Wir sind noch einmal davongekommen: Thornton Wilder. Rez.: Ingrid Reichel

Ingrid Reichel
Kein Davonkommen...

1.
Saison-Eröffnungsfestrede: Martin Wuttke mit einem Text von René Pollesch

 

2.
Wir sind noch einmal davongekommen
Thornton Wilder

Original: The skin of our teeth (1941)
Uraufführung: Oktober 1942, Shubert Theatre, New Haven/ Connecticut
Deutsche Übersetzung: Hans Sahl
Landestheater NÖ, Großes Haus
Premiere: 06.10.12, 19.00 Uhr
Regie: Daniela Kranz
Dramaturgie: Bettina Hering
Darsteller: Ensemble des Landestheaters NÖ
In den Hauptrollen: Babett Arens, Franziska Hackl, Michael Scherff
Bühne und Kostüme: Bettina Kraus
1.55 Stunde, inkl. Pause

1. Zur Eröffnung der neuen Saison wurde das Theaterfoyer umgestaltet und der berühmte deutsche Mime Martin Wuttke eingeladen die Festrede zu halten, der Text stammte von dem genialen deutschen Dramatiker und Regisseur René Pollesch. Mit dem Satz "Die Beleuchtung hat gewechselt, wenn Sie verstehen, was ich meine […]" wurde hier sensibel und humorvoll auf den Wechsel der Intendanz hingewiesen. Nach dem siebenjährigen Erfolgskonzept der Intendantin Isabella Suppanz wechselte das Landestheater in die Hände der 1960 in Zürich geborenen Bettina Hering. Sie studierte Germanistik, Philosophie und anthropologische Psychologie.

Polleschs Texte sind schwierig, meist bietet er ineinander verkeilte philosophische Ansichten, die alles auf den Kopf stellen und immer die menschliche Zerrissenheit anvisieren. Den Schlag auf Schlag Abtausch, als ob der Redner ein Tennismatch gegen sich selbst spielte, meisterte Wuttke wieder einmal bravourös. Wuttke erzählt vom Glamour und von dem Genuss, den wir aus der Verachtung ziehen, von der Liebe und den Besitzansprüchen, vom Schein, der mehr als das Sein bedeutet: "Die große Geschichte darf hohl bleiben, für die Untenstehenden muss es aussehen als ob." und "Nichts muss mit Wahrheit bestückt sein, um wahr zu sein." Das Theater als Quelle des Genusses und des lustvoll Erhabenen bleibt also eine Frage des Lichts.

2. Bettina Hering hat ihre erste Saison im Landestheater NÖ unter die Parole "Mit subversivem Humor zur Gegenwartsbewältigung" gestellt. Wir leben in unsicheren Zeiten, die Welt steht politisch, klimatisch, ideologisch und ökonomisch in einem rasanten Wandel und Thornton Wilders Dreiakter "Wir sind noch einmal davon gekommen" wird dieser unsicheren Sachlage gerecht, meint Hering.

Der renommierte US-amerikanische Schriftsteller Thornton Wilder (1897-1975) erhielt für dieses Stück seinen dritten Pulitzer-Preis 1943. Die deutschsprachige Erstaufführung fand im März 1944 im Schauspielhaus Zürich statt. Mit diesem Stück durchfegt Wilder im rasanten Tempo die Geschichte der Menschheit, welche gebeutelt durch Chaos und Katastrophen sich immer wieder aufrichtet. So widerspiegelt sich das Schicksal der Menschheit, wie durch ein Stargate gesehen, als das ewig Gleiche nur mit austauschbaren Charakteren. Revolutionär für die damalige Theaterwelt war die Gleichzeitigkeit des Zeitablaufs von Historie und Gegenwart sowie die Austauschbarkeit der Rollen in einer Person auf der Bühne. Innovativ war auch das Involvieren des Publikums. So spielt sich der eigentliche Inhalt im Rahmen einer Theaterprobe ab, wo die Schauspieler sich fallweise sträuben, gewisse Szenen zu spielen, sich direkt mit persönlichen Belangen an das Publikum wenden und das Stück an sich in Frage stellen.

