96 / Erinnerung / Prosa / Juliane Sophie Kayser: Der Geruch nasser Steine

Motto: Alles fließt. Nichts ist in Stein gemeißelt.
Es gibt Tage, an denen frage ich mich, warum um alles in der Welt ich eigentlich Meeresbiologin geworden bin. Aber es gibt keinen Tag meines Lebens, an dem ich diesen Entschluss je bereut habe. Ich erinnere mich noch an meinen ersten Tauchgang, als wäre es gestern gewesen.
Ich sehe auf das blauschwarze Meer vor mir. Wasser, so weit mein Auge reicht: sich bewegendes Wasser. Eine kleine Unendlichkeit. Ich höre die Wellen in einem beruhigenden Rhythmus an den Strand schlagen. Doch mein Herzschlag macht eine Synkope und mag sich nicht beruhigen. Ab und an kreischt eine Möwe. Ich spüre die Hitze der Sonne und wie mir die Schweißtropfen über das Gesicht perlen. Mein Neoprenanzug zwickt mich an den unmöglichsten Stellen. Ich stehe kurz vor meinem ersten Tauchgang.
Da trägt der Wind den Geruch nasser Steine zu mir herüber. Mir wird ein wenig flau im Magen. Ich schaue auf die schwarzen, großen, glitschigen Steine, über die das Meerwasser hinwegspült und atme den Geruch nasser Steine tief ein. Ich schließe für einen Augenblick die Augen. Eine innere Unruhe droht in mir aufzusteigen. Schnell öffne ich die Augen wieder. Plötzlich stelle ich mir vor, wie das blauschwarze Meer mit seinen Seetangarmen nach mir greift. Nach und nach sind es nicht mehr nur zwei Seetangarme, sondern unzählige und ich werde aus einem Netz von Seetang eingewoben wie in einen Kokon und in die Tiefe gezogen. Um mich herum wird alles grünschwarz, der schlammige Seetang füllt meinen Mund. Er schmeckt nach altem Fisch und nimmt mir die Luft.
„Seid ihr bereit?“, dringt da die Stimme Cedricks an mein Ohr. Der fordernde Klang seiner Stimme wischt meine Hirngespinste augenblicklich fort. Unsere Tauchausrüstung haben wir schon längst auf dem Rücken. Wir haben die Atemregler durchprobiert. Wir sind bereit zum Abtauchen. Cedrick bringt uns in einem großen Schlauchboot zu seinem Lieblingstauchplatz, dem Leuchtturm der Insel Giglio. Nach einem kurzen konzentrierten Bodycheck folgt das Kommando zum Abtauchen. Nacheinander gleiten wir aus dem Schlauchboot und lassen uns rückwärts in unser Mare Monstrum fallen. Mit gemütlichen Flossenschlägen auf 8 Meter Wassertiefe schwimme ich vor zur Steilwand. Es ist nicht irgendeine Steilwand, es ist der Fenaio, der Leuchtturm! Die Steilwand fällt hier senkrecht auf ungefähr 45 Meter Wassertiefe ab. Ich falle durch ein großartiges Szenario an Gorgonien. Und immer wieder gleitet mein Blick an der Steilwand nach oben, wo ich die Felsformation um den Leuchtturm und die Steilwand sich in der Wasseroberfläche spiegeln sehe. Bis ich mich ganz auf den Abstieg in die Tiefe konzentriere. Ich spüre die Strömung. Es ist ein regelrechter Flug die Steilwand hinunter über riesige Felder weißer Gorgonien über gelbe Gorgonien und endet in einem Gorgonienwald in drei Farben Rot. Ich entdecke sogar einen Federstern, der auf einer roten Gorgonie wohnt. Federsterne halten sich gern auf in der Nähe von Gorgonien. Ich spüre, dass ich den Pflanzen und Tieren unter Wasser aufgeschlossener gegenüberstehe als den Menschen. Gorgonien, Seesterne, Korallen, Schnecken, Krebse, Schwämme, Sepia, Stachelhäuter, Manteltiere, Seepferdchen, Nesseltiere, Fische. Sie alle haben eins gemeinsam. Sie stellen mir keine Fragen.
Unter Wasser fühle ich mich wie ein anderer Mensch. Vollkommen frei. Beinahe wie ein Mensch ohne Geschichte… Als ich nach Hause kam, öffnete ich im Hausflur den Briefkasten, um wie jeden Tag die San Diego News und die tägliche Post rauszuholen. Ich eilte die steinernen Stufen herauf zu unserer Wohnung und sah dabei schon den Poststapel durch. Ein Brief fiel mir unmittelbar ins Auge, weil er einen himmelblauen Umschlag hatte. Mir wurde es flau im Magen, als ich den Absender entziffern konnte: Zofia Kowaleski, ul. Wiedenska 94 AD, 02-962 Warszawa.
Mir wurden die Knie weich, also eilte ich in unsere Wohnung, warf die Tür ins Schloss und setzte mich hastig an unseren Küchentisch. Während ich den Brief aufriss, bemerkte ich, dass meine Finger ganz kalt und weiß waren und zitterten. Auf der Vorderseite des Briefs stand Lisa Kaminski und meine Adresse. Ich nahm den Briefbogen heraus und wollte rasch die Zeilen überfliegen, die sich mir in gestochen sauberer Handschrift unaufhaltsam entgegenreckten. Ich schloss für einen Moment die Augen. Merkwürdig, als ich sie wieder öffnete, schienen mir alle gestochen scharfen schwarzen Buchstaben, die sich zu Briefzeilen auffädelten, wie Stacheldraht auszusehen.
Ich las: Liebe Judith,
Ich stocke, niemand sonst kennt meinen echten Namen! Dann überfliege ich die Zeilen des Briefs etwa bis zur Hälfte. Ich fühle mich nicht in der Lage weiterzulesen. Abrupt stehe ich auf, stecke den Brief zurück in seinen Umschlag und gehe hastig ins Schlafzimmer. Da durchzuckt mich ein Gedanke: Wenn ich noch eine Zeile weitergelesen hätte, wäre ich vermutlich auf der Stelle zu Stein erstarrt. So wie die Gefangenen der weißen Hexe auf Schloss Cair Paravel in den Narnia-Chroniken. Oder aber es wäre ein allmählicher, schleichender Versteinerungsprozess wie bei der Fossilisation. Hier spricht die Meeresbiologin aus mir. Zu Beginn dieses Prozesses steht der Tod eines Organismus… Doch ich scheuche die Todesgedanken weit fort und wende mich wieder dem Leben zu. Während ich den Brief in den hintersten Winkel meiner abschließbaren Schublade schiebe, versuche ich auch den Gedanken an Zofia ganz weit von mir weg zu schieben. Eine heiße Dusche wird mir jetzt guttun, denke ich. Ich ging ins Bad und ließ die Badezimmertür mit einem Knall zufallen. Ich nahm eine heiße Dusche und ließ meinen Gedanken freien Lauf. Je mehr ich versuchte, dich aus meinen Gedanken zu verbannen, desto angestrengter dachte ich über dich nach, Zofia, während ich mir den Schweiß vom Körper wusch.
Du schreibst, es werden Zeitzeugen gesucht. Du fragst mich allen Ernstes, ob ich dazu bereit bin, als Zeitzeugin in die Schulen zu gehen, um Oberstufenschülern zu erzählen, wie ich die Schoah er-und überlebt habe. Ich solle es für den Dienst an der Wahrheit tun.
Was ist Fiktion? Was Vision? Was Utopie? Was Realität? Und was zum Kuckuck ist die Wahrheit? Von wessen Wahrheit redest du? Du redest von deiner Wahrheit! Indem du deine Wahrheit als allgemeingültig erklärst, erklärst du meine Wahrheit zur Lüge.
Ich habe mir ein neues Leben aufgebaut. Zusammen mit Tomasz, den ich bei den Partisanen kennengelernt habe. Wir haben 7-jährige Zwillinge, Robert und Philipp. Ich habe mich dazu entschlossen, nicht mehr zurückzublicken. Lots Frau ist schließlich auch zur Salzsäule erstarrt. Ich habe nach vorne geblickt, um nicht innerlich zu versteinern. Ich habe mich dem Leben zugewendet und möchte mit der ganzen Vergangenheit nichts mehr zu tun haben. Warum kannst du das nicht einfach akzeptieren?
Und jetzt kommst du und lässt meine heile Welt wie eine Seifenblase zerplatzen und wühlst mit deinem Brief den ganzen alten, stinkenden Schlamm mit seinen spitzen, schmerzenden Kieseln wieder auf!
Du bist wie eine Gorgonie. Erst aus der Nähe betrachtet entfaltest du deine ganze Pracht. Aber Vorsicht. Deine Fangarme greifen sich alles Treibende. Wie diese Koralle bist auch du ein räuberisches Blumentier…
Ich hingegen bin ein Federstern und stehe filigran in der Strömung. Ich biege mich unter der Wucht des Wassers und breche doch nicht. Ich bin ein Federstern. Wenn Licht auf mich trifft, rolle ich mich zusammen. Ich bilde dann eine abstrakte Figur oder Form und verstecke mich so. Das Verstecken hat mir das Leben gerettet. Manchmal würde ich es gerne zurücklassen wie eine Schlange ihre alte Haut. Aber ich kann es nicht. Ich entstieg dem heißen Dunst der Dusche und zurrte mein cremefarbenes Handtuch fest. Dann öffnete ich die Badezimmertür so triumphierend, als ob ich gerade einem Gefängnis entkam.
Ich zog mir einen warmen Schlafanzug an und legte mich ins Bett. Ich warf mich noch eine ganze Weile rastlos hin und her. Schließlich fiel ich in einen unruhigen, traumlosen Schlaf.
Ich kann nicht glauben, dass ich das getan habe. Dass ich mitten in der Nacht hier herausgefahren bin, zur Bucht la Jolla Cove. Es war als würde ich an unsichtbaren Schnüren an diesen Ort gezogen worden sein. Der Mond war dreiviertel voll.
Was gibt mir das Recht, zu leben? Wo ihr alle tot seid! Mama. Papa. Miriam.
Ich trete näher an das Wasser. Blauschwarz und undurchdringlich, bedrohlich und unendlich breitet sich das Meer vor mir aus. Es ist ganz ruhig, keinerlei Wellengang. Totenstille.
Ich rieche den Geruch nasser Steine.
Immer wieder dieser Geruch nasser Steine. Er findet mich, wo ich auch bin. Er lässt sich nicht abschütteln. Durch keine anderen Gerüche vertreiben. Ich wollte mich nie wieder an ihn erinnern. Aber er hatte vor langer Zeit beschlossen, meine Fährte aufzunehmen. Du hier? frage ich bitter. Zu guter Letzt? Ich war die ganze Zeit über bei dir, antwortet mir der Geruch nasser Steine mit weicher Stimme, seit du mich im Warschauer Ghetto kennen gelernt hast. Ich war bei dir an dem Tag, an dem sie deine Mutter, deinen Vater, und deine Schwester wegbrachten. Nach Treblinka.- Schweig! - Ich war bei dir im feuchten Keller des Ghettos, bevor Irena dir den Chloroformschwamm ins Gesicht drückte, damit man dich in einem Kindersarg aus dem Getto schmuggeln konnte. - Ich will davon nichts hören! - Doch der Geruch nasser Steine fährt fort: Ich war auch bei dir, als du Irena das letzte Mal getroffen hast. Ihr seid auf dem Jüdischen Friedhof in Warschau spazieren gegangen. Es regnete in Strömen. Der Regen fiel auf die Gräber und ihre Steine. Du sagtest Irena, dass du den Kontakt zu ihr abbrechen und deine Vergangenheit ganz hinter dir lassen willst. Doch du merkst ja, ich bin immer noch da. Ich lasse mich nicht zerreißen wie einen alten Pass und in alle Winde verstreuen.
Zuletzt habe ich dich beim Tauchgang aufgesucht hier in dieser Bucht.
Ich dachte, es wäre mal wieder Zeit für ein kleines Rendezvous mit dir. Du warst ziemlich abweisend. Hör auf, mich als  Feind zu betrachten. Ich bin dein treuester Begleiter. Sieh dich um. Wer sonst ist hier, dir beizustehen? Ich sehe niemanden. Auch dein Grabstein wird, wenn der Regen darauf fällt, den Geruch nasser Steine haben. Das ist doch eine natürliche Sache. - Lass mich in Ruhe, rief ich und hielt mir beide Ohren zu. „Findest du etwa nicht, dass du zu deiner Familie gehörst?“
Dieses Argument ist ein Schach-Matt für meinen Widerstand. Hat er da nicht vielleicht doch recht? Der Zweifel beginnt an meinem Entschluss zu nagen, mich zur Wehr zu setzen. Na gut, flüstere ich dem Geruch nasser Steine zögernd zu. Du hast Recht, es ist eine natürliche Sache.
Ich mache einen Schritt auf das Meer zu. Der Mond scheint auf die glatten, großen, schwarzen Steine vor mir.

