Literatur und Kalkül.

Literatur und Kalkül.

Ein Essay über das Echte und Berechnende von Schreibmotiven.

Von Friedrich Hahn.

 

Erst wollte ich mir nur den Frust über ein bestimmtes Buch von der Seele schreiben. Auf Facebook hatte ich mich zu dem Romanerstling einer sonst als Kabarettistin performenden Neoautorin geäußert. Unter anderem schrieb ich, dass es um Literatur gehen müsse, wenn wir über Literatur reden wollen, dass diese Person sich als künstliches Püppchen inszeniere. Und dass ich der Ansicht sei, dass Literatur Echtheit und Authentizität voraussetzt.

Ich hatte das Geplänkel schon vergessen, vor allem wollte ich diese künstliche Figur mit diesem unsäglichen Roman nicht noch ein Forum bieten, allein dadurch, dass ich dann ihren Namen oder den Titel ihres Romans erwähnen müsste, als mich eine Facebookerin in einem Kommentar fragte, was ich denn unter <echt> verstünde.

Ich fühlte mich herausgefordert. Da tauchte es auf, dieses Wort: Kalkül. Mir fiel aber nicht gleich etwas Brauchbares dazu ein. Schreibt man nicht immer mit einem bestimmten Vorsatz? Thematisch? Und überhaupt? Ich lenkte mich ab. Mit Literatur. Mit Literatur meiner Wahl und nach meinem Geschmack. Also auf in die Buchhandlung.

Ich kam mit 2 Büchern heim. Von Monika Maron hatte ich so ziemlich alles gelesen. Zuletzt ihren Munin. So war ich auch auf ihren neuesten Roman Artur Lanz neugierig. Von Ulrike Draesner kannte ich nicht so viel. Ihre Romane Mitgift und Lichtpause hatte ich nur angelesen, aber ich hatte sie auf dem Stapel <Möchteichdemnächstlesen> deponiert. Ihr neuer Roman Schwitters interessierte mich schon deswegen, weil der Dada-und Merz-Künstler mein eigenes, frühes Schreiben beeinflusst hat.

Für den Artur Lanz brauchte ich nur drei Nachmittage. Die Geschichte von Artur Lanz und der Ich-Erzählerin Charlotte Winter liest sich süffig und muss hier nicht eigens nacherzählt werden, sie ist in den diversen Besprechungen nachzulesen. Die Maron kann erzählen. Und sie erzählt am liebsten gegen den Strom, gegen den Mainstream. War es in Munin die Ausländerfrage, zweifelt sie in Artur Lanz u.a. an den Zielen des Feminismus bzw an deren Mitteln, um diese Ziele zu erreichen. Kaum erschienen, hagelte es auch sogleich harsche Kritik. So hieß es auch über Artur Lanz wieder schnell: Hände weg und Fatale Thesen (Achgut.com). Und schon steht Monika Maron wieder im rechten Eck. Genau das ist es, was zu denken gibt. Steht man automatisch im rechten Eck, wenn man etwa den Verlust der männlich konnotierten Eigenschaften wie Mut, Entschlossenheit und Durchsetzungskraft konstatiert? „Sie wünschte, die ganze Welt würde weiblicher werden, dann wäre sie auch friedlicher. Mir entfuhr ein hörbares Stöhnen.“ Die fast 80-jährige Maron nimmt sich kein Blatt vor den Mund. Und wie ich es schreibe, fällt mir wieder das Schlüsselwort ein: Kalkül. Ist es Kalkül, gegen den Mainstream anzuschreiben? Die Antwort gibt das Buch: „Kann man jemanden nur verteidigen, wenn er recht hat? Ist es auch nicht ein Recht, unrecht zu haben?“ Artur Lanz ist ein Buch über den Mut. Und genau den hat die Autorin bewiesen. Und es ist ein Plädoyer für eine Meinungsfreiheit ohne Wenn und Aber. Genau davon handelt das Buch. Kalkül? Nein, Kalkül kann ich darin nicht erkennen. Im Gegenteil. Es ist so ziemlich das ehrlichste Buch, das ich in letzter Zeit gelesen habe. Und noch dazu ein gutes Stück Literatur. Ein sehr gutes Stück Literatur.

Ich machte mich an Draesners Schwitters. Ein Mammutunternehmen. Für die Autorin gewiss wegen des Rechercheaufwands. Für den Leser wegen der Dichte und des Umfangs von 471 Seiten. Draesner schreibt um ihr Leben, das in Fallvon Draesner Schwitters das von Kurt Schwitters ist. „Manche sagen, eine Person sei wie ein Gebäude. Als Gebäude hat eine Person Fenster und Türen.“ Die Türen, die Draesner für uns zu „Körrt“ öffnet, führen stilistisch mitten ins Werk von Schwitters, mitten hinein in den Merzbau. Draesner Satzgebilde gleichen „Raketen, Kaminen und Spindeln“, ganz so wie Schwitters/Draesner den Merzbau sah: „Hier steckt man einen Finger in den Schlitz, dort hielt man die Nase an ein Loch und wurde aufgesogen von Erinnerungen, Bildern, Ideen.“ Manche Tür führt auch ins Kryptische („…er traute sich in keiner Sprache mehr über den Weg.“): „Summend. Teestill. Bleibestill. Kurt im Verschiebeglück.“ Ja, so etwas lässt sich nicht lesen wie der Lanz. Da muss man sich Wort für Wort, Satz für Satz auf den Text einlassen. Das strengt an. So war ich nach einer Woche erst auf Seite 268, nach drei weiteren Wochen kam ich dann schlussendlich auf Seite 471 an.

Fast hätte ich vor lauter Dada vergessen, was mein Thema ist. Ach ja: Literatur und Kalkül. Wie bei Maron kann ich bei Draesner kein Kalkül erkennen. Zwar könnte man meinen, dass Draesner sich die Biografie eines berühmten Künstlers vorgenommen hat, um damit zu reüssieren. Aber dafür ist mir der Roman zu engagiert, zu stimmig, zu authentisch, Ulrike Draesner zu sehr im Kopf von Kurt Schwitters. War ihre liebste Betätigung in der Kindheit doch auch das Zeichnen und Malen, wobei sie sich dabei meist unter Tischen verkrochen hat.

Ein Satz des Kritikers Ijoma Mangold bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: „Wo nichts geziert ist, ist alles berührend.“ Draesners Schwitters-Roman ist berührend. Trotz der Text-bzw Kopflastigkeit. Oder vielleicht gerade daher.

In der Post eine Gewinnnachricht. Ich habe ein Buch gewonnen. Jetzt dürfen Sie raten, welches. Richtig. Ich bin so überhaupt nicht berührt. Nicht wegen der Tatsache, dass ich erstmals in meinem Leben etwas gewonnen habe. Und schon gar nicht vom Buch. Jetzt habe ich außerdem zwei. Tja, manches Mal ist es Pech, auch wenn es für Außenstehende wie Glück aussieht. Also wenn das nicht berührend ist…