Philosophie

27. Philosophicum Lech 17. - 22. Sept. 2024

Eva Riebler

Philosophicum Dialoge I: „Wie ist die Lage?“
Claudia Paganini und Andreas Rödder.
Moderation: Martin Haidinger

Claudia Paganini als Sprachphilosophin betonte, dass die Stabilität über Worte anstrengend und bedroht sei. Außerdem muss man gerade bei der Klimakrise zwischen Warnruf und politischer Sachdarstellung unterscheiden. Zitat: „Die Klimakrise komme nämlich weit hinten bei den Sorgen der Menschen, weil es etwa Abstraktes ist.”
Außerdem bringen punkto KI neue Medien immer eine Krise, „denn es herrscht kein Vertrauen in die Mediennutzung.” Allerdings „Krisen sind nicht nur negativ, sondern bringen Neues, ev. Karrieresprung.“
Andreas Rödder stellt fest, dass die KI heute eine Medienrevolution wie 1914 punkto Auto, Telegraph, Flugzeug etc. darstellt. „Seit den Olympischen Spielen 1896 gilt: Höher – schneller – weiter.” Er fährt fort: Die USA sind in der Krise. Wie soll sich Europa verhalten? „Polarität ist notwendig, Polarisierung nicht!” Und: „Die transatlantische Solidarität ist ein MUSS!„
„Die westliche Gesellschaft hat die größte Freiheit!” Claudia Paganini meint bezüglich des Klimas geht es um souveräne Individuen, die ausverhandeln.
Eva Riebler

 

Philosophicum Dialoge II: „Was ist zu tun?“
Sabine Müller-Mall und Jonas Lüscher
Moderation: Catherine Newmark

Die Diskussion und vor allem Moderation war sehr seicht bzw. leicht verständlich, da Newmark für die Philosophie-Sendung des Deutschland Funk Stein und Streit aufnahm.
Allgemeines über: was heißt es etwas zu tun? Wo beginnt das Tun? Ist Denken Tun?
Anschließend stellte Müller-Mall fest, dass die mittel wichtig sind und Lüscher sprach über die Rechtspopulisten und ihre Methoden und die Resentiments, die durch Afront entstehen.
Sowie, dass „Ich habe meine Meinung – du hast deine, ist kein politisches Denken!“
Alles in Allem ein flacher „Na No Na Ned-Dialog“!
Eva Riebler

 

Philosophisch-Literarischer Vorabend
„Es knistert im Gebälk der Gesellschaft”
Michael Köhlmeier u. Conrad Paul Liessmann

Drei mehr oder minder apogryphe Texte von Köhlmeier auf die Liessmann reflektierend erläutert.
Der erste Text befasst sich mit der Entstehung des ersten Menschen Adam und der Hinabstoßung zweier Engel in die Hölle.
Liessmann betont, dass laut Augustinus Gott vorerst die Hölle, bevor er Himmel und Erde schuf. Dass es Freiheit bedeutet, zu wissen, ich (Adam?) habe jetzt eine Möglichkeit mit dem Ungewissen zu operieren. Der Urstörfall war es, das Paradies verlassen zu müssen und sterblich zu sein.
Der zweite Text Köhlmeiers war die Erzählung über den lieben Augustin zur Zeit der Pest 1679 in Wien nach dem Motto seines Refrains ‚Lustig gelebt, lustig gestorben ist dem Tod die Rechnung verdorben.”
Liessmann analysiert, der Tod ist die Figur, die dem Menschen die Lust nimmt. Damals verhandelte der liebe Augustin, indem er in Dur spielte, was der Tod auf seiner Fidel nicht konnte. 60 Jahre davor hätte es die Unterscheidung zwischen Moll und Dur noch gar nicht gegeben, also hat Köhlmeier die Jahreszahl gut gewählt. Die Musik überwindet den Tod bzw. ‚Alle Kunst isst ägyptisch” d. h. das Einbalsamieren, die Mumie überschreitet die Endlichkeit wie der Dudelsack, der vom Augustin in Dur gespielt wird.
Heute verhandelt der Mensch mit dem Tod mittels den Erfindungen der Medizin.
Die dritte Erzählung war ebenfalls von Köhlmeier bei früheren Philosophisch-Literarischen Abend bereits theaterwirksam erzählt worden. Die Geschichte der traurigen Magd, die nur lachen kann, wenn Böses geschieht. So stiftet sie eine Magd an, Seifenpulver in den Kartoffelbrei zu geben, eine andere Rizinusöl in den Most, die Bauerstocher die Scheune anzuzünden und die Bäuerin ihr den Hengst zu geben, um ihn tot zu reiten.
Die Antwort Liessmanns: Es ist die Pflicht oder ein Muss „Nein“ zu sagen.
Wie immer ein amüsanter Abend, den auf Grund der durch die Hochwasserkathastrophe gestörten Zugsverbindungen noch nicht alle Besucher aus dem Großraum NÖ und Wien mitverfolgen konnten.
Eva Riebler

 

Eröffnungsvortrag mit Barbara Bleisch der Co-Intendantin des Philosophicum Lech.
„Sand im Getriebe. Eine Philosophie der Störung”

Ihr Einführungsvortrag war sehr umfangreich, spannend, vielseitig und kompetent.
Einige Happen: Die Realität holt uns ein. Die Störung als Phänomen. Erlaubt ist, was nicht stört.
Die Störung wird in der Repetition sehr störend. Sokrates empfand den Willen zur Störung im Sinne von Fortschritt. Friedrich Nietzsche sprach: „Ich bin Dynamit.“ Oft stört jemand in öffentlichen Verkehrsmitteln durch lautes Telefonieren. Darf man ihm dann eine Frage stellen, wenn man doch nicht alles mitbekommen hat? Usw. Jedenfalls gilt: Die Demokratie braucht Störenfriede!
Eva Riebler

 

Störenfriede - Dunkelmänner oder Lichtgestalten?
Dieter Thomä (St. Gallen)

Dieter Thomä untersucht in seinem Vortrag die Figur des sogenannten puer robustus (p.r.) - wörtlich für kräftiger Knabe - bzw. des Störenfrieds, der sich gegen die herrschende Autorität auflehnt, aneckt, aufbegehrt und sich nicht scheut auch mal zuzuschlagen. Gerade deshalb spielt er eine zentrale Rolle in vielen gesellschaftlichen Entwicklungen.
Bei Thomas Hobbes verfolgt der p.r. rücksichtslos seine eigenen egozentrischen Absichten. Regelbrüche gegen gesellschaftliche Konventionen sind dabei nicht ausgeschlossen, sondern die Regel. Doch ist banales Eigeninteresse immer das Motiv des Störenfrieds? Hat nicht vielmehr die Gesellschaft ihn zu einer Randfigur geformt, die er im Grunde gar nicht sein will und die ihn in seiner Reaktion zum Exzentriker werden lassen?
Wir haben es hier schon eher mit einem konstruktiv Störenden zu tun. Für John Stuart Mills waren diese exzentrischen Störenfriede (z.B. Künstler) gar das Salz der Erde! Jean Jacques Rousseau wiederum deutet die physische Gewalt von Hobbes' p.r. um in eine intellektuelle Eigenschaft.
Statt Egozentrik steht Gerechtigkeitssinn im Mittelpunkt mit dem Zweck politischen Körper oder Institutionen zu reformieren oder zu verbessern.
Dieter Thomä spricht hier vom nomozentrischen p.r. Als Beispiele mögen hier die Klimakleber oder Edward Snowdon dienen. Beide versuchten soziale bzw. politische Ordnungen herauszufordern und zu verändern (mit mehr oder weniger Erfolg).
Störenfriede sind also unverzichtbar in vielen Belangen unseres Zusammenlebens. Insbesondere wo geschlossene Systeme wie Filterblasen oder Echokammern sich in ihrer eigenen, selbstbestätigenden Welt gegen Einflüsse von außen abzuschotten versuchen, kann eine zielgerichtete Störung ihrer Stagnation entgegenwirken.
Jürgen Riedler

 

Verleihung des 17. TRACTATUS an den Philosophen und Sprachwissenschaftler
Philipp Hübel unter Mitwirkung des Trios Tractaticus

