95 / Kafkaesk / Editorial / Eva Riebler: Kafkaeske Gedanken
Warum habe ich 1972 begonnen Germanistik zu studieren? Ja, Sie ahnen es: Weil ich Kafka im Deutsch-Unterricht in der HBKA in Linz vorgesetzt bekommen und gelesen habe!
Für Thomas Bernhards Texte war die Zeit damals im Unterricht noch nicht reif. Aber beide stehen für mich in einem Zusammenhang: Ist nicht der Absurdität der jeweiligen Zeit mit klarer Sprache, mit Eindringlichkeit und Mehrdeutigkeit beizukommen? Verleitet nicht jedes Jahrhundert, jede Epoche den ernsthaften Literaten, die ernsthafte Literatin sowie die Autorin, den Autor dazu, die Ausweglosigkeit zu dokumentieren? Ist nicht jeder, jede selbstkritische Autor, Autorin wie Kafka 1909 erst mit z. B. 26 Jahren bereit, mit seinen Texten an die Öffentlichkeit zu gehen?
Mir ist ein bescheidener Kafka besonders lieb!
Respekt habe ich vor so tiefgründigen Texten, die Weisheit bergen, eine große Beobachtungsgabe und eine klare, treffliche Sprache aufweisen.
Das Klare ist jedoch gewürzt mit fast geheimer - zumindest geheimnisvoller – Bodenlosigkeit oder mit Vieldeutigkeit – und umgekehrt! Und ich liebe als Germanist den Konjunktiv, der in Wirklichkeit hier bei Kafka zu Beginn die Realität abbildet und dann im zweiten Teil des Satzes jedoch leider ein irrealer unerfüllter Wunsch bleibt.
Siehe den ersten Satz in der Erzählung/Parabel: Auf der Galerie (1920 Erstausgabe Kurt Wolff Verlag München/ Leipzig) „Wenn irgendeine hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin in der Manege auf schwankendem Pferd vor einem unermüdlichen Publikum vom peitschenschwingenden erbarmungslosen Chef monatelang ohne Unterbrechung im Kreise rundum getrieben würde, auf dem Pferde schwirrend, Küsse werfend, in der Taille sich wiegend, und wenn dieses Spiel unter dem nichtaussetztenden Brausen des Orchesters und der Ventilatoren in die immerfort weiter sich öffnende graue Zukunft sich fortsetzte, begleitet vom vergehenden und neu anschwellenden Beifallsklatschen der Hände, die eigentlich Dampfhämmer sind – vielleicht eilte dann ein junger Galeriebesucher die lange Treppe durch alle Ränge hinab, stürzte in die Manege, riefe das: Halt! durch die Fanfaren des immer sich anpassenden Orchesters.”
Diese Parabel besteht nur aus zwei Sätzen und der letzte Satz behauptet auf die hinfällige Reiterin bezogen: „Da es aber nicht so ist; eine schöne Dame, weiß und rot, hereinfliegt” und das Ende des selben Satzes lautet: „da dies so ist… weint der Galeriebesucher“ – also ist doch die hinfällige, erbarmungslos im Kreise Getriebene die tatsächliche Kunstreiterin – sonst wären die Tränen des Besuchers und das Versinken wie in einen schweren Traum, mit dem Gesicht auf der Brüstung liegend, ja nicht notwendig.
Kafka war ein Ankläger, wollte Scheinheiligkeit oder Unwahrheit, das Beamtentum oder eine andere Farce entlarven. Als Versicherungsbeamter und Gerichtsschreiber war ihm ja vieles geläufig, was der normale Prager Bürger nicht als Spielregel erkannte. Daher vielleicht oft auch sein Lachen, das ihn beim Vorlesen seiner eigenen Texte immer wieder zwang, zu unterbrechen.
Beim Prozess oder Der Verwandlung (den bekanntesten Werken) erstirbt allerdings das Lachen. Die Verzweiflung und der Tod sind nicht nur Gefahr, sondern präsent.
Weniger bekannt ist die Parabel Der Aufbruch, die ebenfalls in die düstere Kerbe schlägt:
Ich befahl mein Pferd aus dem Stall zu holen. Der Diener verstand mich nicht. Ich ging schnell in den Stall, sattelte mein Pferd und bestieg es. In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen, ich fragte ihn, was das bedeute. Er wusste nichts und hatte nichts gehört. Beim Tore hielt er mich auf und fragte: „Wohin reitest du, Herr?”, „Ich weiß es nicht”, sagte ich, „nur weg von hier, nur weg von hier. Immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen.” „Du kennst also dein Ziel?”, fragte er. „Ja”, antwortete ich, „Ich sagte es doch: `Weg von hier`, das ist mein Ziel.” „du hast keinen Essensvorrat mit”, sagte er. „Ich brauche keinen”, sagt ich, „die Reise ist so lang, dass ich verhungern muss, wenn ich auf dem Weg nichts bekomme. Kein Essvorrat kann mich retten. Es ist ja zum Glück eine wahrhaft ungeheure Reise”.
Und hier schlägt uns schon die mögliche Bezeichnung „kafkaesk” im letzten Satz entgegen! Zum GLÜCK ist es eine WAHRHAFT UNGEHEURE Reise!
Was alles „Glück” sein kann!? !st das Zusammenkehren des Gregor Samsa mit der Mistschaufel und die Beseitigung des „Abfalls” auch Glück, weil seine Familie aufatmet?! Und das blutige Ende des Josef K. im Prozess ist
...? Ach, dieser hat sich ja vielleicht seine Anklage nur eingebildet? Bei Kafka ist ja bei manchen Werken der Beginn: „Aus Träumen aufwachend...
” – vielleicht zu übersetzen mit: „Träume sind Schäume”? – oder – „so ein Glück! Alles nur geträumt!” In der „Kaiserlichen Botschaft” kann der Untertan auch nur die an ihn gerichtete Botschaft „erträumen”. So ist auch der Traum bei Kafka ambivalent zu sehen.
Und was ist nicht ambivalent in seinen Werken?
Vielleicht der „Brief an den Vater“? Aber den hat Kafka ja nie abgesandt, werden sie jetzt einwenden! Also auch ein hypothetisches, ambivalentes Werk.
Und hypothetisch sagt er in der eher unbekannten Erzählung „Ein altes Blatt”, dass uns Handwerkern und Geschäftsleuten die Rettung des Vaterlandes anvertraut ist, „wir sind aber einer solchen Aufgabe nicht gewachsen; haben uns doch auch nie gerühmt, dessen fähig zu sein. Ein Mißverständnis ist es, und wir gehen daran zugrunde!”
Ja, Kafka hat uns auf viel Wesentliches aufmerksam gemacht – und
... – und nur das Lachen kann uns vor der erdrückenden Situation retten – denn, wir sind der Aufgabe nicht gewachsen!
Eva Riebler
Geb. 1952 in Steyr OÖ, maturierte in Linz, studierte Germanistik/ Geografie in Salzburg. Seit 1979 in St. Pölten, seit 2003 Obfrau der LitGes sowie HG der Zeitschrift „etcetera". Mitglied des ÖSV sowie des P.E.N. International. Bildende Künstlerin. Lieblingstechniken: Acrylmalerei und Eisenradierungen mit Aqua Tinta. Ausstellungen in Stockholm, Rio, Peking, Shenzhen, Taiwan, Altoona/USA, Brünn, Wien, St. Pölten, 2022 in Kurashiki. Veröff. Lyrikband mit Grafiken.