Doch da fällt mir plötzlich etwas ein wie ein lang vergessener Zauberspruch. Ich bin ein Federstern, sage ich laut zu dem Geruch nasser Steine. Ich stehe filigran in der Strömung. Ich biege mich unter der Wucht des Wassers. Aber – ich schreie inzwischen: Ich breche nicht. Hörst Du? ICH BRECHE NICHT!
Meine Schreie verhallen im Wind.

Ich mache auf dem Absatz kehrt, wende dem Meer jetzt meinen Rücken zu und beginne barfuß, wie ich bin zu rennen. Weg, nichts wie weg hier. Ich laufe meinen mörderischen Gedanken davon.
Ich fühle den weichen kühlen Sand unter meinen Füßen. Ich renne immer weiter, ohne stehen zu bleiben. Ich habe schon Seitenstechen, doch ich renne schneller und schneller.

ICH RENNE INS LEBEN.

 

Juliane Sophie Kayser
Geb. 1971 in Washington DC/USA, lebt heute in Heidelberg. Studierte Deutsch und Evangelische Theologie an der Pädagogischen Hochschule Freiburg, ist Grundschullehrerin. Letzte Veröffentlichung: Frankfurter Buchmesse 2020 „Franz und die Puppe auf Reisen”/Kinderbuch mit Illustrationen von Graham Rust und 2021 „Luftlinien”/Lyrik.