Den Tractatus 2024 – des mit 25.000 Euro dotierten Essay-Preises erhält dieses Jahr der deutsche Philosoph Philipp Hübl für sein Buch „Moralspektakel. Wie die richtige Haltung zum Statussymbol wurde und warum das die Welt nicht besser macht.“ Laut Jury-Begründung gelingt ihm „mit einer empirisch tiefer gelegten Anthropologie eine erfrischend kalte Dusche für die moralisch überhitzten Diskurse der vergangenen Jahre: eine wohltuende, zur allgemeinen Abrüstung einladende Ernüchterung“. Hübl erklärt, er habe sein Buch „als radikale Selbstkritik formuliert.
Das passt auch zum Konferenzthema. Philosophen sollten nicht nur den Sand im Getriebe der Gesellschaft aufspüren, sondern auch den im eigenen Getriebe“
Das Thema heuer setzt sich ja mit dem ambivalenten Charakter von Störungen aller Art auseinander und lotet auch aus, inwieweit der Philosophie selbst eine solche Funktion zukommt –etwa im Sinne eines Störmoments, das zu überraschenden, womöglich unbequemen und nicht zuletzt umwälzend neuen Erkenntnissen führt. Dieser Aspekt wird auch bei der Vergabe des Tractatus honoriert.
Bei seiner Dankensrede stellte Hübl sich zu Beginn gleich selbst als moralisch moderner Vater vor, indem er von seinem Windelwechseln seiner kleinen Tochter auf der Damentoilette berichtete. Warum gibt’s auf der Herrentoilette keine Windelablage? – Damit hatte er die volle Aufmerksamkeit des kritischen Publikums und das Thema „Moralspektakel“ angerissen. Die Moral ist schließlich ein Mittel im Kampf um Status und Anerkennung!
Das vergisst ein Anthropologe nie! Die moderne Philosophie denkt und streitet um rein geisteswissenschaftliche Dinge, während Hübl sich auch mal „die Hände schmutzig macht“ und am Boden des Alltags und der Realität verweilen will. Er entlarvt das Bestreben der meisten Menschen mehr scheinen als sein zu wollen. Jedoch gilt sein Wort:
Die Philosophen sollten nicht nur den Sand im Getriebe der Gesellschaft aufspüren, sondern auch den im eigenen Getriebe.“
Es war eine sehr erfrischende Rede und überaus begeisternd war die Darbietung des Streich-Trio-Zyklus des vielseitigen und vielfach prämierten Vorarlberger Komponisten Marcus Nigsch! Ich hätte mir dieses kompetente, moderne Trio auch zur Eröffnung am Vortag gewünscht!
Eva Riebler

Philipp Hübl studierte Philosophie und Sprachwissenschaft in Berlin, Berkeley, New York und Oxford. Er lehrte Theoretische Philosophie an der RWTH Aachen, der Humboldt-Uni Berlin u. Uni Stuttgart. War Gastprof. für Phil. u. Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin. Er ist Autor des Bestsellers Folge dem weißen Kaninchen (2012), Bullshit-Resistenz (2018), Die aufgeregte Gesellschaft (2019), Moralspektakel (2024) usw.

 

Rahmenprogramm am 19.9.24
„Philosophieren am Berg“
Svenja Flaßpöhler und Dieter Thomä

Gingen der Frage nach: Ist Trump ein Störenfried oder ein Zerstörer? Welche Mittel sind Trump recht?
Gibt es einen Störer, wenn es nur einen Scheinfrieden gibt?

 

Philosophische Betriebsstörung. Skepsis, Dadaismus und Postmoderne
Lambert Wiesinger (Jena)

Unter den Philosophen gibt es Anhänger des Wissens und solche des Nicht-Wissens. Zu letzteren gehören die Zweifler, die Skeptiker. Mittels der Attribute universell/partiell und absolut/relativ können vier Formen von Skepsis unterschieden werden. Uns interessiert insbesondere die radikalste Variante: die universell-relative Skepsis.
Sie ist wie folgt charakterisiert: zur Zeit kann ich selbst von keiner Meinung die Wahrheit begründen.
Die pyrrhonische, die dadaistische, sowie die postmoderne Skepsis sind entsprechende Ausformungen davon. Alle drei beschreiben im wesentlichen einen Geistes- bzw. Gemütszustand. Ihnen gemein ist ihr universeller Umfang („Alles ist unerkennbar", „Es gibt keine letzte Wahrheit", „Es gibt keine Wahrheit, keine Referenz und keinen objektiven Grund mehr") sowie die rigorose Gültigkeit gegenüber der eigenen Meinung und die Entstehung durch Widerstreit der nicht aufgelöst wird. Im Fall der pyrrhonische Skepsis wird nicht mehr argumentiert, sondern Meinungen gleichwertig gegenübergestellt: Isosthenie. Beim Dadaisten Kurt Schwitters heißt es sogar „Alles stimmt, aber auch das Gegenteil" und mit Paul Feyerabends „Anything goes!" (Against Method: Outline of an Anarchistic Theory of Knowledge) wäre ein Beispiel aus der Postmoderne zu nennen.
Daß der Schritt von Widerstreit zu den berüchtigten 'alternative facts' heutzutage kein großer ist, ist anhand der republikanischen Interpretation der Zuschauerzahlen bei der Inauguration der US-Päsidenten Barack Obama und Donald Trump ersichtlich. Auf die Spitze trieb man die Skepsis mittels Sprachkonstruktivismus. Jacques Derridas „Ein Text-Äußeres gibt es nicht" deutet die Welt als bloße sprachliche Konstruktion - ohne Sprache ist nichts definiet!
Jürgen Riedler

 

Störfall Skeptizismus: Begrüßen, bekämpfen oder ignorieren?
Geert Keil (Berlin)

Geert Keil beginnt mit folgender Prämisse: Wissen kann nur garantiert werden wo es keine Möglichkeit eines Irrtums gibt (p1). Nun sind Menschen in ihren Erkenntnisbemühungen fehlbare Wesen, ja Fehlbarkeit gehört geradezu zur conditio humana. Wir besitzen leider auch nicht die Fähigkeit, unsere Annahmen so zu prüfen, daß jeder mögliche Irrtum ausgeschlossen wäre. Diese These über die Begrenztheit des menschlichen Erkenntnisvermögens definiert den sog. Fallibilismus.
D.h. nach menschlichem Ermessen sind Irrtümer nie völlig ausgeschlossen (p2). Der radikale Wissensskeptiker schließt daraus: Menschen wissen nichts.
Eine Erklärung der menschlichen Fehlbarkeit durch die Aufzählung von bestimmten Irrtums- oder Täuschungsquellen (Wahrnehmungstäuschungen, Attrappen, Unzuverlässigkeit der Erinnerung, Fehlschlüsse, kognitive Verzerrungen, Ununterscheidbarkeit vom Traum und Wirklichkeit) zäumt aus fallibilistischer Sicht das Pferd von hinten auf. Was eine besondere Quelle bräuchte, wäre eine Wahrheitsgarantie, nicht das Fehlen einer solchen. Wahrheitsdetektoren existieren aber nicht!
Wahrheit ist auch nicht das, was wir sicher treffen, wenn wir nach allen Regeln der Kunst Wissenschaft betreiben. Wahrheit ist das, was wir verfehlen können, obwohl wir gut begründete Überzeugungen haben. Wissenschaft ist nichts als die selbstkorrigierende Praxis der methodischen, ergebnisoffenen, fehlbaren Erkenntnissuche.
Die hierzulande verbreitete Wissenschaftsskepsis hat sich jedoch oft von ihrer gesunden Ausprägung hin zur Verschwörungstheorie entfernt, indem Szenarion ausgedacht werden die definitionsgemäß gar nicht überprüfbar sind.
Jürgen Riedler

 

weitere Infos stets: www.philosophicum.com

In der Demokratie sind alle gleich - einige scheinen aber doch noch gleicher zu sein

Manfred Becker-Huberti

Ein philosophisches Symposium, das unser Selbstverständnis hinterfragt
Eine Reportage von Manfred Becker-Huberti


Der Begriff „Elite“ polarisiert und wird zur Stimmungsmache missbraucht. Das geht leicht, weil mit „Elite“ heutzutage eine negativ konnotierte Wertung mitschwingt. Das diesjährige Philosophicum setzte Elite in Beziehung zur Demokratie, um dann die sich ergebenden Spannungsfelder auszuleuchten.

Zur Elite bekennen sich deren Mitglieder ungern: „Jeder, der die Chance sieht, sich als aus einfachen Verhältnissen kommend zu charakterisieren, tut das", analysiert Soziologe Michael Hartmann. Und er fügt das Beispiel eines Elitären an, der sich als Sohn eines Polizeibeamten etikettiert, dessen Vater aber im realen Leben Polizeipräsident war. Tiefstapeln soll also „dem Volk“ suggerieren: Eigentlich bin ich einer von euch!

Sich zur Elite zu bekennen, ist unpopulär geworden. Soziales Tiefstapeln ist angesagt. Das unterstellt eine Volksverbundenheit, die den real existierenden Eliten immer mehr abhandenkommt. Die Analysen des Sozilogen und Elitenforschers Michael Hartmann beleuchten das Verhalten von politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern in Zeiten des Eliten-Bashings.

„Elite“ ist zum Schimpfwort geworden. Eliten sind die Sündenböcke gesellschaftlicher Fehlentwicklungen. Und das hat nicht nur im deutschsprachigen Raum damit zu tun, dass in den vergangenen Jahrzehnten durch das, was als neoliberale Politik gilt, - und diese wurde von Eliten betrieben -, in allen westlichen Industriegesellschaften die gesellschaftlichen Unterschiede, vor allem was Einkommen und Vermögen angeht, deutlich vergrößert haben. Heute assoziieren Teile der Bevölkerung mit Elite: Das sind die, die dafür gesorgt haben, dass es uns schlechter geht - und ihnen besser. Die Zahlen für Deutschland sind eindeutig: In den vergangenen zwei Jahrzehnten gab es für das untere Fünftel Reallohnverluste von etwa zehn Prozent, für das obere Fünftel dagegen ein Plus von 16 Prozent. Die größten Zuwächse gab es dabei ganz oben.

