionellen Körperbedeckung Hidschab. Aber vor allem geht es ihm darum, die Nicht-Einhaltung der Menschenrechte, die korrupte Justiz und Bürokratie, die Organisation in den Gefängnissen wie in Ansar III aufzuzeigen. Unweigerlich konfrontiert uns Sacco mit Zeichnungen von Foltermethoden des Shin-Bet, des israelischen Inlandsgeheimdienstes, wie wir sie erst 2004 durch die in die Öffentlichkeit geratenen Aufnahmen von Folterungen Gefangener im US-Gefängnis in Guantánamo kennen gelernt haben. Sacco interviewt unermüdlich Augenzeugen und geht schonungslos mit sich selbst um: „Aber wir wollen Gesichter, wir wollen Not, wir wollen Menschen hautnah, denen unerträgliches Leid zugefügt wurde … (ich jedenfalls will das […]) …“ (S. 61) „… und seien wir ehrlich, meine Comics brauchen Konflikte; mit Frieden ist kein Blumentopf zu gewinnen.“ (S. 78.) Sacco zeigt, wie Israelis methodisch vorgehen Palästinenser in die Flucht zu treiben, indem sie sie daran hindern, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, indem sie ihre Olivenbäume fällen, den Export ihrer Tomaten verhindern, Juden durch viele Vergünstigungen schmackhaft machen, sich auf besetzten arabischen Gebieten anzusiedeln und Palästinensern nachts den Schlaf zu rauben, sie aus ihren Häusern treiben und diese niederreißen. „Glauben Sie, Juden und Araber können je miteinander leben?“, fragt Sacco einen Palästinenser. „Wir können mit den Juden aus dem Osten, aus dem Iran, aus Nordafrika leben … aber mit den Juden aus Europa? Sie sind anders … Sie wollen immer oben sein, bestimmen, nehmen …“ antwortet dieser (S. 42). „In den besetzten Gebieten wimmelt es von Weltverbesserern, Menschenrechtsbewahrern, Nonnen, Quäkern und mit Klemmbrettern ausgerüsteten Juristen aus aller Welt, alle scharf darauf, Palästinenser mit Bergen von Dokumenten und Studien zu versorgen. (S. 61)

Saccos Bericht aus den Anfängen der 90er ist leider kein bisschen veraltet, zeigt die Ausweglosigkeit des Nahost-Konflikts. „Palästina“ gehört zur Pflichtlektüre. Die Fortsetzung „Footnotes in Gaza“ erschien 2009. Im deutschsprachigen Raum zeichnet sich der Schweizer Verlag Edition Moderne besonders mit Graphic Novels aus und sei daher jedem ans Herz gelegt. (www.editionmoderne.ch)

Joe Sacco
Geboren 1960 in Kirkop auf Malta. Lebte als Kind in Australien und kam mit 12 Jahren nach Portland in Oregon (USA). Nach seinem Studienabschluss in Journalismus an der Universität in Oregon 1981 widmete er sich den Comics. 1986 zog er nach los Angeles und wurde Mitarbeiter bei Fantagraphics Books, wo er am Comics Journal mitarbeitete und das satirische Magazin Centrifugal Bumble-Puppy gründete. Zwischen 1988 und 1992 reiste er durch die Welt und entwickelte seine eigene Comic-Buchreihe Yahoo. Im Winter 1991/92 reiste er für zwei Monate nach Israel und in die besetzten Gebiete. Von 1993-1995 erschien eine Serie von 24- bzw. 32-seitigen Heften unter dem Titel „Palestine“, die 1996 in zwei Bänden erschien und als deutsche Erstausgabe Palästina: Zweitausendundeins, Frankfurt/ Main 2004; Edition der Moderne, Zürich 2009, unter Genehmigung der Übersetzung von Waltraud Götting und Letterings von Gerhard Förster von Zweitausendeins. 1995/96 Aufenthalt in Bosnien/ Enklave Goražde. Safe Area Gorazde: The War in Eastern Bosnia 1992-1995, Fantagraphic Books, 2000. (Deutsche Ausgabe: Bosnien. Edition Moderne, Zürich 2010). 1998 verfolgte er die Jugoslawien-Prozesse am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Weiters erschienen: The Fixer. A Story from Sarajevo, 2003; Notes from a Defeatist, 2003; More Women, More Children, More Quickly, 2003; But I Like it, 2006. Footnotes in Gaza (Metropolitan Books) erschien 2009 als Fortsetzung von Palestine.

 

 

Palästina
Joe Sacco
Zürich: Edition Moderne, 2009, 288 S.
ISBN 978-3-03731-050-2

 

etcetera Nr. 43/ Feindbilder. Zwischen Barrikaden und Blockaden./ März 2011 mehr...

Künstlerportrait: Joe Sacco, der zeichnende Journalist in Palästina. Ingrid Reichel