27. Philosophicum Lech 17. - 22. Sept. 2024
Philosophicum Dialoge I: „Wie ist die Lage?“
Claudia Paganini und Andreas Rödder.
Moderation: Martin Haidinger
Claudia Paganini als Sprachphilosophin betonte, dass die Stabilität über Worte anstrengend und bedroht sei. Außerdem muss man gerade bei der Klimakrise zwischen Warnruf und politischer Sachdarstellung unterscheiden. Zitat: „Die Klimakrise komme nämlich weit hinten bei den Sorgen der Menschen, weil es etwa Abstraktes ist.”
Außerdem bringen punkto KI neue Medien immer eine Krise, „denn es herrscht kein Vertrauen in die Mediennutzung.” Allerdings „Krisen sind nicht nur negativ, sondern bringen Neues, ev. Karrieresprung.“
Andreas Rödder stellt fest, dass die KI heute eine Medienrevolution wie 1914 punkto Auto, Telegraph, Flugzeug etc. darstellt. „Seit den Olympischen Spielen 1896 gilt: Höher – schneller – weiter.” Er fährt fort: Die USA sind in der Krise. Wie soll sich Europa verhalten? „Polarität ist notwendig, Polarisierung nicht!” Und: „Die transatlantische Solidarität ist ein MUSS!„
„Die westliche Gesellschaft hat die größte Freiheit!” Claudia Paganini meint bezüglich des Klimas geht es um souveräne Individuen, die ausverhandeln.
Eva Riebler
Philosophicum Dialoge II: „Was ist zu tun?“
Sabine Müller-Mall und Jonas Lüscher
Moderation: Catherine Newmark
Die Diskussion und vor allem Moderation war sehr seicht bzw. leicht verständlich, da Newmark für die Philosophie-Sendung des Deutschland Funk Stein und Streit aufnahm.
Allgemeines über: was heißt es etwas zu tun? Wo beginnt das Tun? Ist Denken Tun?
Anschließend stellte Müller-Mall fest, dass die mittel wichtig sind und Lüscher sprach über die Rechtspopulisten und ihre Methoden und die Resentiments, die durch Afront entstehen.
Sowie, dass „Ich habe meine Meinung – du hast deine, ist kein politisches Denken!“
Alles in Allem ein flacher „Na No Na Ned-Dialog“!
Eva Riebler
Philosophisch-Literarischer Vorabend
„Es knistert im Gebälk der Gesellschaft”
Michael Köhlmeier u. Conrad Paul Liessmann
Drei mehr oder minder apogryphe Texte von Köhlmeier auf die Liessmann reflektierend erläutert.
Der erste Text befasst sich mit der Entstehung des ersten Menschen Adam und der Hinabstoßung zweier Engel in die Hölle.
Liessmann betont, dass laut Augustinus Gott vorerst die Hölle, bevor er Himmel und Erde schuf. Dass es Freiheit bedeutet, zu wissen, ich (Adam?) habe jetzt eine Möglichkeit mit dem Ungewissen zu operieren. Der Urstörfall war es, das Paradies verlassen zu müssen und sterblich zu sein.
Der zweite Text Köhlmeiers war die Erzählung über den lieben Augustin zur Zeit der Pest 1679 in Wien nach dem Motto seines Refrains ‚Lustig gelebt, lustig gestorben ist dem Tod die Rechnung verdorben.”
Liessmann analysiert, der Tod ist die Figur, die dem Menschen die Lust nimmt. Damals verhandelte der liebe Augustin, indem er in Dur spielte, was der Tod auf seiner Fidel nicht konnte. 60 Jahre davor hätte es die Unterscheidung zwischen Moll und Dur noch gar nicht gegeben, also hat Köhlmeier die Jahreszahl gut gewählt. Die Musik überwindet den Tod bzw. ‚Alle Kunst isst ägyptisch” d. h. das Einbalsamieren, die Mumie überschreitet die Endlichkeit wie der Dudelsack, der vom Augustin in Dur gespielt wird.