Elite sind ja nur ein paar tausend Menschen in Deutschland. Man kann sagen: „Die Eliten, die mehrheitlich aus den oberen vier, fünf Prozent stammen, machen im Wesentlichen eine Politik, von der diese oberen vier, fünf Prozent profitieren“ (Prof. Dr. Michael Hartmann, Soziologe). Die Kritik an „denen da oben“ hat einen realen Kern. Aber wenn Rechtspopulisten an die Macht kommen, führen sie nichts anderes fort, als was ihre Vorgänger getan haben – manchmal in gesteigerter Form. Erst positionieren sie sich gegen das Establishment (Eliten-Bashing), dann schwenken sie auf den alten Kurs. Trumps Steuerpolitik richtet sich nicht gerade gegen die Milliardäre.

Politische Eliten sind jene Personen, die Politik maßgeblich gestalten, in Deutschland etwa 4000 Personen, davon stellen etwa 1000 den harten Kern. Außer der politischen Elite unterscheidet man eine wirtschaftliche Elite, eine juristische und eine Verwaltungselite. Man muss noch eine Medienelite abgrenzen, die allerdings dadurch wirkt, dass sie in der Öffentlichkeit Wirkung erzeugt, also eine indirekte Macht darstellt. Die Digitalisierung hat die Macht der Medien nicht vergrößert, sondern lediglich geändert. Die Medien sind ein Indikator für die Veränderung politischer Verhältnisse.

Das Auseinanderdriften zwischen „denen da oben“ und den „Normalos“ kann man mit Zahlen belegen: Zum Beispiel an den Einkommen in großen Konzernen, genauer am Verhältnis der Managergehälter zu denen der Belegschaft. „Bei den DAX-Konzernen zeigt sich: Bis in die 90-er Jahre haben die Vorstände etwa das 14-Fache der Mitarbeiter verdient. Inzwischen ist es das 54-Fache. Die Kluft hat sich also fast vervierfacht,“ sagt Michael Hartmann

Und wie wird man Mitglied der Elite, muss man in sie hineingeboren werden? Das war nicht nur so in den alten Eliten hierarchischer Gesellschaften, wie man das am Beispiel des Adels kennt, es gilt zum Teil auch in der modernen Gesellschaft bei der Wirtschaftselite. Wer als Mitglied der Familien Quandt oder Aldi geboren wird, hat andere Ausgangschancen als Frau Schmitz oder Herr Meier. Die Politik dagegen hat lange als durchlässigste Elite gegolten. Das ist sie zwar noch immer, aber deutlich weniger als noch vor Jahren. Arbeiterkinder finde man immer seltener in politischen Spitzenpositionen. Etwa 60 Prozent stammen aus den oberen 5 Prozent der Gesellschaft, ein Trend seit den 90-er Jahren.

In Fortführung der Tradition begann auch das diesjährige Philosophicum mit einem Philosophisch-Literarischen Vorabend, den der Schriftsteller Michael Köhlmeier und der Philosoph Konrad Paul Liessmann gestalteten. Am eindrucksvollsten war das Märchen der Gebrüder Grimm vom Gestiefelten Kater als Beispiel dafür, wie man zum Mitglied der Elite wird, auch wenn man nicht der Hellste ist und nur der Letztgeborene eines Müllers und als Besitz bloß einen alten Kater vorweisen kann. Das Märchen belegt alle Vorurteile: Lug und Trug, Tricks und Lüge sind die besten Schmiermittel, die eine Karriere befördern.

Wie immer führte ein Eröffnungsvortrag Liessmanns in das Thema des Symposiums ein: „Die Werte der Wenigen. Eliten und Demokratie“. Liessman beschrieb die Kritik an der Elite von Links und von Rechts, ihre Selbstgerechtigkeit, Abgehobenheit, ihre Isolation in einer Blase. Sie akkumulierten den Reichtum der Gesellschaft für sich, seien gierig, eitel, rücksichtslos, unverschämt und bigott. Sie leisteten nicht das, was sie als Grund für ihr Auserlesen-Sein angeben. Sie sind die Urheber der meisten politischen Katastrophen und Skandale. Obgleich selbst ohne Moral, immunisieren sie sich gegen Kritik gerne durch Moralisierung. Zugleich wird die Elite durch andere verteidigt. Sie seien ein Bollwerk gegen die populistische Versuchung und das Unterlaufen der Demokratie, gegen Fake-News und Verschwörungstheorien. Und weil sie prinzipiell offen stünden, verringerten sie die soziale Ungleichheit.

Liessmann fragte, wer die Eliten überhaupt seien, wirklich die Auslese der Besten, eine neue Aristokratie? Das griechische Wort ἀριστοκρατία – aristokratia kommt von ἄριστος – aristos = Bester und κρατεῖν – kratein = herrschen, meint also ursprünglich die Herrschaft der Besten. Aristokratie wird meist als Adelsherrschaft verstanden, trifft aber auch zu auf bürgerliche Patriziersysteme oder Priesteraristokraten. Liessman erläuterte, wie sich Elite bildet, wie sie lebt und denkt und an welchen Werten sie sich orientiert. Und er fragte, inwiefern die Werte der Elite ein Distinktionsmerkmal darstellen, das die Wenigen von den Vielen unterscheidet. Der Philosoph zentrierte seine kritische Sichtung in der Frage, ob die Vorstellung politischer, kultureller oder sozialer Eliten nicht dem Konzept der Demokratie widersprechen, das ja der Idee der Gleichheit aller, der sozialen Mobilität und dem Prinzip der Machtteilung und des Machtwechsels verpflichtet sei.

Zwar sei seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in Konsequenz des bürgerlichen Leistungsdenkens die individuelle Leistung zum Kriterium geworden, jemanden über den Durchschnitt in die Leistungselite zu erheben. Die Idee der Meritokratie, die Herrschaft der Leistungsfähigsten war kreiert worden, damit entstanden zugleich Probleme: Wie und wodurch selektiert man nun aber die Zielgruppe? Löst man dieses Problem, wenn man sich auf Funktionseliten zurückzöge, deren Mitglieder aus ihrem Fleiß vielleicht soziale Anerkennung und pekuniäre Vorteile lukrieren, aber sonst keine weiteren Ansprüche – weder für sich, noch für ihre Kinder! Aber auch das ist nicht unproblematisch, weil auch Leistungseliten gerne ihr eigenes Prinzip verraten, wenn es darum geht Vorteile zu erhaschen – etwa einen Studienplatz für die Tochter an einer Elite-Universität.

Selbst wenn die Mitglieder von Funktionseliten ihre herausragenden Positionen zurecht einnähmen, folgt daraus nicht zwingend ein Anspruch auf besondere politische Macht oder Einflussnahme. Das aber suggeriert das Modell der Meritokratie: Die Tüchtigen, Erfolgreichen und Verdienstvollen sollen Einfluss bekommen und Macht ausüben. Und das unterscheidet politische Eliten von reinen Funktionseliten: Sie beeinflussen und bestimmen direkt und indirekt das Leben der Menschen in vielerlei Hinsicht. In einer Demokratie wird das zum Problem. Demokratie bedeutet nämlich, dass Teilhabe und Verantwortung nicht von individuell zu erbringenden Leistungen, Eigenschaften und Fähigkeiten abhängig ist, sondern allein von der Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft.

Das einfache Konzept einer Funktionselite scheitert am komplexen Zusammenspiel von unterschiedlichen Faktoren, die ein politisches Geschehen ausmachen. Wäre der Maßstab für politische Exzellenz die Fähigkeit, Wählerstimmen zu akkumulieren, wäre dem Populismus Tür und Tor geöffnet. Ein Wahlerfolg hebt aber die Inferiorität eines Kandidaten nicht auf. Wäre es anders, hätten viel Donald Trump nach seinem Wahlsieg zu jenem politischen Genie erklären müssen, für da er sich selbst hält.

Weil politisch Eliten sich politischen Einfluss und damit verbundene Vorrechte auch abseits von Wahlergebnissen sichern müssen, folgen sie einer Logik, die der Demokratie widerspricht. Leistungsorientierte Exzellenz geht mit der Vorstellung einher, dass die mit ihr verbundenen Tätigkeiten über längere Zeiträume ausgeübt werden müssen. Demokratie aber lebt vom Prinzip des geregelten Machtwechsels. Ein besonderes „Geschmäckle“ hat die Sache, weil die Eliten die Idee der Gleichheit propagieren, die sie mit ihrer politischen Sonderrolle gleichzeitig sabotieren. Liberale Eliten müssen das Kunststück vollführen, universale Werte zu propagieren, die dennoch nur für wenige in Frage kommen. Es gehört zum Wesen einer elitären Werteorientierung in einer demokratischen Gesellschaft, dass Werte eine paradoxe Doppelfunktion bekommen: Sie müssen erkennbare Merkmale für die Zugehörigkeit zu einer Elite darstellen und gleichzeitig als allgemeingültig und für jedermann erstrebenswert deklariert werden.

Die Frage, ob wir Eliten, beantworte Liessmann nicht. Er fordert Menschen, die auf dem Feld, auf dem sie tätig sind, gut sind, die ihr Metier beherrschen, sich dafür mit Leidenschaft und Ehrgeiz einsetzen, aber auch zugänglich sind für Kritik und Selbstkritik und die Welt nicht nur aus dem Blickwinkel ihres Milieus, dem Innern ihrer Blase betrachten. Eliten solle man nicht bekämpfen, schlussfolgert Liessmann, man solle sie in die Pflicht nehmen. Philosophen sollten sich ein Beispiel an Diogenes nehmen, der, als sich ein höchst erfolgreiches Mitglied der politischen Elite seiner Zeit vor ihm aufbaute, trocken bemerkte: Tritt ein wenig zur Seite. Du stehst mir in der Sonne.

