Niketa Stefa: Pandemie in Italien zwischen Inhaftierung und Frühling
Pandemie in Italien zwischen Inhaftierung und Frühling
Wir befinden uns in der ungewöhnlichen Zeit der Covid-19-Pandemie, ein längerer Winter zu einem unbekannten Ausgang. Draußen blühen Blumen, aber niemand kann sie bewundern, die Wiesen sind grüner als je zuvor, aber fast niemand geht darauf spazieren. Die Vögel singen fröhlich, ohne vom Gebrüll der Kinder verfolgt zu werden. Es herrscht eine so tiefe Stille, dass sie die gesamte Metropole umfasst. Aus den Gebäuden sind zu bestimmten Zeiten die Stimmen derer zu hören, die dort leben, und in anderen Stunden der flashmob derer, die sich nicht mit der Grabstille abfinden, die mit der Nacht hereinbricht. Ihre Gesichter kann man nicht sehen, aber es sind die einzigen Töne, die zusammen mit dem Läuten der Glocken die schwere Luft füllen, die man atmet. Menschen erscheinen an den Fenstern und auf den Balkonen und singen nach einer ersten Stimme, verborgen wer weiß wo, die manchmal an Popmelodien der Vergangenheit und manchmal auch an die Nationalhymne, von der viele die Fortsetzung über den Refrain hinaus ignorieren, erinnert.
Woher kommt dieser Wunsch, die Nationalhymne wiederzuentdecken? Vielleicht die Empathie, die die Leidenden vereint, vielleicht der Stolz auf diejenigen, die an vorderster Front stehen?!
Angesichts des Leidens und der wachsenden Zahl der Toten vereinen wir uns durch Symbole, die dem Leiden und vor allem der Hoffnung eine Stimme geben.
Das Kreuz, die Nationalhymne, die Masken von Männern und Frauen, die erschöpft sind in der Erfüllung ihrer Pflichten auf den Stationen von Krankenhäusern, überfüllt von kranken Menschen, die allein sterben, ohne Verwandte in ihrer Nähe.
Ein langsames Erwachen, aber es wächst in dem Maße, indem sich die Italienerinnen und Italiener inmitten der europäischen Familie, die sie mitbegründet haben, die sich jedoch zu Beginn der Pandemie nicht solidarisch zeigte und Exporte von medizinischem Schutzmaterial nach Italien verbot, verlassen fühlen.
Sie fühlen sich von den Herstellern von Diagnosekits betrogen, die Millionen von Tupfern in andere Länder verkauft haben, anstatt sie an die am stärksten vom Virus betroffenen Regionen zu senden. Was für grausames Schicksal: haben doch einige - diese Artikel produzierenden Unternehmen - ihren Hauptsitz in der Lombardei, wo das Zentrum des Virusausbruchs liegt! Sie fühlen sich auch von all jenen Mitbürgerinnen und Mitbürgern betrogen, die sich nicht um die Sicherheitsmaßnahmen kümmern, die die Ausbreitung des Virus verhinderten. Ovids Spruch, „Wehre den Anfängen! Zu spät wird die Medizin gesehen, wenn die Übel durch langes Zögern erstarkt sind.“, wäre eine gültige Warnung gewesen, sich mit der Ernsthaftigkeit der Lage auseinanderzusetzen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen seit die ersten Anzeichen der um sich greifenden Epidemie aufgetreten sind.
Es gibt einen weiteren Faktor, der fast alle taub gemacht hat: Es ist die tiefe Überzeugung, dass wir alles mit Technologie kontrollieren können. Die Isolation, der wir ausgesetzt sind, veranlasst uns, über die fragilen Grundlagen nachzudenken, auf denen unsere schwachen Zusicherungen entstanden sind.
Diese schmerzhaften Tage offenbaren unsere Grenzen als Individuen und als Gesellschaft. In den engen Räumen zwischen den Wänden der Häuser reflektieren wir unsere Begrenztheit und entdecken manchmal immense Innenräume, in denen es Ressourcen gibt, die das Beste von jedem von uns ausmachen, aus dem wir schöpfen können, um gemeinsame Kontingenzen zu widerstehen und zu überwinden.
Das Erkennen dieser Ressourcen weckt in uns die Bindung an das Leben überhaupt, als Gabe und als Recht vor jedem anderen Recht, jenseits jeglichen religiösen, politischen Glaubens und jeglicher Herkunft. Diese Verbundenheit mit dem Leben konnten die Italiener mit ihrem Lebenswillen und ihrem Einfallsreichtum des Denkens in ihrem gesamten Spektrum kontinuierlich ausdrücken. Jetzt aber wird für viele Italiener das Erwachen ihrer explosiven inneren Stärke ausgelöst von anderen Völkern, die sie als starke und freudige Menschen bezeichnen, die sich einer Pandemie widersetzen, die sich als globale Katastrophe herausstellen könnte.
Es ist bewegend zu hören, wie sich ein Chor armer Kinder aus dem gequälten Kongo in italienischer Sprache an Gleichaltrige in Italien wendet. Italien, das sie noch nie gesehen haben, dem sie sich aber in der Gemeinschaft des Leidens, nahe fühlen. Es sind Stimmen, die virtuell wie die Frühlingsbrise kommen, die die Hoffnung zum Blühen bringt, wie der Regen, der die Wurzeln des Lebens belebt.
Andere Stimmen finden sich nach langen Trennungen und immensen Entfernungen im virtuellen Raum wie in einem Vorraum, der auf reale Gespräche wartet. Virtuelle Stimmen und Fensterstimmen erfüllen die Luft mit Versprechungen.
Während sich die Warteschlangen in Supermärkten, die Krankenhäusern und die Friedhöfe füllen, belastet der Krieg aller gegen alle bei der Versorgung mit Grundbedürfnissen jeden Moment alle Werte des Humanismus.
Hoffentlich haben wir verstanden, dass diese Werte von jeder Generation neu entdeckt und gelebt werden müssen, weil sie kein Erwerb und keine Selbstverständlichkeit für immer sind.