Heute verhandelt der Mensch mit dem Tod mittels den Erfindungen der Medizin.
Die dritte Erzählung war ebenfalls von Köhlmeier bei früheren Philosophisch-Literarischen Abend bereits theaterwirksam erzählt worden. Die Geschichte der traurigen Magd, die nur lachen kann, wenn Böses geschieht. So stiftet sie eine Magd an, Seifenpulver in den Kartoffelbrei zu geben, eine andere Rizinusöl in den Most, die Bauerstocher die Scheune anzuzünden und die Bäuerin ihr den Hengst zu geben, um ihn tot zu reiten.
Die Antwort Liessmanns: Es ist die Pflicht oder ein Muss „Nein“ zu sagen.
Wie immer ein amüsanter Abend, den auf Grund der durch die Hochwasserkathastrophe gestörten Zugsverbindungen noch nicht alle Besucher aus dem Großraum NÖ und Wien mitverfolgen konnten.
Eva Riebler
Eröffnungsvortrag mit Barbara Bleisch der Co-Intendantin des Philosophicum Lech.
„Sand im Getriebe. Eine Philosophie der Störung”
Ihr Einführungsvortrag war sehr umfangreich, spannend, vielseitig und kompetent.
Einige Happen: Die Realität holt uns ein. Die Störung als Phänomen. Erlaubt ist, was nicht stört.
Die Störung wird in der Repetition sehr störend. Sokrates empfand den Willen zur Störung im Sinne von Fortschritt. Friedrich Nietzsche sprach: „Ich bin Dynamit.“ Oft stört jemand in öffentlichen Verkehrsmitteln durch lautes Telefonieren. Darf man ihm dann eine Frage stellen, wenn man doch nicht alles mitbekommen hat? Usw. Jedenfalls gilt: Die Demokratie braucht Störenfriede!
Eva Riebler
Störenfriede - Dunkelmänner oder Lichtgestalten?
Dieter Thomä (St. Gallen)
Dieter Thomä untersucht in seinem Vortrag die Figur des sogenannten puer robustus (p.r.) - wörtlich für kräftiger Knabe - bzw. des Störenfrieds, der sich gegen die herrschende Autorität auflehnt, aneckt, aufbegehrt und sich nicht scheut auch mal zuzuschlagen. Gerade deshalb spielt er eine zentrale Rolle in vielen gesellschaftlichen Entwicklungen.
Bei Thomas Hobbes verfolgt der p.r. rücksichtslos seine eigenen egozentrischen Absichten. Regelbrüche gegen gesellschaftliche Konventionen sind dabei nicht ausgeschlossen, sondern die Regel. Doch ist banales Eigeninteresse immer das Motiv des Störenfrieds? Hat nicht vielmehr die Gesellschaft ihn zu einer Randfigur geformt, die er im Grunde gar nicht sein will und die ihn in seiner Reaktion zum Exzentriker werden lassen?
Wir haben es hier schon eher mit einem konstruktiv Störenden zu tun. Für John Stuart Mills waren diese exzentrischen Störenfriede (z.B. Künstler) gar das Salz der Erde! Jean Jacques Rousseau wiederum deutet die physische Gewalt von Hobbes' p.r. um in eine intellektuelle Eigenschaft.
Statt Egozentrik steht Gerechtigkeitssinn im Mittelpunkt mit dem Zweck politischen Körper oder Institutionen zu reformieren oder zu verbessern.
Dieter Thomä spricht hier vom nomozentrischen p.r. Als Beispiele mögen hier die Klimakleber oder Edward Snowdon dienen. Beide versuchten soziale bzw. politische Ordnungen herauszufordern und zu verändern (mit mehr oder weniger Erfolg).
Störenfriede sind also unverzichtbar in vielen Belangen unseres Zusammenlebens. Insbesondere wo geschlossene Systeme wie Filterblasen oder Echokammern sich in ihrer eigenen, selbstbestätigenden Welt gegen Einflüsse von außen abzuschotten versuchen, kann eine zielgerichtete Störung ihrer Stagnation entgegenwirken.
