54/blind/Interview: Gisella Linschinger im Gespräch mit Eugen Gomringer

Gisella Linschinger im Gespräch mit
Eugen Gomringer

Denkspielcharakter

Eugen Gomringer zählt zu den bedeutendsten Dichtern der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur und wird als „Vater der Konkreten Poesie“ bezeichnet. Er gründete und leitet das IKKP – Institut für Konstruktive Kunst und Konkrete Poesie in Rehau. Über den Entstehungsprozess seiner Gedichte, das Verhältnis von Sprache und Gedicht sowie die Zukunft der Konkreten Poesie sprach mit ihm Gisella Linschinger.

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Eugen Gomringer beim 1. Gmundner Symposium für Konkrete Kunst TEXTBILD-BILDTEXT, 1990, Foto: ©Franz Linschinger

Herr Gomringer, Sie gelten als Erfinder der Konkreten Poesie. Wodurch zeichnet sich diese Form der Dichtung aus?
Konkrete Poesie wurde erfunden, um der dichterischen Sprache eine Funktion zu geben im Sprachgeschehen der Nachkriegszeit. Unsere Sprachen befinden sich auf dem Weg der formalen Vereinfachung. Es bilden sich reduzierte, knappe Formen.
Es zeigt sich auch die Tendenz, viele Sprachen durch einige wenige, allgemeingültige zu ersetzen. Durch ihren modernen Zeichencharakter hat sich die Schrift an die Notwendigkeit der schnelleren Kommunikation angepasst. Sie wird in ihrer Verknappung neben der gesprochenen Sprache so notwendig, wie es optische Eindrücke neben akustischen sind. Zugleich tritt sie in den Bereich praktisch-ästhetischer Wertung. Die Schlagzeile und das Schlagwort schlagen nicht nur durch Lautkombination und Inhalt, sie schlagen auch durch das Schriftbild. Ähnliches gilt auch für längere Texte, die visuell behandelt und nach grafischen Gesichtspunkten gesetzt werden, um sich als Ganzes einzuprägen. Diese Verknappung und Vereinfachung der Sprache bedeutet nicht das Ende der Dichtung. Knappheit im positiven Sinn – Konzentration und Einfachheit – ist das Wesen der Dichtung. Heutige Sprache und Dichtung können einander demnach formal und substantiell speisen.
Das neue Gedicht ist als Ganzes wie in den Teilen einfach und überschaubar. Es beschäftigt durch seine Kürze und Knappheit, ist memorierbar und als Bild einprägsam. Es wird zum Seh- und Gebrauchsgegenstand: Denkgegenstand – Denkspiel. Der neue Spielcharakter des Gedichts hat mich zu meinem ersten Gedicht inspiriert. Diese Konstellation bestand aus den Wörtern ping pong.

Was ist eine Konstellation?
Die Konstellation ist die einfachste Gestaltungsmöglichkeit der auf dem Wort beruhenden Dichtung. Sie umfasst eine Gruppe von Wörtern – so wie ein Sternbild eine Gruppe von Sternen umfasst. In ihr ist zwei, drei oder mehreren neben oder untereinandergesetzten Wörtern – es werden nicht zu viele sein – eine gedanklich-stoffliche Beziehung gegeben. Und das ist alles!
Die Konstellation wird vom Dichter gesetzt. Er bestimmt den Spielraum, das Kräftefeld und deutet seine Möglichkeiten an. Der Leser nimmt den Spielsinn auf: Dem Wissen um die Möglichkeiten des Spiels kommt heute die gleiche Bedeutung zu wie ehedem der Kenntnis klassischer Dichtersatzungen.
Der Dichter kann die Konstellation auch so ausrichten, dass ihr der Leser Punkt um Punkt folgt: Er wird dadurch nicht vergewaltigt. Die Konstellation ist das letztmöglich absolute Gedicht.