Gestartet ist die Reihe der Vorträge des Philosophicum Lech 2019 mit einem Vortrag von Alexander Grau, Philosoph, Publizist und Freier Journalist, den er überschrieben hatte mit „Wo wir sind, ist vorne. Die neuen Eliten und ihre Werte“. Zunächst präsentierte er sechs Thesen zur Ideologie der neuen Eliten, beginnend mit einer berühmten von Karl Marx: „Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse.“ Und endend mit jener, dass die spezifische Moral, die aus dem Lebensgefühl der neuen Eliten resultiert, letztlich das entscheidende Distinktionsmerkmal sei, das sie von den Nichteliten wie auch den alten Eliten trennt. Um historisch herzuleiten, woraus die neuen Milieus resultie-ren, erläuterte er die Geburt und Weiterentwicklung der bürgerlichen Ideologie – bis in die Gegenwart, die er auf folgende Formel brachte: „Die neuen Eliten transformieren die Marotten konsumorientierter Selbstverwirklichungsgesellschaften und Erfordernisse einer spätindustriellen, modernen, digitalisierten und globalisierten Wirtschaft zu einer Moral und inszenieren sich als deren Avantgarde.“ In einer seltsamen, aber mächtigen Alliance spielten sich dabei die akademisch geprägte emanzipatorische neue Linke und die Erfordernisse des spätmodernen Kapitalismus in die Karten.

Es folgte der Beitrag von Wolfram Eilenberger – Philosoph, Schriftsteller und Publizist – unter dem Titel „Die offenbare Elite und ihre Feinde – Hannah Arendt, Ayn Rand und die Diabolik des Mittelmaßes“. Eilenbergers Referat war größtenteils ein flammender Aufruf, sich mit der Gedankenwelt von Ayn Rand, der „wirkmächtigsten Philosophin des 21. Jahrhunderts“ auseinanderzusetzen. „Als die wohl offensivste Verteidigerin von Eliten, besser gesagt eines radikalen Individualismus“, wie er unterstrich, stellte er ihre Philosophie sozusagen als starkes Gegenmittel gegen Selbstvergessenheit und Selbstverleugnung vor. So legten etwa ihre Romane mit größter Fernsicht und Präzision Formen der Selbstunterwanderung frei. Dabei rückte er die drei Werte asozial, autonom und autark in den Fokus und meinte dazu, durchaus etwas provokativ: „Ich sehe die vorrangige Funktion des Philosophierens im Wachalten für die Möglichkeit einer so bestimmten Lebensform.“

Freitagnachmittag referierte dann zunächst Katja Gentinetta – Politikphilosophin, Publizistin und Lehrbeauftragte an den Universitäten St. Gallen, Zürich und Luzern zur Frage „Eliten in der Politik: Wem dienen sie?“. Dabei plädierte sie für eine sachlich begründete, differenzierende Elitenkritik anhand eines Qualitätskriteriums, das bereits Platon formulierte und von Aristoteles ausgeführt sowie systematisiert wurde: „Gute Regierungen dienen den Regierten, schlechte Regierungen dienen sich selbst.“ Die Tendenz zu Zweitem und die Ablösung der Eliten durch ihre vorherigen Kritiker schilderte sie anhand eines diesbezüglich nahezu unerschöpflichen Fundus: den französischen Revolutionen von 1789, 1830 und 1848. Als Zeitzeuge und Quelle diente ihr Alexis de Tocqueville, der „die politischen Eliten dieser Jahre und ihre Verfehlungen besser, näher und direkter“ schildert als jeder andere. So bezog sie sich auch auf dessen Unterscheidung von Demokratie und Sozialismus. In Ablehnung einer ideologisch getriebenen Elitenkritik sprach sie sich für eine aus, die sich am Charakter der Regierenden festmacht.

Den abschließenden Vortrag des Tages mit dem Titel „Politische Eliten – Repräsentation oder Usurpation?“ hielt Isolde Charim, Philosophin und freie Publizistin, Kolumnistin der „taz“ und des „Falter“. Unter Usurpation versteht sie, dass kein Austausch zwischen Politikern und Bevölkerung stattfindet. Ausgehend von der für sie zentralen Frage, wie sich das Verhältnis von Eliten und Nicht-Eliten gestaltet, konstatierte Charim eine Oligarchisierung. Diese gründe zum einen auf der einseitigen Kündigung des Gesellschaftsvertrages durch die ökonomischen Eliten, die „Sezession der Reichen“. Zum anderen auf dem politischen Gesicht dieser Sezession, einer Elitenherrschaft, die vorwiegend den Eigennutz und weniger das Gemeinwohl im Auge hat. Legitimiert werde dies durch Meritokratie, wobei „Leistungsträger“ ein zentraler Begriff dieser Erzählung sei. Aus gesellschaftlicher Bindung wurde Bindungslosigkeit, so Charim. „Man muss sehen, dass diese Krise der Repräsentation tiefer gehend ist als nur ein moralisches Versagen der Eliten. Die Abgehobenheit der Eliten vollzieht nur das Prinzip einer Gesellschaft der radikalisierten Individualisierung und Konkurrenz – jenes Prinzip, welches sowohl Repräsentation als auch Gemeinwohl verhindert.“ Die neuen Eliten können nicht durch Ethik gewonnen werden, sondern durch ihr eigenes Prinzip: den Erfolg. Denn egalitäre Gesellschaften sind in jeder Hinsicht erfolgreicher.

Unter dem Titel „Elite ohne Verantwortung? Die missverstandene Meritokratie“ referierte am Samstagmorgen zunächst die Philosophin und Sozialwissenschaftlerin Lisa Herzog, der am Abend zuvor der Tractaus 2019 – der renommierte und hoch dotierte Essay-Preis des Philosophicums Lech – verliehen worden war. Thematisch in Nähe zu ihrem prämierten Buch „Die Rettung der Arbeit. Ein politischer Aufruf“ verwies sie u. a. darauf, dass die soziale Anerkennung ein zentraler Aspekt im Arbeitsleben ist und dass die derzeit vorherrschende kompetitive Logik zum Kampf um dieselbe führt, was reihenweise gefühlte Verlierer erzeugt. Auch um die daraus resultierende Demotivation zu vermeiden, setzt Herzog der Konkurrenzgesellschaft eine alternative Vision entgegen. In dieser kommt es darauf an, dass alle Individuen ihren Platz in einem funktional ausdifferenzierten Netzwerk geteilter Arbeit haben, in dem es auf jede und jeden ankommt. Alle übernehmen Verantwortung für ihren jeweiligen Bereich, leisten damit einen wertvollen Beitrag und werden dafür gewürdigt. Mit diesem Plädoyer für ein produktives Miteinander statt Gegeneinander fand die Professorin für Politische Philosophie und Theorie an der Hochschule für Politik der Technischen Universität München großen Anklang beim Publikum.

Es folgte der Vortrag von Jan-Werner Müller, Professor für Politische Theorie an der renommierten Universität Princeton, der sich der Frage stellte: „Meritokratie und Demokratie. Geht das zusammen?“. Einleitend erläuterte er das Wesen und die Entwicklung der Meritokratie – der politischen Herrschaft einer durch Leistung und Verdienst ausgezeichneten Gesellschaftsschicht. Dieser stellte er als Gegenteil die von ihm so benannte „Lottokratie“ – die Auswahl politischer Funktionsträger durch Losentscheid – gegenüber, um schließlich zu erklären, inwieweit in beiderlei Fall ein wichtiger Aspekt der repräsentativen Demokratie missverstanden bzw. unterschätzt wird. Dabei ging er auf zahlreiche internationale Beispiele problematischer politischer Entwicklungen ein, wie den Brexit und die Präsidentschaft von Donald Trump. Statt den meist herangezogenen Erklärungen wie grassierende Ängste, eine Polarisierung der Gesellschaft u. a. m., sieht er die Ursache im Versagen von Parteien, der Torys und der Republikaner. Daraufhin betonte er die unverzichtbare Funktion der Parteien in der repräsentativen Demokratie: nämlich u. a. Konflikte bereits im Vorfeld zu bearbeiten und im Wechselspiel der Kräfte zu konsensualen Lösungen zu kommen.

Über die Gefährdung der Demokratie durch den Einfluss von Kapital und Eliten in den beiden Vorträgen am Samstagnachmittag wurden zahlreiche aussagekräftige und in ihrer Dimension oft überraschende Fakten zur Wirtschafts- und Steuerpolitik sowie zur Einkommens- und Vermögensentwicklung, sprich zur immer größer werdenden Schere zwischen Arm und Reich, geboten. Zunächst erläuterte Michael Hartmann, Professor i. R. für Soziologie an der TU Darmstadt, auf eindrückliche Art, „Wie die Eliten unsere Demokratie gefährden“. In Bezug auf den wachsenden Erfolg von Rechtspopulisten illustrierte er am Beispiel der Wählerschaft der AfD, dass die soziale und materielle Situation der Menschen einen wichtigen Faktor hinsichtlich der Parteienpräferenz darstellt. Anschließend belegte er anhand umfassender Daten, inwieweit die neoliberale Politik bereits seit der Ära von Ronald Reagen und Margaret Thatcher, dann auch unter sozialdemokratischen Regierungen und bis heute zur Verschlechterung der Lebenslage unterer Einkommensschichten beiträgt. Eine maßgebliche Rolle spiele dabei die soziale Herkunft der Politiker und rekrutierten höheren Verwaltungsbeamten, wie er ebenfalls anhand konkreter Beispiele vor Augen führte. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich durch einen Appell an die politische Vernunft und Einsicht etwas ändert, hält er für gering und plädiert stattdessen für eine merkliche Änderung der Steuerpolitik, insbesondere hinsichtlich der Vermögen.