Jürgen Riedler
Verleihung des 17. TRACTATUS an den Philosophen und Sprachwissenschaftler
Philipp Hübel unter Mitwirkung des Trios Tractaticus
Den Tractatus 2024 – des mit 25.000 Euro dotierten Essay-Preises erhält dieses Jahr der deutsche Philosoph Philipp Hübl für sein Buch „Moralspektakel. Wie die richtige Haltung zum Statussymbol wurde und warum das die Welt nicht besser macht.“ Laut Jury-Begründung gelingt ihm „mit einer empirisch tiefer gelegten Anthropologie eine erfrischend kalte Dusche für die moralisch überhitzten Diskurse der vergangenen Jahre: eine wohltuende, zur allgemeinen Abrüstung einladende Ernüchterung“. Hübl erklärt, er habe sein Buch „als radikale Selbstkritik formuliert.
Das passt auch zum Konferenzthema. Philosophen sollten nicht nur den Sand im Getriebe der Gesellschaft aufspüren, sondern auch den im eigenen Getriebe“
Das Thema heuer setzt sich ja mit dem ambivalenten Charakter von Störungen aller Art auseinander und lotet auch aus, inwieweit der Philosophie selbst eine solche Funktion zukommt –etwa im Sinne eines Störmoments, das zu überraschenden, womöglich unbequemen und nicht zuletzt umwälzend neuen Erkenntnissen führt. Dieser Aspekt wird auch bei der Vergabe des Tractatus honoriert.
Bei seiner Dankensrede stellte Hübl sich zu Beginn gleich selbst als moralisch moderner Vater vor, indem er von seinem Windelwechseln seiner kleinen Tochter auf der Damentoilette berichtete. Warum gibt’s auf der Herrentoilette keine Windelablage? – Damit hatte er die volle Aufmerksamkeit des kritischen Publikums und das Thema „Moralspektakel“ angerissen. Die Moral ist schließlich ein Mittel im Kampf um Status und Anerkennung!
Das vergisst ein Anthropologe nie! Die moderne Philosophie denkt und streitet um rein geisteswissenschaftliche Dinge, während Hübl sich auch mal „die Hände schmutzig macht“ und am Boden des Alltags und der Realität verweilen will. Er entlarvt das Bestreben der meisten Menschen mehr scheinen als sein zu wollen. Jedoch gilt sein Wort:
Die Philosophen sollten nicht nur den Sand im Getriebe der Gesellschaft aufspüren, sondern auch den im eigenen Getriebe.“
Es war eine sehr erfrischende Rede und überaus begeisternd war die Darbietung des Streich-Trio-Zyklus des vielseitigen und vielfach prämierten Vorarlberger Komponisten Marcus Nigsch! Ich hätte mir dieses kompetente, moderne Trio auch zur Eröffnung am Vortag gewünscht!
Eva Riebler
Philipp Hübl studierte Philosophie und Sprachwissenschaft in Berlin, Berkeley, New York und Oxford. Er lehrte Theoretische Philosophie an der RWTH Aachen, der Humboldt-Uni Berlin u. Uni Stuttgart. War Gastprof. für Phil. u. Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin. Er ist Autor des Bestsellers Folge dem weißen Kaninchen (2012), Bullshit-Resistenz (2018), Die aufgeregte Gesellschaft (2019), Moralspektakel (2024) usw.
Rahmenprogramm am 19.9.24
„Philosophieren am Berg“
Svenja Flaßpöhler und Dieter Thomä
Gingen der Frage nach: Ist Trump ein Störenfried oder ein Zerstörer? Welche Mittel sind Trump recht?
Gibt es einen Störer, wenn es nur einen Scheinfrieden gibt?
Philosophische Betriebsstörung. Skepsis, Dadaismus und Postmoderne
Lambert Wiesinger (Jena)
Unter den Philosophen gibt es Anhänger des Wissens und solche des Nicht-Wissens. Zu letzteren gehören die Zweifler, die Skeptiker. Mittels der Attribute universell/partiell und absolut/relativ können vier Formen von Skepsis unterschieden werden. Uns interessiert insbesondere die radikalste Variante: die universell-relative Skepsis.
