86 / Umweg / Bericht / Amedeo Modigliani
Albertina Wien 17. September – 9. Jänner 2022
Bericht von Eva Riebler
Modigliani Revolution des Primitivismus
Anlässlich seines 100. Todestages würdigt die ALBERTINA Amedeo Modigliani (1884-1920) mit über 120 Werken. Zeitlebens wenig erfolgreich, zählt Modigliani zu den bedeutendsten Malern, dessen Gemälde heute dreistellige Millionenbeträge erzielen. Sein kurzes Leben spielt sich in Paris, der Geburtsstätte der modernen Malerei, ab. Die Ausstellung zeigt Zeichnungen, Skulpturen und Gemälde und geht über eine rein monografische Retrospektive hinaus. Sein Interesse galt der afrikanischer Kunst, den 4.000 Jahre alten Skulpturen der Kykladen oder auch der Kunst der Khmer Kambodschas. So wie bei Picasso, Derain und Brancusi verschmolzen diese Einflüsse auch bei Modigliani mit seinen Skulpturen, Gemälden und Zeichnungen und zeigten eine Veränderung der Formen, der Körper, der Ideen und der Gefühle. Modigliani leistete einen unschätzbaren und ganz individuellen Beitrag zur Kunstgeschichte, indem es ihm gelang, zwischen Antike und Moderne ebenso wie zwischen den verschiedenen Künsten selbst eine Brücke zu schlagen. In Modiglianis gesamtem OEuvre lassen sich die Einflüsse der Kunst der verschiedensten Weltkulturen festmachen, denen er als junger Maler nach seiner Ankunft in der Kunstmetropole Paris im Louvre und im ethnografischen Museum begegnet und deren formale Reduktion auf das Wesentliche ihn so sehr beeindruckt. Anhand von über achtzig Werken Amedeo Modiglianis in der Albertina Wien kann die Entwicklung dieses künstlerischen Einzelgängers nachvollzogen werden.
Modigliani und Brancusi arbeiten nebeneinander am Montparnasse. In dieser Phase bildet Modigliani all seine künftigen Stilmerkmale heraus, die der Kunst des Primitivismus folgen. Die gestreckten Gesichtsformen auf langgezogenen, säulenhaften Hälsen und die Nasenkeile sind der kykladischen und afrikanischen Plastik entliehen; die nur durch ein leichtes Lächeln bewegten Gesichter und der in sich gekehrte Blick sind der asiatischen Kunst entnommen; das Horus-Auge, die strenge Frontalität oder radikale Seitenansicht und die Blockhaftigkeit sind der ägyptischen Kunst geschuldet. Wie bei Picasso, Derain und Brancusi erkennt man neben polierten Partien die Spuren von Modiglianis Meißel auf den Oberflächen der langgezogenen Sandsteinquader, die er mit Brancusi nächtens von Pariser Baustellen entwendet hat. In zahlreichen Skizzen hält er seine namentlich genannten Künstlerfreunde fest, nicht selten, um die Rechnung für eine karge Mahlzeit zu begleichen. In ihrer fließenden Linearität folgen diese Zeichnungen dem klassizistischen
Zeichenstil von Ingres: Es sind reine Silhouetten, Umrisszeichnungen – oft in dunklen Ockertönen, die erinnern nur entfernt an den Kubismus; manchmal karikiert er seine Freunde oder verleiht ihnen die von afrikanischen oder ostasiatischen Kunstwerken entlehnten leeren Augen, die gerade durch ihre Abwesenheit sprechen. Modigliani schenkt den Händen als Sinnbild für Kreativität große Aufmerksamkeit. Seine Modelle sind dem Betrachter ganz nah. Spärlich ausgestattete Interieurs – Modiglianis Kunst kennt wie die Zeichnungen Schieles kein Eigentum – sowie rötlich-warme Farben drücken seine Verbundenheit mit dem bohemienhaften Leben in der Fremde aus: Das Ocker der italienischen Terra di Siena bringt einen mediterranen Ton in jedes seiner Bilder. Niemand malt das Fleisch so leuchtend wie Modigliani. Seine Farben sind so unverwechselbar wie die Umrisse seiner Gestalten, die Kurven der Augenbrauen, der Schultern, des Kopfes, der Hände. Die Frauenakte Modiglianis werden schon früh bewundert. Sie haben längst ihren festen Platz in der Geschichte der Aktmalerei.
Der aus Polen stammende Kunsthändler Leopold Zborowski vermittelt ihm Sammler, die mehrere Werke ankaufen, was Modigliani kurzfristig aus seiner verzweifelten finanziellen Lage befreit. Zudem stellt Zborowski ihm auch Modelle und ein Atelier zur Verfügung. Bis Ende 1917 entstehen 25 weibliche Akte, die sich vor dunkelrotem Hintergrund präsentieren. Die Intimität der voyeuristischen Betrachtung und die große Selbstverständlichkeit des nackten Körpers halten einander die Waage. Sinnlich sind die bisher beispiellose Nähe, die starke Präsenz und die durch keine Mythologisierung abgefederte Präsentation des Körpers. Die Erotik vertraut Modigliani der glühenden Farbe an, nicht der Nachahmung der Haut, des Fleisches. Auch die stilisierenden kurvilinearen Konturen garantieren eine Sinnlichkeit, die es Modigliani erlaubt, von der realistischen Wiedergabe des Körpers abzusehen.
Nur im offen gezeigten Schamhaar verstößt Modigliani gegen das Tabu der Darstellung des Geschlechts. Die Stilisierung der Silhouetten und die Formalisierung durch Kurven sind den archaischen Stilmerkmalen kykladischer Figurinen entlehnt. In ihrer natürlichen Körperlichkeit sind Modiglianis Akte jedoch weit entfernt von den streng stilisierten Karyatiden seines fast geometrisch konstruierten Frühwerks. 1917 stellt Modigliani in der Pariser Galerie Berthe Weill zwanzig Akte aus: Es sollte die einzige Einzelausstellung zu seinen Lebzeiten bleiben. Die Schau wird zum Skandal. Als die Polizei wegen »Verletzung des Anstands « mit der Beschlagnahmung der Bilder droht, werden die Akte abgehängt. Modigliani verkauft kein einziges Bild und wird in Hinkunft bis zu seinem Tod nur noch zehn schamvoll bedeckte Aktfiguren sowie Aktdarstellungen seiner großen Liebe Jeanne Hébuterne, der Mutter seiner Tochter, malen.
Im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen, für die der Große Krieg 1914 bis 1918 eine Zäsur darstellte, wurde Modiglianis Werk bis zu seinem Tod im Jahr 1920 von dieser Revolution geprägt.
1884 am 12. Juli wird Amedeo Modigliani in Livorno als viertes Kind des Kaufmanns Flaminio Modigliani und der aus Frankreich stammenden Eugénie Garsin in eine jüdische Familie hineingeboren Er erkrankte jedoch mit 11 Jahren an einer Rippenfellentzündung, dann 1898 an Typhus und litt sein ganzes Leben unter chronischer Tuberkulose, an der er 1920 im Alter von 35 Jahren starb. Seine junge Verlobte, Jeanne Hébuterne, Mutter der gemeinsamen Tochter Jeanne und zum zweiten Mal, im achten Monat, schwanger, folgte ihm zwei Tage später, indem sie sich durch einen Sturz aus dem Fenster das Leben nahm.
Erst 1930 wird das Paar am Pariser Friedhof vereint.