Im Mittelpunkt des Stücks steht das Ehepaar Antrobus und seine beiden Kinder Gladys und Henry. In Mr Antrobus, gespielt von Michael Scherff, sehen wir den Urmenschen verkörpert, in seiner biblischen Dimension, den ewigen Adam. Der Mann als Genius und Erfinder des Alphabets und des Rades ist als Ernährer und Beschützer der Familie dem patriarchalischen Muster erlegen. Die Frauenwelt erzittert um sein Wohlergehen, denn wenn er nicht mehr ist, was soll dann werden?
Seinen Gegenpart als Eva bzw. Ehefrau spielt Babette Arens. Sie ist Hüterin des Feuers, Kindererzieherin und immerhin Erfinderin der Schürze. Sie ist diejenige, die alles zusammenhält und den Haushalt führt.

Da Mr und Mrs Antrobus die essentiellen Katastrophen der Menschheit von Eiszeit (1. Akt), Sintflut (2. Akt) und Krieg (3. Akt) durchleben, ist auch die Frucht ihrer Lenden austauschbar. In Pascal Gross als Sohn Henry sehen wir Kain aufblitzen, der seinen Bruder Abel mit einem Stein erschlagen hatte. Mit seiner Narbe auf der Stirn ist er als Böser gezeichnet. Immer wieder ermahnt die Mutter den mit Steinschleuder und kurzer Hose herumlaufenden lästigen Buben, das Schandmal mit seiner Frisur zu verdecken. In der Rolle der pubertierenden Gladys sehen wir Marion Reiser. Überschminkt will sie einerseits den Vater betören und andererseits ihn mit ihrem Wissen beeindrucken. In der um väterliche Liebe und Anerkennung ringenden Göre stecken die dämonischen Figuren der Lilith.

In dieser familiären Konstellation existiert noch das Hausmädchen Sabina, gespielt von Franziska Hackl. Sie verkörpert in guten Zeiten das ewig lockende Weib, den Sündenfall der Menschheit, der die Familie zu zerbrechen droht. In schlechten Zeiten muss sie sich jedoch mit der Rolle der Dienstmagd begnügen, denn im Ernstfall kann sie weder das Feuer hüten, noch das Haus halten.

Wilder schrieb das Stück zehn Jahre nach der Weltwirtschaftskrise von 1928-1930 und als der in Europa stattfindende 2. Weltkrieg auch die USA erreichte (am 08.12.1941 erklärte die USA Japan, am 11.12.41 Hitler-Deutschland der USA den Krieg). Die Familie Antrobus verkörpert die brave Mittelschicht, die den amerikanischen Traum lebt: Sie übersteht die dem Untergang geweihten und als Haustiere gehaltene Dinosaurier, überwindet die Weltwirtschaftkrise, obwohl sie den Flüchtlingen aller Herren Länder ihr letztes Brot gibt und überlebt den Krieg als Befreier der Welt vor dem Bösen. Das Stück wurde seinerzeit als Drama mit einer Portion Selbstironie bewertet. Die Ambiguität von Gleichgültigkeit, Mahnung und Hoffnung steht im Vordergrund.

Insofern hat dieses Werk tatsächlich Gegenwartscharakter, obwohl sich die Menschheit seit den 40er Jahren verdreifacht und sich daher die Problematik von Welternährung, Klimaschutz und Ressourcenknappheit exponentiell verschärft hat. Mittlerweile hat sich die Rolle der Frau zumindest in der westlichen Sphäre zum Positiven entwickelt und Amerika hat als Befreier-Nation an Sympathie eingebüßt.

Der subversive Charakter des Werkes ist jedoch in den 40er Jahren steckengeblieben, wiewohl man dem Stück in seiner Inszenierung auch nicht in die Gegenwart und somit zur Modernität verhalf. Stattdessen übernahm man es mit Punkt und Komma und strich gerade jene Partie, die zu Klarstellung des kritischen Aspekts gedient hätte.