Nahtlos daran anschließen konnte Christian Neuhäuser, Professor für Philosophie und geschäftsführender Direktor am Institut für Philosophie und Politikwissenschaft an der TU Dortmund. Unter dem Titel „Ethische und moralische Reichtumskritik: Über Geld, Macht und Demokratie“ schilderte er unter verschiedensten Gesichtspunkten, inwiefern die enorme Anhäufung von Kapital bei Wenigen ein ernstzunehmendes gesellschaftliches und in der Folge auch politisches Problem darstellt. Von den vielen Zahlen, die er dazu lieferte, seien nur die 2.208 Milliardäre (laut Forbes-Liste 2018) mit einem Durchschnittsvermögen von 4,8 Milliarden Dollar genannt. 157 der 200 größten wirtschaftlichen Akteure der Welt sind Unternehmen, nicht Staaten. Neuhäuser verwies darauf, dass über die mögliche Ungerechtigkeit von Reichtum kaum sachlich diskutiert wird. Es ginge nicht um eine vermeintliche Gier der Reichen, sondern vielmehr um eine „Gier-Struktur“ im derzeitigen Wirtschaftssystem, durch die immer mehr Leute den Eindruck bekommen, dass Gerechtigkeit in der Gesellschaft nichts zählt. Den Ungleichgewichten entgegenzuwirken sei ein Gebot der Stunde.

Den Sonntagvormittag eröffnete das Referat von Wolfgang Müller-Funk, Professor für Kulturwissenschaften am Institut für Europäische und Vergleichende Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Wien, mit dem Titel „Der Duft der Distinktion. Auserwähltheit im demokratischen Massenzeitalter. Ein kurzer Zustandsbericht“. Mit dem Hinweis, dass das französische Wort Elite die Konnotation des Auserwähltseins in sich trägt, machte er deutlich, dass Gesellschaften mit egalitärem Anspruch dazu tendieren, neue Formen der Besonderheit bzw. Exklusivität zu erzeugen. Weiters beleuchtete er das gegenwärtige Unbehagen am System der repräsentativen Demokratie – einer Form, die egalitäre und elitäre Momente in sich vereinigt. Wie sich in vielen Ländern Europas zeige, sei diese Elite stets in Gefahr, von der Wut der von der Distinktion Ausgeschlossenen – „Wir sind das Volk“ – weggejagt zu werden. „Aber dieses Unbehagen kippt blitzschnell in Bewunderung für einen Führer um, der Partizipation an seinem Status verspricht, so wie die Eliten in Sport, Medien und Popularkultur“, betonte der Kulturwissenschaftler. Oben ankommen wollen irgendwie alle. In einer Kultur, in der Sieg, Erfolg und mediale Omnipräsenz zu jenen Werten gehören, die man ironischerweise als die der Vielen bezeichnen könnte, sind und bleiben es zugleich die der Wenigen. Moderne Eliten bedürfen einer Legitimierung.

Im letzten Vortrag des 23. Philosophicums Lech erklärte der freiberuflich tätige Autor, Kulturwissenschaftler und Berater Wolfgang Ulrich „Warum eine Werteethik immer eine Elitenethik ist und was sie heute so erfolgreich macht“. Mit Hinweis auf mehrere Slogans in Zusammenhang mit der Nationalratswahl in Österreich – z. B. „Einer, der auf unsere Werte schaut“ – arbeitete er den Charakter der dominierenden Werteethik unserer Tage heraus. Aus der einstigen elitären Genieethik – gemäß der nur wenige Menschen, wie Künstler und Intellektuelle, dazu befähigt seien, Werten in einzelnen Handlungen Gestalt zu verleihen –, wurde eine nicht minder elitäre plutokratische Werteethik. Familie, Heimat oder auch Nachhaltigkeit sind Werte, die sich nur dann leben lassen, wenn man über entsprechende Ressourcen verfügt. Augenscheinlich machte dies Ulrich an auf den ersten Blick banalen Beispielen wie Joghurt-Marken und Kosmetikprodukten, ist mittlerweile doch fast jedes alltägliche Konsumgut dazu geeignet, Werte zu repräsentieren und sich durch deren Besitz in Szene zu setzen. Unabhängig von materiellen Voraussetzungen und somit anti-elitär ist hingegen die Tugendethik, durch welche sich ein jeder, etwa durch Nächstenliebe, auszeichnen kann. „Gewiss profitieren zu viele von der Wohlstandsgesellschaft, von der Konsumkultur und den Möglichkeiten, sich zu Werten zu bekennen, als dass es gegenwärtig erfolgversprechend sein könnte, die wertethische Orientierung der Gesellschaft überwinden zu wollen“, so Ulrich. Bei der anschließenden Diskussion strich Konrad Paul Liessmann heraus, dass in Grundgesetzen bzw. Verfassungen der westlichen Staaten nicht von Werten, sondern Grundrechten die Rede ist. „Darum sollte einen das inflationäre Gerede über Werte eigentlich gerade unter dieser menschenrechtlichen Perspektive in höchste Alarmstimmung versetzen. Sie sollten also jetzt in Panik geraten“, setzte er den Schlusspunkt mit einer Pointe.

 

Das Philosophicum Lech 2020 steht unter dem Thema: „Als ob. Die Kraft der Fiktion“. Es findet statt vom 23. bis zum 27. September 2020.

 

 

 

Verdient die Elite, was sie verdient? - Eine Nachfrage von Manfred Becker-Huberti

Manfred Becker-Huberti

Das 23. Philosophicum von Lech am Arlberg befasste sich 2019 mit dem Verhältnis der Eliten zur Demokratie - einem Verhältnis, das konstitutiv für Bestand und Entwicklung moderner Gesellschaften ist. Kritik an ihrer Existenz kommt von Links und Rechts, scheint sich (aber noch) die Waagschale zu halten. Wer sind die Mitglieder dieser neuen Kaste der Auserwählten und wer hat sie eigentlich dazu gemacht?

Es gab Zeiten, da wurde der eine oder die andere als Teilstück der Elite geboren. Monarchien leben noch heute davon, dass die neugeborenen Adelssprösslinge nicht nur in ihre Familien integriert, sondern von den „Untertanen“ als Repräsentanten des Systems quasi adoptiert werden. Das britische Königshaus bietet sich nach wie vor als wohlfeiles Beispiel an. Neben dem Geburtsadel teilt der Geldadel, der nur noch in wenigen Fällen identisch mit dem Geburtsadel ist, das Prinzip des Hineingeborenseins. Aber in die politischen Eliten der Demokratien werden heutzutage kaum noch Personen hineingeboren. In Demokratien gilt das Prinzip der Gleichheit aller. Und doch gilt zugleich: einige sind trotzdem gleicher als gleich. Eliten gibt es deshalb auch in Demokratien.

Eliten in Demokratien haben es schwer. So wirklich will – zumindest nach außen - kaum einer dieser Elite angehören. Sich elitär zu gebären, gehört zum politischen Pfuiba in einer funktionierenden Demokratie, denn „elitär“ ist in einer Zeit, die so gleichheitsfixiert wie die unsere ist, zum Gegenteil von „egalitär“ geworden. Wer sich elitär aufführt, positioniert sich neben der Gemeinschaft, die ihn postwendend als gestrig und systemwidrig ausgrenzt. Burschenschaften haben heute eben nicht mehr die Qualität einer Rolltreppe zur Mitgliedschaft in einer Elite. Der Schmiss auf der Backe von Opa kommt nicht mehr gut an. Elite darf heute noch die eine oder andere Universität sein, die ihre Anerkennung als vermeintliche elitäre Bildungsanstalt an der Höhe der Subsidien ablesen kann. Auch dann, wenn der Zahnarzt nach der Studienrätin wegen einer Heirat sucht, darf die Eheanbahnungsagentur „Elite“ heißen. Für alle anderen haben die tempi passati im Nachklang zu einem flotten Schlager französischer Jakobiner die Zeile zu bieten: Les élites à la lanterne! Die süffisante Frage, ob die Elite verdient, was sie verdient, versteckt in der doppeldeutigen Formulierung die moralische Frage nach dem Wert von Sein und Tun der Elitären. Entspricht das hohe Salär auch wirklich der Qualität.

Der öffentliche Missklang des Begriffs „Elite“ wird gespeist von der Annahme, der Kreis der Auserlesenen bestehe aus Leuten, die sich selbst ernennen, untereinander begünstigen und mit Macht versorgen. Dieses Verständnis hat zur Folge, dass die Feststellung, dass Eliten die Welt nicht vor dem Chaos bewahren können, die Schlussfolgerung anbietet, wenn die Elite nicht die Welt erlösen oder mindestens von Unheil befreien kann, muss man die Welt von der Elite befreien.