Sie ist wie folgt charakterisiert: zur Zeit kann ich selbst von keiner Meinung die Wahrheit begründen.
Die pyrrhonische, die dadaistische, sowie die postmoderne Skepsis sind entsprechende Ausformungen davon. Alle drei beschreiben im wesentlichen einen Geistes- bzw. Gemütszustand. Ihnen gemein ist ihr universeller Umfang („Alles ist unerkennbar", „Es gibt keine letzte Wahrheit", „Es gibt keine Wahrheit, keine Referenz und keinen objektiven Grund mehr") sowie die rigorose Gültigkeit gegenüber der eigenen Meinung und die Entstehung durch Widerstreit der nicht aufgelöst wird. Im Fall der pyrrhonische Skepsis wird nicht mehr argumentiert, sondern Meinungen gleichwertig gegenübergestellt: Isosthenie. Beim Dadaisten Kurt Schwitters heißt es sogar „Alles stimmt, aber auch das Gegenteil" und mit Paul Feyerabends „Anything goes!" (Against Method: Outline of an Anarchistic Theory of Knowledge) wäre ein Beispiel aus der Postmoderne zu nennen.
Daß der Schritt von Widerstreit zu den berüchtigten 'alternative facts' heutzutage kein großer ist, ist anhand der republikanischen Interpretation der Zuschauerzahlen bei der Inauguration der US-Päsidenten Barack Obama und Donald Trump ersichtlich. Auf die Spitze trieb man die Skepsis mittels Sprachkonstruktivismus. Jacques Derridas „Ein Text-Äußeres gibt es nicht" deutet die Welt als bloße sprachliche Konstruktion - ohne Sprache ist nichts definiet!
Jürgen Riedler
Störfall Skeptizismus: Begrüßen, bekämpfen oder ignorieren?
Geert Keil (Berlin)
Geert Keil beginnt mit folgender Prämisse: Wissen kann nur garantiert werden wo es keine Möglichkeit eines Irrtums gibt (p1). Nun sind Menschen in ihren Erkenntnisbemühungen fehlbare Wesen, ja Fehlbarkeit gehört geradezu zur conditio humana. Wir besitzen leider auch nicht die Fähigkeit, unsere Annahmen so zu prüfen, daß jeder mögliche Irrtum ausgeschlossen wäre. Diese These über die Begrenztheit des menschlichen Erkenntnisvermögens definiert den sog. Fallibilismus.
D.h. nach menschlichem Ermessen sind Irrtümer nie völlig ausgeschlossen (p2). Der radikale Wissensskeptiker schließt daraus: Menschen wissen nichts.
Eine Erklärung der menschlichen Fehlbarkeit durch die Aufzählung von bestimmten Irrtums- oder Täuschungsquellen (Wahrnehmungstäuschungen, Attrappen, Unzuverlässigkeit der Erinnerung, Fehlschlüsse, kognitive Verzerrungen, Ununterscheidbarkeit vom Traum und Wirklichkeit) zäumt aus fallibilistischer Sicht das Pferd von hinten auf. Was eine besondere Quelle bräuchte, wäre eine Wahrheitsgarantie, nicht das Fehlen einer solchen. Wahrheitsdetektoren existieren aber nicht!
Wahrheit ist auch nicht das, was wir sicher treffen, wenn wir nach allen Regeln der Kunst Wissenschaft betreiben. Wahrheit ist das, was wir verfehlen können, obwohl wir gut begründete Überzeugungen haben. Wissenschaft ist nichts als die selbstkorrigierende Praxis der methodischen, ergebnisoffenen, fehlbaren Erkenntnissuche.
Die hierzulande verbreitete Wissenschaftsskepsis hat sich jedoch oft von ihrer gesunden Ausprägung hin zur Verschwörungstheorie entfernt, indem Szenarion ausgedacht werden die definitionsgemäß gar nicht überprüfbar sind.
Jürgen Riedler
weitere Infos stets: www.philosophicum.com