11. Philosophicum Lech: 3. Tag, Bruno Binggeli - Part 12

3. Tag

Bruno Binggeli

Der einzige Naturwissenschafter im 11. Philosophicum ist der Astronom Bruno Binggeli.
In seinem neuesten Buch „Primum Mobile. Dantes Jenseitsreise und die Kosmologie“ (Verlag Ammann 2007) beschreibt er eine Reise zum Ursprung der Dinge, zum Urknall unter anderem mit Himmelsforschern aus dem Mittelalter wie Dante, und erklärt, dass das Mittelalter und die Moderne sich viel näher sind, als man glaubt.

In diesem Zusammenhang zieht Binggeli in seinem Vortrag „Physik als Quelle der Spiritualität“ einen Weg von Gretchen zurück zu Beatrice - Gretchen als Fausts Geliebte im Vergleich zu Dantes früh verstorbener Liebe Beatrice Portinari, die in seinem bekanntesten Werk, der köstlich, göttlichen Commedia als Führerin am Weg des Erzählers zum Fegefeuer und durch das Paradies wieder auftaucht.

Laut Binggeli gleicht Dantes Sphärenflug dem virtuellen Vorstoß der Astronomen und Quantenphysiker zum Big Bang. Dante wäre durch seine Anima, durch Beatrice geleitet, doch wodurch würde die Wissenschaft geleitet werden?

Die Begegnung von Physik und Religion sei eine sehr beliebte. Doch sei sie nur auf der Ebene der psychologischen Symbolik möglich, eröffnet Binggeli. Als Pionier dieses Ansatzes nennt Binggeli den Physiknobelpreisträger und C. G. Jung-Freund Wolfgang Pauli.
Das Verhältnis zwischen Religion und Wissenschaft sei jedoch seit Galilei problematisch. Die vorwiegend pragmatisch agnostische Einstellung der Forscher in den Bereichen der Relativitätstheorie und Quantenphysik habe uns entscheidend geprägt. Für Binggeli ist jeder Fortschritt mit einem Seelenverlust gekoppelt. Es verhalte sich wie bei einem Glas Wasser - ein Schluck Wissenschaft führe zum Atheismus, doch am Ende warte Gott.
Die Frage warum eine „von Männern dominierte Disziplin wie die Physik […], selbst zur Quelle der Spiritualität wird“, beantwortet Binggeli in einem Satz: „Weil man seit dem 20. Jahrhundert nirgendwo wie in der Physik so deutlich an die Grenzen der Erkenntnis stößt, und weil die in der Folge vollzogene Abkehr vom materialistischen Weltbild starke Impulse auf unser religiöses Leben überträgt.“

Hier erweitert Binggeli die Begegnung zwischen Physik und Religion auf drei Ebenen:
1. Substantielle Ebene
2. Symbolische Ebene
3. Ethische Ebene

 
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1. Substantielle Ebene
In der substantiellen Ebene käme die Physik der Religion gleich, wenn physikalische Erkenntnisse als theologischen Wahrheiten oder gar als Dogmen übernommen würden. Die Möglichkeit rühre daher, dass sich sowohl Physik, wie auch Religion mit den letzen Dingen beschäftigten. Die Quantenphysik liefe somit auf eine All-Einheitslehre hinaus und münde in eine unio mystica.

2. Symbolische Ebene
Wolfgang Pauli sei nicht in die Falle der substantiellen Ebene getappt, nicht nur weil er einer der großen Genies der Physik war, sondern weil er mit den Lehren C. G. Jungs vertraut war. Paulis Forderung ging dahin das Psychische dem Physischen als etwas Komplementäres zur Seite zu stellen und führe zu einer Rückgewinnung der vita contemplativa, der Spiritualität.

3. Ethische Ebene
Die Wissenschaftskritik führe Binggeli weiter auf die ethische Ebene, die nicht nur seit dem „Sündenfall“ der Atombombe ein Thema ist. Auch dürfe man das Verhältnis von Wissenschaft und Wirtschaft nicht außer Acht lassen. Hierbei zitiert Binggeli Peter Sloterdijk aus seiner Sphärentrilogie in der der Philosoph von einer durch Aufklärung erworbene metaphysische Immunschwäche spricht. „In der menschlichen Befindlichkeit und seiner Äußerung aber kann es nach der Weltbildkatastrophe der Neuzeit nur noch einen Pluralismus geben. So gleicht die heutige Lebenswelt nicht mehr einer Sphäre, sondern einem aus vielen Bläschen bestehenden Schaumgebilde (- soweit Sloterdijk extrem gekürzt).“

Binggeli warnt vor dieser „Entweder-Oder Logik“ Sloterdijks, man müsse die „Sowohl-als-Auch Logik“ der modernen Physik endlich ernst nehmen.

Schlussendlich gilt für Binggeli, wie übrigens für viele Naturwissenschaftler, den Blick zum Himmel nicht zu verlieren.

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