Martin Dragosits: Herausforderung

Herausforderung

Das Alter, zuerst ist es weit entfernt. Die Haut, sie ist frisch und jung, ohne Falten. Die Energie bleibt unerschöpflich. Der ganze Apparat funktioniert, alles ganz selbstverständlich. Alter ist etwas, das anderen passiert. Erwachsensein lässt auf sich warten, spätestens ab dreißig schleicht es sich ein und spätestens in den Vierzigern wird das eine oder andere Eingeständnis an den Lauf der Zeit doch unvermeidlich. Kleine Hoppalas, die der angestrebten Ordnung zuwiderlaufen. Flecken auf der Haut, graue Haare, unordentliche Blutwerte oder größere Abweichungen, die insgeheim Einzug halten. Ein Sündenfall, der verborgen bleiben muss. Eine Welt, in der alle schön und jung erscheinen, stets cool und für jeden Spaß zu haben. Der äußere Anschein lässt darauf schließen, ein Leistungsträger zu sein, darin tüchtig, sein Inneres und Äußeres zu optimieren, sein Schicksal selbst zu gestalten. Der Anspruch auf Sozialstaat muss gerechtfertigt sein, die Existenz reicht nicht aus, für Hängematten gibt es nur in Urlaub und Freizeit Platz. Geschenkt wird hier nichts.

Wir sind, was wir denken. Wir sagen es, handeln danach, unser Glauben bestimmt unser Sein.

Und doch, wir sind verletzlich. Wir sind sterblich. Wir leben in einer vernetzten, fragilen Welt. Eine dünne Firnis trennt uns von der Barbarei.

Zuerst betrifft die Krankheit nur die Alten. Durchschnittsalter um die 80. Menschen, die so oder so demnächst diesen Planeten verlassen. Das denken sich viele. Und unter sechzig oder siebzig sterben wenige. Außer jene mit Vorerkrankungen. Ein Makel, ein Schaden, eine Trennscheide zwischen leistungsfähig und Außenseiter-Status, für die Gesunden ein statistisches Maß. Meist nicht auf die eigene Verwandtschaft angewendet, nur auf die unbekannte Zahl, die schon nicht so schlimm sein werde, wo doch an der Grippe auch jedes Jahr fleißig gestorben wird.

Mit Vorerkrankung. Eine Abweichung, die disqualifiziert. Eine Schutzwand aufbaut. Negiert, dass wir uns damit in einem Raum bewegen, der nicht nur eine seltene Minderheit betrifft, denn welcher Faktor sich im Einzelfall potenziert, das zeigt sich erst bei Enge im Brustkorb und erschwerter Atmung.

Das Argument, auch für Jüngere sei ein Spitalsaufenthalt möglich, mehrwöchige Behandlung auf einer Intensivstation notwendig, sportlicher Lebenswandel und in jedem Lebensalter vorhandener Leichtsinn davor kein Schutz, wird all zu gerne ausgeblendet, solange die Wahrscheinlichkeitsrechnung für einen selbst günstige Ergebnisse liefert und Einschläge im eigenen Umfeld noch ausgeblieben sind.

Wie geht es den Menschen, die gefährdet sind, einen grausamen Tod zu sterben? Langsam zu ertrinken, einsam, isoliert, ohne Angehörige, wie in einem schlechten Science-Fiction-Film von Menschen in Schutzanzügen umgeben, ohne Trost und Würde? Was für ein Ende, das dem Entwicklungsstand unserer medizinischen Möglichkeiten so offensichtlich trotzt.

Wie geht es den Menschen, die sich fürchten müssen, von denen noch viele mitten im Leben stehen? Von einem Virus bedroht, der vorhandenes zu ihren Ungunsten multipliziert, die nahe Zukunft mit großer Ungewissheit füllt.

