Fette Männer im Rock: Nicky Silver. Rez.: Alois Eder
Alois Eder
EINGESPRUNGENE KANNIBALISTISCHE ÖDIPUS-PIROUETTEN
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Fette Männer im Rock
Nicky Silver
NÖ Landestheater St. Pölten, Theaterwerkstatt
Première: 25.02.06, 19:30 Uhr
Regie: Dora Schneider
Warum das 1988 uraufgeführte Stück des Broadway-Autors Nicky Silver Fat Men in Skirts heißt, entschlüsselt sich dem Zuschauer nicht wirklich, es straft vielmehr den behäbigen Klang Lügen, indem es sich als eine Art Pas de deux für vier virtuose Schauspieler entpuppt, mit eingesprungenen Ödipus-Pirouetten als Attraktionen dazwischen ...
Immerhin erlaubt die schwarztragische Farce die Quadratur des Kreises, eine Premiere vom Faschingsamstag über den Aschermittwoch hinaus ins Repertoire zu retten. Am ehesten führt noch der kulinarisch Anklang auf die richtige Fährte, denn Fett schwimmt bekanntlich oben, auch wenn der Mensch auf der Speisekarte steht. Aber so ganz kannibalisch wohl wirds auch den Überlebenden eines Flugzeugabsturzes nicht, von denen man nie erfährt, ob sie in den unfreiwilligen fünf Robinsonjahren auch das Feuer in Dienst genommen haben.
Man sieht den anfangs elfjährigen Bishop Hogan, den seine Mutter nach dem Vorbild eines Anden-Flugzeugabsturzes im Jahr 1872 anleitet, sich der verstorbenen Mitpassagiere gegen den Hunger zu bedienen, immer nur mit blutverschmiertem Mund. Mirko Roggenbroich spielt den schließlich zu einem jungen Monster herangewachsenen Sohn eines Regisseurs so naturalistisch wie möglich; - wie lange an einem eher tropischen Sandstrand ohne schützende Gletscherkälte die menschlichen Fleischvorräte reichen, lässt sich allerdings nicht sagen.
Es geht offenbar nicht um naturalistische Akkuratesse, sondern um die Effekte, auch, wenn der junge Robinson nun noch zum Liebhaber seiner von Cornelia Köndgen mit durchdringender Präsenz gespielten Mutter aufsteigt. Sonst wären auch Rückblenden in die Erinnerung der handelnden Personen oder in die Gegenwart des fernen Vaters (Wolf Aurich), der sich mit einem von Karin Stuflesser höchst glaubwürdig gespielten Filmflittchen getröstet hat, nicht angesagt.
In der Pause dürfen Wetten abgegeben werden, wie es weitergeht, und St. Pöltens Dramatiker Dr. Stingl sieht sich als Industriespion der ersten Reihe nicht in der Lage, aus dem Stück Gewinn für eigene dramatische Pläne zu ziehen, wobei es sich etwa um eine Robinsonade am Ratzersdorfer Badesee oder um die Verwertung auf der Rutsche der neuen Aqua-City eingebüßter Körperteile bei einem kannibalischen Grillbuffet handeln könnte ...
Die zwei restlichen Akte, nach der Rückkehr spielend, spitzen, soviel sei verraten, die Familiensituation noch mehr zu, bis sowohl der zögerliche Vater und sein Liebchen, als auch die gänzlich ihrem Schuh-Fetischismus verfallenden Phyllis zum Opfer ihres Monster-Sohnes werden, der zum Schluss interniert in einem Irrenhaus eine - zuletzt versöhnliche? - Rückschau halten darf. Da war aber ein kleiner Teil des Premierenpublikums den akustischen wie den Krassheiten des Anblicks blutiger Gliedmaßen bereits entflohen. Witze, in Panik verwurzelt, wie der Autor es im Programmheft ausdrückt, sind offenbar noch nicht jedermanns Sache.
Wobei der Ausstattung wohl jene ebendort zu bewundernden, auch von Defoe verwendeten frühkolonialistischer Kupferstiche von Menschenfresser-Mahlzeiten zur Anregung gedient haben, die inzwischen von den Ethnologen ebenso angezweifelt werden wie der im Suppenkessel siedende Missionar späterer Zeitläufte: Eher Propaganda-Material der Zivilisationsrolle der Europäer als Schnappschüsse irgendeiner Wirklichkeit. Das freilich haben sie mit dem Stück Nicky Silvers gemein: es geht hauptsächlich um die schaurigen Effekte, und zu deren Herausarbeitung sowie zum frenetischen Schlussapplaus kann man der Theaterwerkstatt der Landeshauptstadt nur gratulieren.