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TRACTATUS

Preis des PHILOSOPHICUMS LECH
20. - 25. Sept. 2022 zum Thema HASS


Preisträgerin des Tractatus 2022 ist die Autorin Marie Luise Knott, die die Erfahrungs- und Gedankenwelt der Philosophin Hannah Arendt und des Schriftstellers Ralph Ellison in Beziehung setzt und so neue Perspektiven auf Debatten um Rassismus und Identitätspolitik eröffnet – so die Presseaussendung aus Lech.
Seit 2009 wird der, angeregt vom Vorarlberger Schriftsteller Michael Köhlmeier, dank privater Sponsoren mit 25.000 Euro dotierte Tractatus vom Verein Philosophicum Lech für herausragende Leistungen im Bereich der philosophischen Essayistik vergeben.
Der Tractatus (www.philosophicum.com/tractatus/dertractatus) soll ein Beitrag zur Standortbestimmung in philosophisch und gesellschaftlich relevanten Diskursen sein. Exemplarisch prämiert mit dem Tractatus 2022 wird ein Buch der deutschen Autorin, Kritikerin und Übersetzerin Marie Luise Knott. In „370 Riverside Drive, 730 Riverside Drive. Hannah Arendt und Ralph Ellison“ setzt sie die Gedankenwelt der deutsch-jüdisch-amerikanischen Philosophin sowie des afroamerikanischen Schriftstellers vor dem historischen Hintergrund in Relation, wobei sich neue Sichtweisen auf derzeit hochbrisante Debatten auftun. „Wie sich Gesellschaften nachhaltig verändern lassen und wie wir lernen, uns als Gleiche anzuerkennen, ist die Kernfrage. Die feierliche Verleihung des Tractatus 2022 findet am Freitag, den 23. September um 21 Uhr im Rahmen des Philosophicum Lech statt, das heuer sein 25-jähriges Jubiläum begeht. Unter dem Titel „Der Hass. Anatomie eines elementaren Gefühls“ wird sich die Tagung von 20. bis 25.09.2022 einem ebenso weitreichenden wie brandheißen Thema widmen. www.philosophicum.com
Nach ausführlicher Jurydiskussion fiel heuer die Wahl auf das Buch „370 Riverside Drive, 730 Riverside Drive. Hannah Arendt und Ralph Ellison“ der in Berlin lebenden freien Autorin, Kritikerin und Übersetzerin Marie Luise Knott. Titelgebend für das im März 2022 im Verlag Matthes & Seitz Berlin erschienene Buch ist, dass die berühmte jüdische Philosophin, die 1941 in die USA flüchten musste, und einer der wichtigsten afroamerikanischen Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts nur einen Zahlendreher entfernt in derselben Straße wohnten: Hannah Arendt in der Nähe der Columbia University und Ralph Waldo Ellison weiter nördlich in Harlem. Das die beiden tatsächlich Verbindende als Ausgangspunkt für Knotts ideengeschichtlichen Essay ist eine damalige Debatte, zu der sich ein Brief von Arendt an Ellison als Durchschlag in ihrem Nachlass fand. In diesem leistet sie Abbitte für ihre Unbedachtheit in einem 1959 veröffentlichten Aufsatz, in dem sie zu den Ereignissen in Little Rock im Jahre 1957 Stellung nahm. Damals musste die Nationalgarde einschreiten, als Protestierende höchst aggressiv schwarze Jugendliche am Schulbesuch hindern wollten. Ellisons scharfe Replik auf die Ausführungen Arendts im Jahre 1965 quittierte sie in dem Brief u. a. mit „Sie haben völligRecht“ und dem Geständnis, dass sie „die Komplexität der Lage nicht verstanden habe“.
Begründung der Tractatus-Jury: „Indem sie Arendts Denkwelten mit jenen des afroamerikanischen Schriftstellers Ralph Ellison konterkariert, wirft sie nicht nur neue Sichtweisen auf jüdische und afroamerikanische Erfahrungen im 20. Jahrhundert, sondern auch auf brandaktuelle Debatten um Rassismus und Identitätspolitik. Der profunden Arendt-Kennerin Marie Luise Knott, die bereits 2011 mit einem Buch über die Philosophin von sich reden machte, gelingt es mit ‚370 Riverside Drive, 730 Riverside Drive. Hannah Arendt und Ralph Ellison‘, den eigenen Anspruch einer ‚Gedankenexkursion‘ stilsicher und kenntnisreich einzulösen.“ Abschließend hebt Bleisch die durch den prämierten Essay deutlich werdende Haltung von Hannah Arendt hervor: „In der Lektüre begegnet einem eine Philosophin, die zugesteht, sich geirrt zu haben – und gerade in ihrer Sehnsucht danach, aufrichtig verstehen zu wollen, bis heute beeindruckt.“
Dazu erläutert Barbara Bleisch in der Jury-Begründung einleitend: „Wer sich heute vertieft mit Hannah Arendt auseinandersetzen will, kommt nicht umhin, bei aller Bewunderung für die politische Denkerin zuzugestehen, dass sie nach ihrer Emigration in die USA dem amerikanischen Rassismus gegenüber seltsam blind zu bleiben schien. Ihr Essay ‚Reflections on Little Rock‘ sorgte bereits bei seinem Erscheinen 1959 für tiefe Irritation, weil Arendt mit Blick auf die Frage, wie die Segregation an öffentlichen Schulen zu beheben sei, Kritik an der Bürgerrechtsbewegung übte. Ihre Skepsis gründete in Arendts Verständnis von Öffentlichkeit und Privatsphäre und ihrer Sorge, Kinder für politische Zwecke zu missbrauchen.“