Bruchlinien II: Wendelin Schmidt-Dengler. Rez.: Klaus Ebner

Klaus Ebner
Buchlinien II

 

Bruchlinien II
Wendelin Schmidt-Dengler

Vorlesungen zur österreichischen Literatur
St. Pölten: Residenz Verlag, 2012. 338 S.
ISBN 978-3-7017-3287-6

Im zweiten Teil der Sammlung Bruchlinien bespricht Wendelin Schmidt-Dengler die österreichische Literatur der Jahre 1990 bis 2008, wie er es in seinen Vorlesungen an der Universität Wien sowie in mehreren Rezensionen getan hat. Dabei wechseln sich theoretischere Kapitel mit jenen ab, in denen ein bestimmtes Werk eines Autors besprochen wird. Vor allem die theoretischen Kapitel dienen dazu, die Verbindung der literarischen Produkte aufzuzeigen, die Intertextualität, wie Schmidt-Dengler das nennt, die im Endeffekt wohl das Wesen der österreichischen Literatur ausmacht: »Ich möchte versuchen, die Besonderheiten der österreichischen Literatur empirisch an vier Autoren vorzuführen, deren Schriften, wenn man so sagen kann, untereinander verwoben sind, die einen vitalen österreichischen Intertext ergeben, wenngleich dies nicht nach dem einfachen Modell von wechselseitiger Abhängigkeit nach dem Muster eines Stammbaumes sich vorführen läßt.«

Verglichen mit dem ersten Band der Bruchlinien scheint die Auswahl diesmal deutlich enger zu sein, es kommen auf den ersten Blick weniger Autoren zum Zug, und etliche bespricht Schmidt-Dengler gleich mehrfach. Vor allem fällt auf, dass die meisten der Autoren, die behandelt werden, spätestens in den 1980er Jahren bekannt wurden. Das mag einerseits etwas schade anmuten, andererseits zeigt Schmidt-Dengler natürlich die Kontinuität in der Literatur und die Wandlung der Themen auf, die bei manchen Schriftstellern durchaus zu beobachten ist.

Viel Raum nehmen Thomas Bernhard, Peter Handke, Elfriede Jelinek, Christoph Ransmayr und Werner Kofler ein, die alle bereits im ersten Sammelband der Vorlesungen vorkamen. Dabei beschränkt sich Schmidt-Dengler keineswegs nur auf eine einzige Literaturgattung, sondern betrachtet die erzählende Prosa ebenso wie das Theater und die Lyrik. Allein der literarische Essay wird selten gestreift. Natürlich dürfen auch Namen wie Werner Schwab, Wolf Haas, Franzobel, Peter Rosei, Eva und Robert Menasse, Marlene Streeruwitz und Olga Flor nicht fehlen.

Thomas Bernhard ist laut Schmidt-Dengler jener Autor, der außerhalb des Literaturbetriebs für das meiste Echo gesorgt hat und der schon allein deshalb eine ganz außerordentliche Rolle spielt. Bernhards letzter und umfangreichster Roman ist Gegenstand eines der ersten Buchkapitel. Den inhaltlichen Zusammenhang sieht er vor allem bei Bernhard, Handke, Ransmayr und Kofler, und gleich anschließend geht Schmidt-Dengler auf die Rolle der österreichischen Geschichte bzw. Zeitgeschichte in der Literatur ein. Robert Schindels Roman Gebürtig dient als wichtiges Beispiel, aber auch die Werke von Gerhard Roth, Josef Haslingers Roman Opernball und Christoph Ransmayrs Morbus Kitahara.

Als Essayisten behandelt Schmidt-Dengler den Salzburger Karl-Markus Gauß, von dem es inzwischen eine Menge nennenswerter Bücher gibt. Die Bruchlinien gehen näher auf Ritter, Tod und Teufel ein, und hier heißt es über Gauß: »Er übt sich in den Tugenden des guten Essayisten; so bietet er prägnante Beispielerzählungen, wartet freundlich mit einer kleinen Kindheitserinnerung auf, zitiert jene, die sich gerne zitiert hören, aber sicher nicht immer froh sein werden, wenn sie so zitiert werden, nähert sich dem Thema elegant von verschiedenen Seiten und läßt sich kein Paradox entgehen, um sichtbar zu machen, wie schwer es ist, den hoffnungslos verfahrenen Karren weiterzubewegen.«

