Edgar. Rez.: Peter Kaiser

Peter Kaiser
MAGIC AND LOSS

 

© Ernst Hesse

 
EDGAR
Festspielhaus St. Pölten, Box
15.04.2011, 19.30 Uhr
Regie und Performance: Claudia de Serpa Soares, Grayson Millwood
Publikumsgespräch im Anschluss

Edgar ist ein wunderbares Stück Tanz- und Bewegungstheater im Wortsinn und ein Stück für Kinder und Erwachsene gleichermaßen. Als Kinderstück zeigt es vor allem, was man Kindern gegenüber nicht darf: sie unterfordern. Deren Fantasie anzuregen und ihre Aufmerksamkeit zu fesseln, schaffen die beiden Regisseure und Darsteller in Personalunion mit Leichtigkeit. Der Beweis: trotz der Hälfte Kinder unter zehn Jahren im Publikum, ist es während der Aufführung mucksmäuschenstill - von gelegentlichen Ausrufen des Erstaunens abgesehen; aber diese können auch von Erwachsenen stammen.

Erwachsene ihrerseits können die teilweise atemberaubende Performance genießen oder sich von der absurden Komik zum Reflektieren anregen lassen. Claudia de Serpa Soares und Grayson Millwood scheinen sich vielleicht nicht ganz unbewusst zum Beispiel von Samuel Becketts Endspiel Inspirationen geholt zu haben.

Am Anfang war die Essiggurke. Ein unförmiger Mann, welcher augenscheinlich eine Vorliebe für dieses Essiggemüse besitzt, bekommt vier Hände um Origami zu betreiben und gebiert schließlich nicht ohne Geburtswehen ein zweites Ich aus sich heraus: einen hassgeliebten Zwilling. Mit diesem nun werden Kämpfe um Trennung und (Wieder-) Verschmelzung ausgefochten. Man verbirgt sich zwischen Kartonhäusern, sperrt sich ein, aber entkommt dem eigenen ICH nicht.

Die Essiggurke, welche als absurder roter Faden durch das Stück führt (und welche ab sofort zur Lieblingsspeise der zusehenden Kinder mutiert), wird schließlich auch namensgebend für eine Jahrmarkt-Show, wie sie nur in der Zeit vor dem fantasieverschlingenden Kino möglich war: The Amazing Pickle Show – Magic And Miracles. In ihr kommt die beinahe somnambule Bewegungskunst und Akrobatik der Darsteller erneut atemberaubend zum Ausdruck.

Im anschließenden Publikumsgespräch erklärt Millwood, welcher dem FSH-Publikum noch von der außergewöhnlichen Produktion Lawn der Splintergroup in Erinnerung ist, dass es zwei Dinge gewesen seien, welche sie beide zur Umsetzung gereizt hätten. Zum einen ein Faible für Magie, zum zweiten der exorbitante Größenunterschied der beiden. Vor allem im zweiten Fall scheinen sie auch tatsächlich an die Grenzen des Möglichen zu gehen.

Edgar zeigt in seiner Attraktivität für Kinder und Erwachsene, wie wir alle der Anregung unserer Fantasie bedürfen, um die in uns schlummernden und vor der Realität verschlossenen Reiche betreten zu können. Bei den Kinder lauern diese noch knapp unter der Alltagsallüre; bei uns Erwachsenen sei auf Lou Reeds Magic and Loss verwiesen.

Da bleibt nur zu rufen: Es lebe die Essiggurke!

Grayson Millwood wurde in Australien geboren und ist Mitbegründer der Splintergroup. Claudia de Serpa Soares wurde in Lissabon geboren. Beide sind Mitglieder des Ensembles von Sascha Waltz in Berlin. Edgar entstand 2007 in Freiburg und steht im FSH zum zweiten Mal auf dem Programm.

Mehr Kritiken aus der Kategorie: