75/Paradies/Prosa: Sonja Gruber: Kindheit am Bauernhof
I.
Vor der Jause hielt sie sich stets so lange wie möglich an der Anrichte geschäftig, schnitt das ihr verhasste Schwarzbrot extradünn, den Speck zu dick. Später würde sie kein Brot mehr sehen können, nur mehr Semmeln essen. Ihre Kinder würden nach selbstgebackenem Brot verlangen, eins, das Muttern mit Liebe walkt und händig in einen kreative Snack wrapt. Am liebsten täglich eine neue Innerei.
Mit Innerem wollte sie nichts mehr zu schaffen haben. Maschinenwerk war ihr Luxus. Am dankbarsten kam ihr tiefgekühlte Salamipizza vor, die schalt nicht, verlangte nichts. Keine Geduld, keine Lust, nur Umluft. Einmal nicht abwaschen müssen, davon hatte sie als Mädchen jahrein, jahraus geträumt. Als einzige Schwester des Brüderrudels tat sie nichts als einkochen, Speckbrotschneiden und butterverschmierte Bretter schrubben. Dass sie nicht einmal ohne zu bröseln essen konnten, ohne auch noch den Tisch ringsum mit ihrem Frust zu bespucken. Essen war zu viel gesagt. Sie fraßen und schlangen und schmatzten, gruben störrisch ihre Köpfe in die Teller, schlugen ohne Unterlass die Rindssuppe mit den abgewetzten Löffeln.
Vor lauter Gier bemerkte niemand ihre aggressive Langsamkeit vor der Fütterung. Überhaupt sie bemerkte niemand. Auch nicht die Ritzen in den Tellern. Hauptsache, die Jause bedeckte die, Hauptsache, der Speck schlabberte über den Rand.
Was sonst noch drin war, war ihnen egal. Nicht fragen, nicht hinschauen. Sie brachte ohnehin nicht fertig hinzuschauen. Schon gar nicht hinzuhören. Bei den ersten Brothälften musste sie ihre Ohren inwendig mit den Zähnen beißen. Ekel nach unten. Ihre Blase noch heute oft am Zerreißen.
Nachdem sie die Speckbrotbretter vor die lautlosen Brüderminen geknallt hatte, huschte sie noch einmal zur Anrichte und nahm sich das letzte Brett, das mit den wenigsten Ranzritzen, strich sich mit einem sachte noch einmal abgespülten Messer Butter auf ein kleines, dickes Brot. Speck war keiner mehr übrig. Stolz, es wieder einmal geschafft zu haben, den Randplatz der Eckbank zu ergattern und das hungrige Rudel warten zu lassen, setzte sie mit gesetzter Stimme zum Tischgebet an. Das Rudel murmelte ihr nach. Den unterzuckerten Untertischtritten der Nebenbrüder wich sie geschickt aus. Sie lagerte jeden Bissen so lange im Mund, bis er von allein speichelweich in ihr Inneres rutschte. Speck schmeckte sie trotzdem. Ehe sie sich als Halbwüchsige länger vor den großen Spiegel wagte, war das Fett rotzfrech in ihre Hose gekrochen. Die ausgebeulten Brüderhosen rächten sich, die ausgelaugten Brüder wetzten sich. Jahrein, jahraus kein Stich, hörte sie den Vater sagen, als er im Spind der Brut die Bildchen fand. Sein mürrisches Verzagen kaufte ihm nicht einmal die Alte ab. Sein Mund hing zu schief hinab. Lange ins Stolzglas gestarrt. Später als Serviermädchen würde sie das Herrentriefen galant wegwischen, den Fetzen extrastark auswringen müssen. Ihr Lehrherr an der Anrichte würde wissen.
II.
Sie hasste Röcke. Aus den edelsten Tüllkreationen schmeckte sie den Ranz der kindlichen Kittelschürzen, in den die Mütter ihren Tagesranz rieben; nicht selten roch sie, Omo zum Trotz, die ganze Wochenration, die ungefragt in den Unterrockdampf kroch. Montagsspeck, Kuhstalldreck und Schlachthausklecks gingen auch mit Hirschtalg nicht weg. Mancher ätzten sie die vergelbten Strümpfe ab. Die eingewachsenen Zehenpilze sprossen ungeniert aus den Schlapfenritzen. Später würde sie nur Hosen tragen und niemals Patschen. Ihre Socken stets blütenweiß, der Boden immer glatt und blank.
Zehen konnte sie nicht sehen, auch nicht die der Kinderlein. Ihre eign’en waren gelb und knochenlos. Blumenmuster waren ihr ein Graus, sie lenkten den Dreck geschickt in die Dornenspitzen und blitzten falsch im Sauberkelch. Ihren Hosen gestatte sie maximal ein helles Blau, den Blusen keine Rüschen, keine Spiele. Gästen wischte sie den Dreck mit Danchlor nach. Die Socken mussten strahlen. Seifenstücke kamen ihr nicht ins Haus. Den Ranz fremder Nagelbetten hatte sie längst ausgepflanzt. Ihre eig‘nen Nägel biss sie bis zum bitt’ren Matratzenrand.
Die Achselhaare riss sie sich mit stumpfen Fingern ab, den Mundbart verbrannte sie ratzfatz im Gas. Wenn sie blutete, schwang sich manchmal kurz ein Rock in ihren Kopf. Finger eintunken, abwischen, weiterarbeiten. Niemand würde es bemerken, nur die alten Kopftuchweiber würden knapp den roten Blumen nicken und wissen. Doch sie ließ sich nicht hinreißen zum Rockreizen. Lieber das Ausweiden zur Schau stellen. Ihr Mann mag Sau sehen. In Hosen draufgehen.
III.
Sie hasste Lehrer und Pfarrer. Vor allem Pfarrer. Die hatten sie als Mädchen am Schläfenhaar gezogen, wenn sie zu spät in die tägliche Messe vor der Schule kam. Der Schnee war zu tief gewesen, die triefenden Brüderschuhe zu weit für ihre kalten Füße.
Einmal gab es einen, der riss nicht nur am Kinderhaar. Die Bauernbuben mit ihren stinkenden Väterjankern bekamen eine Sonderbehandlung, wie er, selbst ein Bauernbub, es nannte. Die Pfarrerspratzen im Gesicht schickten sich zu Hause aber nicht, was der Lehrer wusste. Der hielt die Pratzen für den Vater frisch, der ganztags mit dem Gürtel seinen Frust verwachelte. Wird die Brut wohl schlimm gewesen sein. Sie selbst blieb vom Gürtel meist verschont. Zu zart zum schlagen, weiterarbeiten. Das Brüderrudel ließ sie büßen, trat sie im Stall stumm mit Füßen. Blaue Flecken unter dunklen Strümpfen, Brüderstriemen weiter oben. Am nächsten Tag das gleiche Spiel, späte Messe, Haare, Finger. Immer nur die Bauernkinder. Die vom Dorf brauchten keine Disziplin, sie verschwanden nicht im Arbeitskittel, stanken nicht, strahlten. Ihre Hände zu nichts zu gebrauchen, da zahlte sich der Holzstock gar nicht aus. Die vom Dorf in den ersten Reihen, der Holzstockhalter und Gesichterklatscher in den hint‘ren.