Was fühlen sie, wenn ihr Leben davon abhängt, ob und wie ihre Regierung das Konzept von Herdenimmunität umsetzt, sie möglicherweise als Opferlamm zur Schlachtbank führt? Wenn Politiker ihre Gesundheit in Relation zum Gesamtnutzen einer florierenden Wirtschaft betrachten, weil Menschen nun einmal sterben.

Wir brauchen nicht zu glauben, eine Verrohung des Diskurses, die Umsetzung von Maßnahmen, die an Begriffen wie Euthanasie und lebensunwertem Leben entlang schrammen, bliebe auf unsere Gesellschaft ohne Auswirkung. Eine darwinistische Sichtweise, nur die Stärksten und Gesündesten könnten überleben, das Schicksal des Einzelnen sei dem Gesamtwohl ohne Solidarität und Unterstützung unterzuordnen, führt geradewegs zu einer Staatsform, in der die Stärkeren die Schwächeren ohne deren Mitbestimmung regieren. Für das Gefühl von Sicherheit Mechanismen vollständiger Überwachung zu etablieren, passte nur zu gut in einen gesellschaftlichen Rahmen, in dem wir den Zweck des Daseins durch Gewinnzahlen und ihre jährliche Steigerung definieren.

Epidemien, Krankheit und Tod, Verzweiflung, das Gefühl von Hilflosigkeit, führten in der Vergangenheit meist zur Suche nach Schuldigen, waren der Auftakt zu Feindseligkeiten, zu Gehässigkeiten, Pogromen, Vertreibungen. Wir brauchen nicht die Illusion zu haben, dass das nun nicht wieder passieren könne.

Wie Gesellschaften mit Herausforderungen umgehen, ob sie sich in der Krise weiterentwickeln oder untaugliche Maßnahmen ergreifen, entscheidet über ihr langfristiges Fortbestehen. Und selbst wenn unsere Welt derzeit nicht gerade den Eindruck macht, sich in die richtige Richtung zu drehen, Populisten in höchsten Regierungsämtern täglich unbedarft lügen dürfen, ohne an Zustimmung zu verlieren (wer weiß), eine Reihe von privatwirtschaftlichen Medien sie darin vehement unterstützen, gibt es ebenso die Chance, dass nun die eine oder andere Gegenbewegung erfolgt.

Selbst wenn in Spitälern Triage wie im Krieg notwendig werden sollte, Intensivbetten nicht ausreichend zur Verfügung stehen, aufgrund von ärztlicher, pflegerischer und infrastruktureller Not keine Behandlung mit Aussicht auf Besserung mehr möglich ist, können wir versuchen, die Umstände menschlich zu gestalten. Einen Tod in Würde zu ermöglichen, mit palliativer Begleitung, so schwierig das unter den gegebenen Umständen auch sein mag.

Die Krise so zu Ende zu bringen, dass wir uns nachher nicht schämen müssen. Lösungen zu finden, die die Rückkehr in ein normales Leben bei gleichzeitigem Schutz der Schwächeren ermöglichen. Ohne dafür auf demokratische Rechte zu verzichten.

Wir können erkennen, dass wir in der Lage sind, unser Verhalten sehr rasch und entschieden zu verändern. In großem Maßstab, wenn es notwendig ist. Dafür vorhandene Technologien zu nutzen, sie weiter auszubauen.

Uns wieder Grundprinzipien wie lokalen und dezentralen Strukturen mit stabileren Versorgungsketten und besserer Verfügbarkeit im Krisenfall zu widmen. Unsere Abhängigkeit von Produktionen im Ausland zu verringern, ohne dabei auf die Chancen einer globalen Zusammenarbeit zu verzichten.

Nachhaltigkeit tatsächlich in den Mittelpunkt unseres Handelns zu stellen. Mit dem Ziel eines Mehrwerts, der uns allen ein gutes Leben ermöglicht, ohne die Lebensgrundlagen der Nachgeborenen zu zerstören.

Utopien oder Dystopien. Es liegt an uns.