Die Wirklichkeit ist eine andere: In der Tat herrschen auch in Demokratien Eliten. Auch in egalitären Gesellschaften gibt es Menschen, die leistungsfähiger als andere sind, und klüger, vielleicht nicht besser, aber erfolgreicher in ihrem Agieren. Genau genommen hat es auch nie die Frage gegeben, ob man Eliten braucht, sondern nur, welche Eliten nötig sind. In geschlossenen Gesellschaften autorisieren sich die Auserwählten untereinander, in offenen, liberalen Gesellschaften bestimmt die große Zahl der anderen, wer zu der kleineren Elite gehört. Das hatte schon der Sozialphilosoph und Nationalökonom Friedrich August von Hayek (1899-1932) erkannt.

Neue globale Eliten
Die neuen Eliten sind globale Eliten, die ihre soziale Einordnung nicht irgendwelchen mehr oder minder dubiosen Privilegien verdanken. Sie sind Bürger wie andere Bürger auch, die aber durch die Wahl- oder Kaufentscheidungen der anderen Bürger in die Rolle von Eliten geraten, sich da aber auch Tag für Tag bewähren müssen. Wem das nicht gelingt, steigt in fast allen privatwirtschaftlichen Bereichen gnadenlos ab. - Die Auto- und Finanzindustrie in der Bundesrepublik konterkariert allerdings gegenwärtig dieses Paradigma.

Die neuen Eliten sind hervorragend ausgebildet, hypermobil, negieren Identitäten, Traditionen und Brauchtum. Sie sind ein Leistungsadel, der sich als antielitär einstuft und nicht den Fehler begeht, sich als Elite zu gerieren. Sie sind eine antielitäre Elite wie die Revolutionäre des späten 18. Jahrhunderts in Frankreich, die gegen die Elite als Institution anrannten, um davon abzulenken, dass sie längst im Absprung auf real existierenden Machtpositionen begriffen waren, um selbst zur Elite zu werden.

Die neuen Eliten sind eine wohlhabende Informationselite, nicht mehr lokal verwurzeltes Besitzbürgertum oder durch die Fesseln einer fragwürdig gewordenen „Ehre“ ausgebremster Erbadel. Moderne Eliten brillieren intellektuell, arbeiten als Angestellte karriereorientiert, unterordnen ihre Lebensweise und Partnerschaften ihrer Tätigkeit und leben in Netzwerken. Weil sie lokal nicht mehr verankert sind, sind ihnen Bindungen an die eigene Familie nicht mehr so wichtig, wie bei ihren Vorfahren; Bindungen an Nachbarn und Mitbürger sind den eigenen Interessen weit nachgeordnet. Es gilt die alte Erkenntnis: Die eigene Familie ist aufoktroyiert, Freunde kann man sich aussuchen und Freundschaften muss man nicht zwangsweise lebenslänglich ertragen. Wer sich über Herkunft, Sprache oder gar Religion definiert, hat sich schon selbst abgeschossen und kaum die Chance, in diesen Leistungsadel aufzusteigen.

Heimat im alten Sinn kennen Elitäre nicht mehr. Sie sind in der ganzen Welt zuhause – genau genommen in den trendigen Zentren dieser Welt. Ihre Sprache ist Englisch, digitale Kommunikation und 24-stündige Erreichbarkeit sind normal. Ihre Haltung gegenüber anderen ist tolerant, lässig und cool. Ihre Abgrenzung von den anderen Bürgern führt zu einer selbstgewählten Isolation. Das Leben in ihrer Blase befreit sie von der Auseinandersetzung mit anderen Seins- und Denkweisen.

„Intellektuelle Idioten“ vom Stamm des Kosmopoliten?
Neue Eliten definieren sich als Rebellion gegen das Mittelmaß, gegen technologischen Rückstand, gegen politischen Reaktionismus, gegen regressive Sexualmoral, gegen durchschnittlichen Geschmack und gegen Selbstgefälligkeit und Selbstzufriedenheit. Neue Eliten wollen Avantgarde des Fortschritts sein, so der weitsichtige amerikanische Historiker und Sozialkritiker Christopher Lasch (1932-1994).

Elitenkritik scheint aber inzwischen zu einer Art von Volkssport zu werden. Deutet der amerikanische Ökonom Richard Florida (* 1957) die Eliten noch als „kreative Klasse“, polemisiert Nassim Nicholas Taleb (* 1960) schon gegen diese „intellektuellen Idioten“, die sich in einer eigenen Blase aus Statistiken, Denkfabriken, Medien und Fakultäten isolieren. Der britische Journalist David Goodhart (* 1956) scheidet die Demokraten nach „Anywheres“ und „Somewheres“. Die Ersteren sind die 20 Prozent der Menschen in entwickelten Gesellschaften, die weltweit gefragt und einsetzbar sind, während die Letzteren in der Regel auch dort sterben, wo sie geboren wurden.

Die Krise der neuen globalen Eliten gewinnt noch einen neuen Aspekt durch die kritische Innenansicht des schweizerisch-israelischen Existenzialpsychoanalytikers Carlo Strenger (* 1958), der sich nicht nur selbst zu dieser Kaste zählt, sondern deren Mitglieder auch auf seiner Couch Platz nehmen lässt. Er sieht die akademisch gut ausgebildeten neuen Eliten in den Medien, der Digitalwirtschaft, in den Bereichen der Kunst und Wissenschaft überproportional vertreten und meinungsbildend tätig. Im Gegensatz zu den herkömmlichen Bildungsbürgern missachten sie den Kanon und die Tradition und handeln eklektisch. Nichts aus Tradition oder Gegenwart hat Selbstwert, sondern muss vor ihrer kritischen Vernunft bestehen, ehe es adaptiert werden kann.

Die Angehörigen der Eliten strahlen einen hohen moralischen Anspruch auf Autorität aus, verfügen gegenüber weniger gut ausgebildeten Menschen über eine argumentative ausgebildete Kompetenz und vermitteln diesen den Eindruck, ihre Ansichten seien nicht mehr gefragt, ihre Sorgen zu klein, um gehört zu werden. In genau diese Kerbe hauen populistische Politiker, die behaupten, den einfachen Leuten von nebenan, dem Volk, wie sie sagen, Stimme und Stolz zurückzugeben. Sie suggerieren einfachen Leuten, sie müssten sich dem angeblich überlegenen Wissen der Bessergebildeten nicht länger fügen. Es kommt nicht von ungefähr, dass Mitglieder der Unter- und Mittelschicht, die von Populisten agitiert werden, das empfinden, was Sozialpsychologen „upward contempt“ nennen, eine gegen „die da oben“ gerichtete Verachtung.

Die Elite selbst versteht sich nicht als Egoisten, sondern als Vertreter eines konsequenten Universalismus. Sie vertreten glühend die Menschenrechte und sehen sich als Anwälte benachteiligter Menschen – allerdings um den Preis, dass ihre globale Perspektive ein Individuum aus Fleisch und Blut leicht übersehen lässt. Das Motto der Gewinner der Globalisierung lautet: „Leiste deinen Beitrag zum Gedeihen von Menschengeschlecht und Planet – oder Du hast Dein Leben verfehlt.“

Diese „verdammten“ Eliten existieren aber nicht nur in einem Dilemma, sondern in etlichen Dilemmata, die Strenger beschrieben hat. Sie leben mit dem Widerspruch, zwar selbst fixe Identitäten als Freiheitbeschränkung abzulehnen, zeitgleich aber eine identitäre Losung zu akzeptieren, an der sie ihresgleichen erkennen: Weltoffenheit und Vielfalt! Zwar lehnen sie engere gewachsene Gemeinschaften ab, die nicht selbst gewählt wurden, bilden aber dennoch eine eigene Identität – den Stamm der Kosmopoliten. Sie kämpfen mit dem Dilemma Freiheit versus Sicherheit.

Dieser Stamm, den ein bemerkenswert soziales Gewissen kennzeichnet, humanistisch mit einem Hang zur Sozialdemokratie, mit der Bereitschaft zu einer gewissen Bereitschaft zur Umverteilung in der Gesellschaft, ist gleichzeitig einem gnadenlosen internationalen Wettbewerb ausgeliefert, den es vorher nie gegeben hat. Er beherrscht kein geschlossenes Territorium, existiert aber in einem weltumgreifenden Raum, in dem sich alle jederzeit mit allen vergleichen und messen. Jedes Stammesmitglied arbeitet ständig hart daran, seinen Rang in der meritokratischen Hierarchie seines Fachgebietes zu verteidigen. Zugleich aber wird der brutale angeblich neoliberale Konkurrenzkampf gebrandmarkt.

Der Begriff der Elite ist inzwischen immer häufiger negativ besetzt. Den Antielitären ist die liberale Elite zu einem Buhmann geworden, der alles manipuliert, alles kontrolliert, alle Fäden zieht. Die gleichen Klischees, die im antisemitischen Diskurs existieren, tauchen wieder auf: Statt der Juden sind nun Eliten entwurzelt, vaterlandslos, verweigern der Heimat ihren Einsatz.