Schmidt-Dengler sieht eine Art Wendepunkt in den Ereignissen des Jahres 2000. Bereits in der Einleitung stellt er zwar klar, dass seine Vorlesung keineswegs bloß unter einem politischen Standpunkt stattfinden werde, doch er meint, dass die österreichische Literatur nach diesem politischen Wechsel eine andere und wohl deutlich politischere sei: »Es liegt mir ferne, daraus nun eine Diskussionsrunde über die gegenwärtige parlamentarische Situation in Österreich zu machen, dazu bin ich fürwahr nicht berufen, sehr wohl aber geht es mir darum zu zeigen, wie das kritische Sensorium der meisten Autoren das vorgezeichnet hat, was nun an der Tagesordnung ist.« Die österreichischen Schriftsteller bezeichnet er als »politische Intelligenz«, die von der Politik nicht so einfach ignoriert werden könne. Denn »(...) die Autoren haben in unserer Mediendemokratie eine Funktion in der Öffentlichkeit, die, mag sie auch abschätzig beurteilt werden, doch das Widerlager zu jeder veröffentlichten Doktrin dazustellen hat.«

Elfriede Jelineks Nobelpreisrede von 2004 hält Schmidt-Dengler für »einen der wichtigsten poetologischen Texte, den es in der deutschsprachigen Literatur gibt.« Natürlich beschäftigt sich der bekannte Germanist mit dem Formalen und Formalismen, mit der Ausgestaltung der Sprache, deren zentrale Rolle er durchaus für ein Merkmal der österreichischen Literatur hält. Das trifft auf Jelinek ebenso zu wie auf Josef Winkler, dessen Werk Natura morta das Buch behandelt, aber auch auf Kathrin Röggla, eine der »Entdeckungen der letzten zehn Jahre«, und Marlene Streeruwitz.

In einer Literaturbetrachtung der letzten Jahre dürfen die Erfolgsbücher von Daniel Kehlmann und Michael Köhlmeier nicht fehlen. Dabei hebt sich die kritische Analyse des Riesenromans Abendland angenehm von den quasi gleichgeschaltet daherkommenden Feuilletonbeweihräucherungen ab. Zur Darlegung der Erzählpositionen – Lukasser als Referent von Candoris' Lebensgeschichte – heißt es: »Ein nicht sehr origineller, aber durchaus brauchbarer Trick, ein Erzählwerk in Gang zu bringen, das – und so sind wir es bei Köhlmeier gewohnt – einem funktionierenden perpetuum mobile gleicht.« Und ein Stück weiter sagt er: »Um als Erzähler das Thema „Abendland“ in den Griff zu bekommen, mußte diese Materialschlacht geschlagen werden, und so spannend und interessant auch die einzelnen Abschnitte sein mögen, man wird den Eindruck nicht los, daß es sich oft um feuilletonistisch brillant hergestellte Fertigteile handelt.«

Fast jedes Kapitel taucht, wenngleich in geraffter Form, in das Werk eines bestimmten Schriftstellers ein. Als Leser bekommt man eine Vorstellung vom Inhalt, und über Zitate, durchaus auch längere, kann man in das jeweilige Buch ein wenig eindringen. Auf jeden Fall machen die verschriftlichten Vorlesungen des Professors Lust auf mehr und Lust aufs Lesen. Wer den langjährigen Vorstand des Wiener Germanistikinstituts persönlich gekannt hat, weiß, dass dieser unter anderem auch genau dies erreichen wollte.

Der Residenz-Verlag hat die beiden Bücher gewohnt ästhetisch gestaltet; beide weisen eine identische grafische Umschlagsgestaltung auf, wobei beim ersten Band das Blau dominiert, mit wenigen Elementen in Gelb, und beim zweiten Band verhält es sich genau umgekehrt. Der Autor hat anscheinend von der alten Rechtschreibung nie abgelassen, und daher wurden auch die Bruchlinien in dieser Orthografie gesetzt.

Die in diesem Buch gesammelten Vorlesungen waren vom Autor (noch) nicht zur Publikation gedacht. Dass sie trotzdem erscheinen konnten, ist Johann Sonnleitner und anderen Wegbegleitern des Professors zu danken. Wendelin Schmidt-Dengler wurde als erster Geisteswissenschaftler und Philologe 2007, also ein Jahr vor seinem verfrühten Tod, als Wissenschafter des Jahres ausgezeichnet. Wer seine Texte zur österreichischen Literatur in den beiden Bänden Bruchlinien liest, versteht wohl, warum.

LitGes ungekürzte Version. Kurzversion im etcetera Nr. 50/ Wozu Literatur?/ November 2012