Wolfgang Mayer König: Die Mutter
Frei von der Ungeduld zu erfahren, wohin die Reise gehen soll. Frei von der Neugierde zu entdecken, was drum herum ist. In dieser Verfassung auch kein Anhängsel der eigenen Person mehr sein, nicht mehr im luftlosen Zustand des Keuchens sich befinden, sondern einmal noch tief durchatmen. Schon das bloße Leben als Wert akzeptieren. Das Leben erweist sich als flüchtige Geliebte; der Tod entpuppt sich als Mutter. Sei nicht enttäuscht, sagt sie zu mir und zieht mich auf dem Karren hinterher. Sagt sie mir und wärmt mir die Suppe auf. Sagt sie mir und klopft mir die Polster zurecht. Sagt sie mir und bereitet nasskalte Umschläge. Sagt sie mir, richtet mich auf und setzt mir die Trinkschale an die Lippen. Sagt sie mir, hält mir die Tür und reicht mir die Post. Sagt sie mir und reibt meine Hände mit den ihren. Sagt sie mir und stellt sich für mich in der Reihe an. Sagt sie mir und erinnert mich an den Sommer. Sei nicht enttäuscht, sagt sie dabei. Sie spricht nicht mehr. Spannt an, kraftlos gemacht von den Kräften. Schreit los, lautlos. Tee, den man ihr einflößt, rinnt über dem Kehlkopf wieder aus. Ihr trockenfleckiges Hemd, ihr nassfleckiges Hemd. Lautlos erkranken, teils sogar schmerzstill. Den eigenen Gestank ertragen, das Unverwandte tragen, süchtig mit dem Auf und Ab beider Finger auf dem Daumen, die Nochspritze kaum erwartend. So wund wird nichts sein wie Augenweiß Augenschwarz. Wund wird sogar das Bettzeug sein. Nur mehr schmerzstill, nur mehr schadlos willkommen. Was da liegt, ist rechtfertig. Von Haut zerspannt, von Knochen ausgespreizt, nässend über den Gegenstoß hinaus. Sei nicht enttäuscht, sagt sie und zieht mich auf dem Karren hinterher. Eigentlich drehen sich alle unsere Geschichten um Dasselbe: die Lebensgefahr. Ein Froschgift, das uns die Atemmuskeln lähmt, so dass wir eigentlich schon oft tot waren. Unsere Geschichten machen unsere Erinnerung manchmal lebendig, manchmal tot. Wir spüren das Spannungsverhältnis zwischen der Konsequenz aller Kontakte und dem Wechsel von Tag und Nacht. Die Gezeiten von Sympathikus und Parasympathikus, die allein schon die Lungen verschließen und dafür sorgen, dass die Mehrzahl aller Herzinfarkte in den frühen Morgenstunden stattfindet. Angesichts solcher Vorgänge werden die Erzählungen immer knapper, erscheint vieles nur als vergeudete Lebenszeit. Das sogenannte wirkliche Leben entsteht doch nur aus der Verwegenheit unserer Paarung, aus dem Überfließen und nicht mehr Alleinsein, wovor Kafka, wie er sagt, so große Angst hat. Der Tod, unsere Mutter, tritt auf, wenn wir zum Verlierer werden, obwohl sie uns nie als Sieger sehen wollte, weil es eigentlich gar keine Siege gibt. Was nützt uns da zuletzt aller aussichtsloser Kampf und alle Kampfeshoffnung. Aber vielleicht nützt uns noch ein bisschen Freude, vielleicht noch ein bisschen Traurigkeit. Wirkliche Freude, wirkliche Traurigkeit. Nein, nur Freude, nur Traurigkeit. Nein, eigentlich – nur.
© Wolfgang Mayer König