Steht das Erbe der Aufklärung auf dem Spiel? Stehen wir vor einer historischen Zäsur, einem neuen Kulturkampf? In der Tat scheint es um die Zukunft des Westens zu gehen: Soll der Westen noch die liberalen Werte mit ihrem universalistischen Anspruch und der Idee der allgemeinen Menschenrechte vertreten oder sich auf den alten Nationalismus zurückziehen, nur weil dieser für viele Menschen ein Bezugspunkt ist, mit dem sie sich identifizieren können? Wer sind wir: Deutsche, Europäer oder Weltbürger? Egal, nichts führt an der Erkenntnis vorbei, dass sich die anstehenden Probleme nur im globalen Maßstab lösen lassen.

Links oder rechts ist heute nicht mehr unterscheidend. Das einige Paradigma, das noch übriggeblieben ist, scheint der Gegensatz zwischen einem liberalen und einem autoritären Regime zu sein und damit die Frage: Wie viel Freiheit wollen wir in unserem Land haben? Wollen wir den Status des Bürgers rein rechtlich oder ethnisch definieren? Immer bleibt die Frage nach dem Antiliberalismus und mit ihm die Flucht vor der eigenen Freiheit und der damit einhergehenden Verantwortung.

Von der Pflicht der Eliten gegenüber den Antielitären
Der Befund zeigt: Die neuen Eliten haben es schwer ihr Selbstwertgefühl zu wahren. Sie chargieren zwischen Überheblichkeit und Unsicherheit, zwischen einer radikalen Leistungsbereitschaft und der Angst vor totaler Bedeutungslosigkeit. Einerseits schauen sie herablassend auf die Menschen, die sich von Populisten verführen lassen, andererseits leiden sie an ihrem hochreflexiven Habitus, der sie alle Lebensentscheidungen kritisch hinterfragen lässt, von der durch die Grünen diktierten Fleisch-Askese bis hin zur Frage nach einer biologisch akzeptablen Bestattungsform.

Es besteht sicher noch kein Krieg zwischen den maximal 20 Prozent der Eliten und den 80 Prozent Antielitären. Aber wenn die Eliten wieder zu einem positiven Image und ehrenwerten Ruf kommen wollen, der ihrem Anspruch und ihrer Qualität gebührt, dann müssen sie ihre selbstgewählte Isolation aufgeben und das Gespräch mit ihren Mitmenschen suchen. Die „verdammten“ Eliten müssen den ersten Schritt gehen und lernen, den Nichtelitären zuzuhören. Wenn sich die Eliten selbst ernst nehmen, müssen sie sich um dieses Zieles wegen, „die Hände schmutzig machen“ (Strenger).

Moralische und wissenschaftliche Kompetenz dürfen nicht getrennt werden. Das qualifizierte Wissen eines Experten demütigt niemanden. Es führt erst dann zur Demütigung, wenn der Eindruck entsteht, der Einzelne dürfe nicht mehr mitreden oder werde gar nicht mehr gehört. Wer die Verteidigung der freiheitlichen Werte unserer Gesellschaft aufgibt und resigniert, vergibt damit auf lange Zeit die Chance, an der Verbesserung der Welt arbeiten zu können.

 

 

 

 

 

23. Philosophikum 25. - 29. Sept. 2019, Lech: Die Werte der Wenigen. Eliten und Demokratie

Eva Riebler

Eva Riebler berichtet für die LitGes St.P.
26.9., 9 Uhr am Rüfikopf Lech: Philosophieren in hoher Luft
Mit Chefredakteur/in des Magazins „Hohe Luft“ Thomas Vasek als Moderator und Rebecca Reinhard als Vortragende.

Rebecca Reinhard zum Thema: Wozu Philosophie in der Gesellschaft?
Der Philosoph ist nach- und Vordenker. Er will das Chaos ordnen, mit Klarheit die Probleme lösen, so Rebecca Reinhard. Weiters: das Jenseits seiner Prämissen zu leugnen ist Nonsens! Der Philosoph ist nicht Ordnungspolizist, soll nicht Elite sein, sondern gegen die Zirkulation des eigenen Denkens über das Denken hinausgehen. Nicht die Wirklichkeit in den Gedankenkontainer einpassen, sondern die Wirklichkeit erfragen. Nicht die Theorie zum Instrument machen, ohne sie auszuprobieren!

Erfrischende Gedanken, die das geschlossene und für Außenstehende unverständliche System des philosophischen Denkens durchleuchten und den Nutzen einfordern. Die Philosophie soll schließlich nicht nur eine akademische sondern auch eine Lebensphilosophie sein. Rebecca Reinhard beschäftigte sich 8 Jahre lang im Diskurs mir Onkologie- und Schizophrenie-Patienten, um nicht in die Falle der selbstgefälligen Philosophin zu tappen. Ihrer Meinung nach, soll die Philosophie nicht nur belehren, sondern sie ist lebbar.

Ludwig Wittgenstein meinte ja: „Philosophie hat nur Sinn, wenn sie Wert hat für das Leben der Menschen“.  Viktor Frankl forderte schon verständliche und relevante Philosophie. Sie kommt aus dem Verstand wie dem Gefühl.

Ein gutes Fazit: Die Philosophie soll sich von dem Absolutheitsanspruch verabschieden! 

 

Eröffnungsrunde mit einem Magma Impuls-Forum mit Frank. A. Meyer, Julya Rabinowich, Dirk Schümer und Bernd Stegemannn zum Thema: Oben und Unten. Links und Rechts: Gespaltene Gesellschaft

Von Ibbsens „Volksfeind“ bis Hitler, Stauffenberg zu Trump oder Greta Thunberg – buntgereiht in Argumentation und Zitierfreude. Von der  Erörterung der Bedenken und Wünsche, dass die Medien wissenschaftlich diskutieren und nicht predigen sollen bis zur Meinung, dass Missionsgestik und ein Zuviel an Moral zum Gegenteil führen kann – ging der stimmuliernde Reigen, der dann durch Referate von Landesstathalter K. Rüdisser, Bundesminister G. Blümel und DI G. Apfalter über die Mobilität der Demokratie ergänzt wurden.

Das Einführungsreferat des Initiators des Philosophikums Lech – Konrad Paul Liessmann – beschäftigte sich mit dem Titelgebenden Thema: Die Werte der Wenigen. Eliten und Demokratie.

Liessmann lässt der Kritik und der Verteidigung der Eliten großen Raum und wirft die Fragen auf: Wer sind die Eliten? Wie bilden sie sich, wer gehört dazu? Wie leben sie und wie unterscheiden sie sich von den anderen? Problematisch wird es ja, wenn die Eliten die Gleichheit der Menschen verkünden. Das Vorrecht der Geburt wird da gekappt usw., so Liessmann. Sobald Menschen tätig sind, sind sie fleißig oder weniger fleißig, fähig, genial oder nicht. In Kunst, Wissenschaft und Sport gibt es selbstverständlich verschiedene Niveaus. In der Funktionselite Sport ist dies ja auch leicht messbar.

Im Bereich der Teilhabe an der Politik-Elite ist es paradox, da in der Demokratie die Teilhabe keine individuell erbrachten Leistungen, Eigenschaften oder Fähigkeiten voraussetzt, sondern durch die Zugehörigkeit zu einer Partei passiert. Und, setzt Liessmann fort – die einzigen Kriterien für aktives Wahlrecht sind Alter und geistige Zurechnungsfähigkeit. Der Ruf nach Bildung ist allerdings auch vernachlässigbar, „denn diese stellt kein signifikantes Kriterium für die Selektion besonders fähiger und verantwortungsbewusster Politiker dar“. Der Gedanke an eine Los-Entscheidung statt einer Besetzung politischer Ämter nach Wahlergebnissen mag sinnvoll sein, „denn jeder Bürger ist für solch ein zeitlich begrenztes politisches Amt gleichermaßen qualifiziert.“

Weiters stellt Liessmann fest: „Es gehört zum Wesen einer elitären Weltordnung in einer demokratischen Gesellschaft, dass Werte eine Doppelfunktion bekommen: sie müssen erkennbare Merkmale für die Zugehörigkeit zu einer Elite darstellen und gleichzeitig als allgemeingültig und für jedermann erstrebenswert deklariert werden.“

Bildung für alle, ist eine ideale Norm. Doch nicht jeder Schuster las nach getaner Arbeit Homer, wie es sich Wilhelm von Humboldt schon erträumte.

„Die Werte verlieren außerdem durch den rhetorischen Anspruch auf Universalisierbarkeit ihren Schutz vor den Zugriffen der Vielen.“, so Liessmann. Wo viele sind, ist die Elite schon weg. Allerdings benötigen wir Menschen, die in ihrem Metier gut sind und sich einsetzen, ob „mit Leidenschaft und Ehrgeiz“, wie es Liessmann fordert, sei meiner Meinung nach unbedingt wünschenswert, aber vielleicht schon illusorisch.

Philosophicum Lech Sept. 2018

Die Hölle, Kulturen des Unerträglichen

Weit über 600 Teilnehmer aus nah und fern fanden sich Ende September wieder beim Philosophicum Lech in dem bekannten Wintersportort in der Neuen Kirche, dem Austragungsort des Symposions, ein. Letztes Jahr 2017 war Mut zur Faulheit Thema, heuer Die Hölle und ab 25.9.2019, beim 23. Philosophicum wird es heißen: Die Werte der Wenigen. Eliten und Demokratie. (Anmeldung ab April www.philosophicum.com)

Friedrich Hebbel (1813-1363) meinte lakonisch „Alle edlen Menschen gehen durch die Hölle des Lebens, die anderenstehen davor und wärmen sich die Hände”. - Soweit der Trost für uns Edlen!