Sie sprechen Deutsch, Schweizerdeutsch, Spanisch, Französisch und Englisch. Beeinflusst die Mehrsprachigkeit den Entstehungsprozess Ihrer Gedichte?
Die Mehrsprachigkeit ist das wichtigste Moment der Entstehung der Konkreten Poesie. Die einfache Form der Konstellation soll allen Sprachen offenstehen als Möglichkeit des Gedichts.
Es können auch mehrere Sprachen in einer Konstellation kommunizieren. Die Konstellation ist inter- und übernational. Ein englisches Wort mag sich zu einem spanischen fügen. Wie gut passt die Konstellation auf einen Flughafen! Im Prinzip ist die auf dem Wort beruhende Konstellation aber nicht zu übersetzen. Sie meint es wörtlich, einmalig.

Woran arbeiten Sie gerade?
Im IKKP haben wir pro Jahr vier bis fünf Ausstellungen zum Thema Konstruktive Kunst und Konkrete Poesie. Erfreulich viele Besucher und Interessierte kommen nach Rehau, was eine Unmenge an Korrespondenz nach sich zieht. Außerdem reise ich sehr viel.
Ich bin gerade aus Osnabrück zurückgekommen, wo ich gemeinsam mit Josef Linschinger auf Einladung der Friedrich Vordemberge-Gildewart-Initiative die Ausstellung „texte und editionen. konkrete poesie trifft konkrete kunst“ mit einem Vortrag eröffnet habe. Nun bereite ich mich auf die Ausstellung „Robert S. Gessner – Ingo Glass – Eugen Gomringer“ in Budapest vor. Danach geht es wieder nach Zürich. Natürlich schreibe ich neben der Institutsarbeit auch Texte und Gedichte.

In der Wiener Edition Splitter, die sich einer kritischen Kultivierung des Lesens verschrieben hat, wurde Ihr Gesamtwerk verlegt. Auch im Verlag Bibliothek der Provinz sind Bücher von Ihnen bzw. über Sie erschienen. Was verbindet Sie noch mit Österreich?
Österreich war mir immer vertraut und wird es mir auch bleiben. Es ist ein für Dichtung sehr offenes Land. Die Gmundner Symposien für Konkrete Kunst, an denen ich oftmals teilnahm, hatten in den 1990er Jahren und zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine enorme Wirkung. Zur Zeit übt das Museum der Wahrnehmung in Graz eine wichtige Funktion aus. Am 29. November diskutiere ich dort mit Bettina Irina Reimers, Archivleiterin der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung in Berlin, über Friedrich Fröbels Ursachen des Vergessens, der Verwechslung und des partikulären Interesses.

Blicken Sie optimistisch in die Zukunft der Konkreten Poesie?
Ja, denn es melden sich bei uns jede Woche neue Dichter und Künstler, die auf dem Gebiet der Konstruktiven Kunst und Konkreten Poesie arbeiten und Kontakt und Information suchen. Die junge Generation Konstruktiv/Konkreter führt uns sehr positiv vor Augen, dass das Potential dieser Kunst, die sich vor hundert Jahren manifestiert hat, noch lange nicht ausgeschöpft ist, indem sie sie auf ihre Weise weiterentwickelt. Das gibt Hoffnung und Zuversicht.

 

Eugen Gomringer
Geb. 1925 in Cachuela Esperanza, Bolivien. Studium der Nationalökonomie und Kunstgeschichte in Bern und Rom. 1953 Mitbegründer der Konkreten Poesie. 1954-1958 Sekretär von Max Bill, Hochschule für Gestaltung Ulm, ab 1975 Professor Kunstakademie Düsseldorf, 2000 Gründung des Instituts für Konstruktive Kunst und Konkrete Poesie in Rehau. Eugen Gomringer wird zu den bedeutendsten Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur seit den 1950er Jahren gerechnet und gilt überdies als Initiator und prominentester Vertreter der Konkreten Poesie (Internationales Biographisches Archiv). Zuletzt erschienene Publikationen: Vier Bände Sonette, 2008-2012 Admirador, Verlag Matthes & Seitz, Berlin, 2012.

Erschienen im etcetera Nr. 54 / blind / Dezember 2013