Verluste und Verloren geglaubtes / Etcetera 97 / Einfürhung / Cornelia Stahl: Gedanken zum Schwerpunktthema „Verluste und verloren Geglaubtes“
Es gibt Tage, die bewegen sich, einer Spirale gleich, in eine bestimmte Richtung und drohen, uns in den Abgrund zu ziehen. In den Abgrund, der da lauert, bodentief. Wir blicken hinab in den Schlund und sehen uns verloren, lange, bevor wir den Schmerzen des Aufpralls erliegen.
Die Trauer, die tief im Inneren schlummert, bricht irgendwann aus. Eines Tages, wenn uns die Nachricht vom Tod eines geliebten Menschen erreicht, plötzlich, unerwartet, drohen wir, in die Tiefe zu stürzen, in die Felsspalte zwischen zwei Kratern. In unserer Trauer um Angehörige fühlen wir uns alleingelassen, spüren den Verlust mit jeder Pore unserer Haut. In der Trauer sind wir auf uns selbst zurückgeworfen.
In diesen Tagen verbleibt die Trauer um den Verlust nicht in der Nische der Privatheit. Wir teilen diesen Ausnahmezustand unserer Verfasstheit mit jenen Menschen, die ebenso wie wir glauben, jeden Moment den Verstand zu verlieren. Ob in Charkow, Odessa oder Kiew, ob in Solingen, in Haifa oder in Palästina, Trauer ist allgegenwärtig. Trauer um Verluste, um nicht gelebtes Leben. Um beschädigtes Dasein, um Risse in der Gegenwart.
Tragödien, die sich als Hintergrundrauschen in unserem Alltag einnisten, suggerieren Normalität. Der Krieg als Dauerzustand in Form von medialer Berichterstattung, zeigt sich jeden Tag vor unseren Augen am Bildschirm. Der Knopf der Fernbedienung hat sich abgenutzt. Die Bilder ebenfalls. Nur das Hintergrundrauschen in unserem Inneren bleibt konstant, lässt sich nicht einfach aus unserem Bewusstsein löschen.
„Ich frage mich, welche Rolle jene historischen Traumata noch für uns spielen, die wir individuell und kollektiv nicht bewältigt haben“, bemerkt Daniel Schreiber in seinem Essay „Zeit der Verluste“ (Verlag Hanser Berlin, 2023).
Und ich füge folgende Überlegung hinzu: Wie ist es um die Resilienz des Menschen bestellt, wenn es darum geht, Trauer und Verlust in sich aufzunehmen und gegebenenfalls zu verarbeiten? „Intuitiv haben wir Angst vor unserer Trauer“, betont Schreiber. Gefühle wie Schmerz und Trauer sind die jeweilige „Reaktion auf die Verluste, die wir erfahren müssen, wenn wir lernen wollen, mit ihnen umzugehen“, so der Autor.
Das vorliegende Schwerpunktheft steht exemplarisch dafür, wie unterschiedlich und individuell Verlust assoziiert werden kann. Erfahren Sie mehr darüber in den jeweiligen Texten! Ob Lyrik oder Prosa: Sie finden Ihren Lieblingstext!
Da bin ich mir sicher!
Cornelia Stahl
Cornelia Stahl
Lehrerin, Bibliothekarin sowie Rezensentin für etcetera, AUGUSTIN und bn-Bibliotheksnachrichten Salzburg. Redakteurin der Sendung „Literaturfenster Österreich“. Seit 2014 betreut sie als Regionalleiterin Bibliotheken in Niederösterreich. Letzte Veröffentlichung: Waldgang der Unentschlossenheit, in etcetera, Heft 84/2021, „Traumsequenzen“, in etcetera, Heft 89/2022, Jahrbuch der Lyrik 2021, 2022, edition as, St.Wolfgang. sfd&ohne Netz, 2021.