Die vom Dorf mit Bäckersemmeln, die hinten mit Schmalz. Die vom Dorf mit Lackschuhen, die hinten mit Brüderlatschen. Die vom Dorf Seife, die hinten Fliegen. Sie wollte nichts als fliehen. Unter die Bank. Kirche, Schule, Küche. Aber überall der Boden pickig. Nur sommers war sie frei, aufs Feld um sechs, Jause erst um drei. Eigentlich schon ab Mai. Später würde sie in keine Kirche mehr gehen. Schon gar nicht Weihnachten, auf keinen Fall Begräbnis. Kein stundenlanges Friedhofsstehen auf Kieselboden, der den Tod bis in die Fingerspitzen rieselte. Kein Beileid den Weibern, die nichts als endlich in die Erde meinten. Keine Dorfkinderblicke auf ihren morschen, großen Rock. Keine Fetthaut auf dem Leichenschmaus. Nicht einmal den ersten Bruder brachte sie mit unter die Erde. In der Kirchentür hatte es sie so gereckt, dass der Pfarrer kam und seine linke Pratze auf ihr gezopftes Haar klatschte. Diesmal ohne ziehen. Zu nah am Weihwasserbecken. Als später der Lehrer verreckte, kaufte sie sich einen roten Mantel.
IV.
Katzen mochte sie. Überhaupt alles Kleine und Hilflose. Als Kind war sie immer die Kleinste. Aber nicht schwach genug, um in die Klosterschule verbannt zu werden. Sobald ihre Fingerchen zum Herd hinauflangten, schnitten sie und rührten sie und rieben sie. Jeden Tag.
Das Brüderrudel tat in der Küche keinen Griff. Fehlte ein Messer am Tisch, hallte der wortkarge Hunger bis in den Stall, wo sie sich schnell an die Schafjungen gekuschelt hatte, um den Brüderfraß einigermaßen zu ertragen. Sie hetzte luftlos zur Lade und setzte das Messer ab. Ihre gekranzten Haare mochten ihren Blick nicht tarnen, so blitzte sie hinab. Das wartende Rudel riss nach an Hand, doch statt Schwesterfinger nur die Messerklinge. Den Gall bekam der Braten ab.
Man stach und stach und schmatzte, danach ein Schnaps. Sie träumte und räumte ab. Die glasigen Augen der Brüder rollten zu ihren Strumpfbeinen, um die die Katzen tanzten. Man ließ ihr dieses Spiel. Sie wartete, bis das Rudel magenweich in den Wald abzog und kratzte den Bratenrest aus dem Bretterholz, um ihn den Katzen zu geben. Sonntags überließ sie ihnen auch ihre Frühstücksmilch, vor deren Euterwärme und Mistgestank ihr grauste. Die Katzen schnurrten und schmiegten sich schwer an ihre Strümpfe. Die Dankbarkeit der Tiere traf sie. Sie bückte sich und drückte ihre Tränen in das raue Fell. Kein Glanz den armen Mietzen, keine Acht, kein warmer Platz. Die Kinder nahm man ihnen ab. Jedes Jahr ein Sack im Bach. Ihr Wasser rann und rann.
V.
Wenn sie einmal ins Wasser gehen würde, dann im Frühling. Wenigstens schiene dann einmal die Sonne. Die meisten -- Weiber -- gingen im Winter ins Wasser, nach Weihnachten, wenn die Trostlosigkeit und der Schnapsdampf zu lange aufeinandergehockt waren. Die Männer hängten dann im Stall. Väter am Viehstrick, Brüder am Gürtel.
Die Waldnahen brauchten schon den Schrotschuss um nachzusehen, warum er diesmal nicht nach Hause kam. Beim Begräbnis dann kein Beileid der sündigen Brut. Nur ein kühler Händedruck. Beim ersten Bruder jedoch vom Pfarrer ein warmer Kuss auf Mutters Stirn, die Pratzen etwas zu lang auf ihrem Rücken. Seine gichtigen Finger erinnerten sie an etwas. Die Bruderknorren hatten sich stets ungeschickt an die Flinte geklammert.
Sonja Gruber, geb. 1985 im Salzburger Land, studierte Linguistik und Publizistik, lebt und arbeitet in Wien. Mutter einer Tochter, Journalistin. Seit 2018 Veröffentlichung von Gedichten und erzählerischen Miniaturen in Anthologien und Zeitschriften.