Auch wenn Wilder in der Menschheitsgeschichte ein immer wiederkehrendes Chaos sieht, so leugnete er nicht die Weiterentwicklung der Menschheit. Der Mensch, so auch Mr Antrobus erfindet das Rad schließlich nicht täglich aufs Neue, sondern baut auf seinem Wissen auf. In dieser Aufführung hat man jedoch den Eindruck die Menschheit komme nicht vom Fleck. Wilder rüttelt für seine Zeit massiv an der Rolle der Frau. Sie ist die Hüterin des Feuers, sie ist diejenige, die Kinder gebiert und diejenige, die das Haus hält. Das ist eine andere Aussage als der Mann ist und bleibt der Bunga-Bunga-Typ und das Frauchen auf seiner Seite das Dümmchen am Herd.

Am Ende des zweiten Akts, bevor die Sintflut über die Menschheit kommt und die Familie Antrobus sich in die Arche Noah rettet, wirft Mrs Antrobus für die Nachwelt eine Flasche mit einer Botschaft ins Meer: "[…] in diesem Brief steht alles, was man als Frau weiß. Man hat das noch keinem Mann gesagt, und man hat das noch keiner Frau gesagt, und wenn der Brief seinen Bestimmungsort erreicht, kommt eine neue Zeit."

Die dramatische Botschaft von Mrs. Antrobus geht jedoch leider durch die hysterische und hektische Darbietung unter und mündet stattdessen in einer klamaukigen Interpretierung, schlimmer noch, sie gibt sie der Lächerlichkeit preis. Die Originalversion lautet der Vollständigkeit halber so: "Wir sind nicht so, wie Bücher und Theaterstücke uns zeigen. Wir sind nicht so, wie die Werbung uns zeigt. Wir sind nicht so wie im Film, und wir sind nicht so wie im Radio. Wir sind nicht so, wie man es euch allen sagt und wie ihr euch das vorstellt: Wir sind wir selbst. Und wenn ein Mann eine von uns finden kann, dann begreift er, warum die ganze Welt sich dreht. Und wenn ein Mann einer von uns ein Leid antut, dann wäre seine Seele - die einzige Seele, die er besitzt - besser auf dem Grund dieses Ozeans, - nur so kann man das ausdrücken." (Mrs. Antrobus, zum Ende des 2. Akts).

Die von der Regie angeordnete konstant überzogene Darstellung der Geschlechter, erstickt die von Wilder aufkeimende Frauenemanzipation. Hier wurde tatsächlich kein Klischee ausgelassen, um auf plumpe Art den biblischen Unterschied zwischen Mann und Frau wiederzubeleben. Es war nicht gerade die humorvolle Gegenwartsbewältigung, die dem St. Pöltner Publikum zur Saisoneröffnung präsentiert wurde, sondern eine sehr kindlich naive Sicht der Dinge.

Das Stück beginnt übrigens mit der Suche nach der legitimen Besitzerin des im Theater gefundenen (Ehe)rings mit der Gravur "Für Eva von Adam. Genesis 2,18". Es ist gar zu verständlich, dass die Evas dieser Welt sich nach dem zweiten Akt in der Pause aus dem Staub gemacht haben, und den Ring im Theater gerne zurückließen, somit auf den dritten Akt verzichteten, um einfach von diesem theatralischen Elend davonzukommen, und um mit dem letzten Rest ihres übriggebliebenen Humors noch das anstehende Leben zu bewältigen: Denn wer von den Evas dieser Welt will trotz ewigen Lebenskreislaufs wieder im Jahre 1940 von vorne beginnen? Sogar Wilder hat die Zeit chronologisch weiterlaufen lassen … die Botschaft der Mrs Antrobus wurde gefunden, eine neue Zeit ist angebrochen.

Zur Erinnerung: Subversion bedeutet im Allgemeinen, bestehende soziale Ordnung wie Autoritäten, gesellschaftliche Zugehörigkeiten und Hierarchien, Ausbeutung von Gruppen, Machtkonzentrationen, usw. in Frage zu stellen bzw. verändern zu wollen. Doch genau das wurde dem Stück genommen.
Eine bedauerliche Inszenierung der 1968 in Bielefeld geborenen Regisseurin Daniela Kranz … schade.
Es bleibt abzuwarten, um Polleschs Bild seiner Festrede wiederaufzunehmen, mit welchem Licht man im Landestheater NÖ weiter operieren wird.

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