96 / Erinnerung / Prosa / Margarita Kinstner: Maestoso
Köflach. Dass dort der Vater ihrer Großcousine lebte, denkt sie. Sie kannte nur den Namen den Orts, nicht den Mann, und immer dachte sie dabei an den eigenen Vater und dass es zu seinem Aufenthaltsort keinen Namen gab, kein Wissen. Jetzt ist auch Köflach kein Ort mehr. Die Schaufenster fast alle leer, nur in einem sieht sie schmutzige Perchten-Masken (Lager des Schreckens). Sie fragt sich, wo die Menschen hier einkaufen, die Schuhe, die Nachthemden, dass es irgendwo ein Einkaufszentrum geben muss, vielleicht aber wird Köflach auch DHL-fernversorgt.
Auf den Häusern blaue Schilder, jedes Haus protzt mit seiner Geschichte. Und mitten drinnen ER, der Kloepfer, der Werksarzt, Distriktsarzt, Hausarzt, Bahnarzt, Armen- und Chefarzt, Heimatdichter, der den Hitler gar so gern hatte, und auf den sie noch immer so stolz sind, von Eibiswald bis Köflach und darüber hinaus, immer wieder Kloepfer, Kloepfer, nur in der Grazer Bibliothek hat man ihn aus den Regalen entfernt (Ehrenbürger der Stadt ist er trotzdem noch, wie sie später herausfindet).
Nach dem Kloepfer am Kirchenwirt vorbei, um die Kirche herum. “Gasthaus am Gries”, 1979 erschienen, noch nie hat sie von dem Roman gehört, noch nie hat sie von Eva Schindler Schmied gehört, jetzt findet sie die Autorin auf einer der blauen Tafeln. (Später wird sie die Google-Maschine befragen, aber nichts finden, war ja nur eine Frau).
Sie folgt den Wegweisern in die Natur hinaus, landet immer wieder in Sackgassen. Dann endlich: Über die Wiese, durch den Wald, dorthin, wo die Pferde stehen. Sie muss an die Oma denken, mit der sie und die Cousine damals unter irgendeinem Baum. Die Oma, die sagte, dass Zwiebel weinen, wenn man sie schneidet, dass das eine untersucht hätte, das Geräusch analysiert, das habe sie, die Oma, im Radio gehört. Die Lachtränen in den Augenwinkeln der Oma wegen der weinenden Zwiebeln, an die erinnert sie sich noch. Wie sind sie damals überhaupt auf das Thema gekommen, irgendwo zwischen den Koppeln, während sie Butterbrote gegessen haben (in denen sicher keine Zwiebel waren, aber hatte die Oma nicht einen aufgeschnittenen Apfel dabei?) Jedenfalls wollten sie zu den Lipizzanern, auch die Cousine war damals mit. Haben sie Pferde gesehen? Waren die nicht viel zu weit weg? Und dunkel. Keine strahlend weißen Lipizzaner, sondern grau-braune Pferdekörper, so hat sie es in Erinnerung. Und wie hieß dieser berühmte Hengst nochmals? Sie findet den Namen mitten im Wald, auf einem gelben Wegweiser. Maestoso-Rundweg. Lächerlich irgendwie, denkt sie und erinnert sich gleichzeitig an den Nachmittag bei der Schulfreundin, als sie diesen Kitsch-Film geschaut haben, auch das Buch hat sie dann gelesen, sie waren ja alle ganz verrückt nach den Lipizzanern. Und wie stolz waren sie, als sie dann auf einem ausrangierten weißen Gaul sitzen durften, irgendwo im Marchfeld, auf einem heruntergekommenen Reithof mit einem ewig besoffenen Lehrer. Am Ende der zwei Wochen dann der Brief an den Tierschutzverein, wegen der Gerte, die immer wieder auf die Nüstern der Stute niedergegangen war. Zwölf waren sie da, Ende der 1980er.
Jetzt fragt sie sich, ob die Oma den Kloepfer gekannt hat. Und was sie von ihm gehalten hat. Die Oma mochte Mundartgedichte, aber sie hasste die Nazis, von denen es immer noch zu viele gab, wie sie immer betonte. Der Oma hat sie damals auch von dem Brief an den Tierschutzverein erzählt. Recht habt’s, sagte die Oma, man darf seinen Mund nicht halten, wenn Unrecht geschieht, auch wenn’s nur um die Viecher geht.
Komisch, denkt sie, dass uns das mit der Stute damals so nah gegangen ist, aber Jugoslawien war uns dann wurscht. Und auch jetzt sitzt sie wieder am Frühstückstisch, glotzt die Zeit-im-Bild in der ORF-TVthek und bestreicht die Semmel mit Butter und Marmelade. Ab und zu verdrückt sie eine Träne, ab und zu sagt sie ein Wort, aber wenn sie es außerhalb der eigenen vier Wände tut, heißt es eh bloß wieder: Sprech’ma von was anderem, ist doch so ein schöner Tag heut, wozu ihn sich verderben?
Auch jetzt will sie nicht weiterdenken, nicht auf dem Maestoso- Rundweg, wo man jetzt neue Obstbäume pflanzt, fürs Klima, für den Umweltschutz (so steht es da, während man anderswo Tretmienen und Granaten in die fruchtbaren Äcker sät).
Der Weg zurück zum Bahnhof. Diesmal meidet sie das Dichter- Denkmal, kommt stattdessen an der Schule vorbei, davor Statuen von lesenden Kindern und spielenden Lipizzanern, wie wenn sich die Kinder heut noch für Bücher und Pferde interessieren würden. (Aber vielleicht tun sie es ja, was weiß sie schon von Kindern, sie sieht sie ja immer nur in den Öffis, wenn sie auf ihre Handys glotzen und sich gegenseitig die neuesten Meldungen in den sozialen Medien zeigen.)
Am Bahnsteig dann ein Anruf, und wieder ärgert sie sich, wieso hat sie das Handy nicht einfach zu Hause gelassen?
Daheim hackt sie Zwiebeln und Kraut, dazwischen tätigt sie Anrufe, organisiert, mailt. Und denkt an den Maestoso. Und die Oma. Und die Ruhe, die damals geherrscht hat (zumindest kommt es ihr jetzt so vor), als das Telefon noch eineSchnur hatte, von der man es nicht trennen durfte, und Briefe zur Post getragen wurden (oder einfach nur geschrieben und nie abgeschickt).
Margarita Kinstner
1976 in Wien geboren, lebt heute in Graz. Bisher sind drei Romane erschienen. Webseite: margarita-kinstner.com