Als Denkende, vielleicht auch edel Denkende, heißt es allerdings zu handeln, falls wir die Worte Dante Alighieris (1265-1321) an uns heran lassen: „Der heißeste Platz der Hölle ist für jene bestimmt, die in Zeiten der Krise neutral bleiben.” Die Ausrede a la Sartre. „L`enfer, cést les autres. - Die Hölle, das sind die anderen!” gilt nicht, denn er meinte in seinem Drei-Personen-Stück keine Lebenden, sondern Tote, die sich im geschlossenen Raum gegenseitig das Sein, das Tot-Sein – nicht das Leben - zur Hölle machen. Dies dachte er als ein pädagogisch wertvolles Abschreck-Stück!

Genauso sollten seit je her, die expliziten, grauslichen Vorführungen der Bestrafung der Sünder, seien sie bildhaft oder schriftlich – noch besser wirksam in Form der gesprochenen Predigt –, vorm Sündigen warnen.

Jedoch: Nicht an die Hölle, die uns vorgeführt wird, glauben wir heutzutage, sondern an das Prinzip Hoffnung! So oder so ähnlich werden die Besucher des 22. Philosophicums dann am Ende der Tagung in Hoher Luft sagen. Denn, die Hölle machen wir uns selbst, so Jörg Baberowski in seinem fundierten Vortrag. Auch Josef Imbach gibt dem Raum der Hölle in der christlichen Kunst seine Bedeutung. Ein Raum ist von vornherein schon anzufüllen - und in diesem Fall mit Schrecken und Qualen, die abschrecken und so quälend sein sollen, dass sie sich in Hirn und Gedächtnis einschreiben sollen. Die Hölle ist menschlich, das Paradies ist es nicht, so Baberowski. Er zitiert Nietzsche: „Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt. Nur was nicht aufhört, weh zu tun, bleibt im Gedächtnis.” Ein gewitzter Mitteleuropäer entkommt den schmerzenden Höllen- oder Fegefeuern. In Mozarts Zauberflöte singt z.B. Pamina: wir wandelten durch Feuergluten / bekämpften mutig die Gefahr”. Aber es hat halt nicht jeder eine Zauberflöte mit! Der Vortragende Manfred Koch braucht die grausigen, zerfleischenden Teufelsmonster aus Dantes „Divina Commedia” gar nicht anschaulich machen. Denn ein gelernter Christ, wie auch ein agnostischer/nihilistischer Philosoph, kennen diese Höllenkreise. Warum sei Dantes Inferno dann werks- und wirkungsgeschichtlich trotzdem interessant?, fragt Manfred Koch in seinem Vortrag und antwortet sogleich: „Weil alles drinnen ist, was das menschliche Leben ausmacht. Von ergreifender Liebe, psychischer Verwirrung, religiöser Inbrunst, philosophischem Ernst..“. Außerdem ist diese Höllenwelt der Toten ein Spiegel für die Kämpfe der Mächtigen oberirdisch. In seiner Eröffnungsrede hatte der Initiator des Philosophicums, Konrad Paul Liessmann am 20.9. bereits gemeint:
die Hölle gehe durchaus mit der Zeit und antwortet auf jene Vergehen, die etwa in der Antike und ihre Unterwelt nicht kannten. Z.B. das Verbreiten von Fake-News muss geahndet werden. In heutigen Zeiten geht es ja vielfach um die Ortung von Fake- News. Ein Schulfach sollte dem Abhilfe schaffen, meinte Bernhard Pörksen aus Tübingen in seinem Vortrag: „Nackte Helden. Vom Terror der Sichtbarkeit - Autoritätsverlust im digitalen Zeitalter”. Natürlich gab es vor Dante und nach der Antike genauso die lustvolle Schilderung der Höllenqualen. In der Petrusapokalypse, entstanden zwischen 120 und150 in Ägypten wird die Finsternis und Strafe der Gottesferne geschildert. Es soll die Gerechtigkeit Gottes gepriesen werden - so Josef Imbach in seinem Vortrag - und doch stet die gehässige Vergeltung und Rache derjenigen zur Debatte, die sich schuld- und sündelos glaubten. Schadenfreude und die Möglichkeit nackte Haut zeigen zu dürfen, mag an der Entstehung großen Anteil gehabt haben.  

Aber im Prinzip ist ja Hölle nicht für uns Menschen! Bereits Ludwig Wittgenstein meinte 1931: „Im Christentum sagt der liebe Gott gleichsam zu den Menschen: spielt nicht Tragödie, das heißt Himmel und Hölle auf Erden. Himmel und Hölle habe ich mir vorbehalten.“

Die Hölle will niemand und doch bereiten wir uns sie, sei es in der Familie, durch Gewalt oder zu enge Berührungspunkte. Adelheid Kastner, Leiterin der Klinik für Psychiatrie mit forensischem Schwerpunkt in Linz hatte den Fall Josef Fritzl und die Missbrauchsfälle im Stift Kremsmünster begutachtet. Sie führt anschaulich zwei ihrer Fälle vor und zeigt, wie im Affekt gemordet werden kann, wenn sich allzu lange Not und Leid aufgestaut hat oder wie Beleidigung und auswegloses Zur-Seite-Geschoben-Werden gewalttätig machen kann. Das Ausweglose war schon stets ein grundlegendes Merkmal der gespürten Zwischenmenschlichen-Hölle auf Erden. In der Familienhölle - Die Tücken der Blutsbande, so der Titel des Vortrages von Barbara Bleisch geht es um bekannte Phänomene der Familienstruktur. Das Nicht-Entrinnen-Können oder Schuld-und vermeintliche Pflicht-Gedanken können zum Desaster führen. Jedoch bringen Familienbande auch Vertrauensvorschuss, bedingungslose Anerkennung und im besten Fall sogar Liebe für das Familienmitglied. Und wir sind ja keine Inseln, sondern soziale Subjekte und die brauchen Zuneigung, Bestätigung und Aufmerksamkeit, auch wenn wir keine Narzissten sind! Oft gibt es im Leben ein Desaster und auf dem Weg der Ausweglosigkeit oder Schwachheit stürzt sich so mancher in die Sucht.

Reinhard Haller, Psychiater, Neurologe und Psychotherapeut aus Feldkirch referiert zu diesem Thema:. „Vom Himmel des Rausches zur Hölle der Sucht“. Rausch und Sucht sieht er als ein Modell des Zusammenspiels, der Zusammengehörigkeit von elysischem Glück und quälendem Siechsein. Die Pole limitieren sich durch den jeweils anderen. Für ihn ist Sucht ein Versuch einer Selbstheilung, einer „Selbstmedikation“ des Abhängigen. Allerdings eine gründlich danebengehende. „Statt zur positiven Entrückung kommt es zur pathologischen Verrückung, schon gar nicht zur Entzückung, sondern zum Horror“, meinte Haller. Das eigentliche Wesen der Sucht würde im zunehmenden Dominieren des Suchtverhaltens sowie im parallel dazu entstehenden Autonomieverlust des konsumierenden Individuums liegen. Eine Hölle, der man durch Entzug vielleicht entkommen möchte. Allerdings entwickelt sich für Patient/in wie Betreuer/in dann der Entzug zur vielleicht noch größeren Hölle. Man sollte den Rausch domestizieren – oder wie schon der griechische Philosoph der Antike Platon meinte, ginge es darum: „in der Befriedigung seiner Begierden Herr seiner selbst zu bleiben“.

Reinhard Haller ist hier Experte. Seine Werke: (Un)glück der Sucht. Wie sie ihre Abhängigkeit besiegen 2007; Das psychiatrische Gutachten 2008; Das ganz normale Böse 2009; Die Narzissmusfalle: Anleitung zur Menschen- und Selbstkenntnis 2013; Die Macht der Kränkung 2015; Nie mehr süchtig sein - Leben in Balance 2017. Interessant ist, dass aus dem Nahen Osten die Ursprünge des Alkohols oder andere Rauschsubstanzen kommen. So wurden die ältesten Reste einer Brauerei in einer Höhle südlich von Haifa, rund 13.ooo Jahre alt. Natürlich wurde das bierähnliche Getränk zu Ehren der Götter getrunken. Die Höhle diente in der Kultur des Natufien (12.500 - 10.000 vor Christus) als Grabstätte. Es war die Zeit der Sesshaftwerdung. Der spätere Dionysos-Kult zeugt ja auch von halluzinatorischen Substanzen.

Rauschmittel sind also Speisen der Götter und wurden oder sollte man sagen - werden - als Elixier des Himmels beschrieben, Himmel und Hölle gibt es natürlich auch im Islam. Allerdings werden in dieser Religion die Freuden des Himmels etwas öfter und ausführlicher geschildert als im Christentum. Die Salafiten sind für ihre grauenhaften Schilderungen der Höllenqualen berüchtigt. - Jedenfalls haben wir in Mitteleuropa seit der späten Renaissance die Schilderungen der Höllenqualen nicht mehr so präsent. Womit der Kreis der intensiven Höllenschilderung sich im Heute schließt.

Mit Oscar Wilde (1854-1900) wäre noch zu bemerken: „Jeder von uns ist sein eigener Teufel, und wir machen uns diese Welt zur Hölle.”