96 / Erinnerung / Prosa / Alexandra Braunecker: Dornenhaus

Wo ist denn euer Papa, fragt sie. Ihr g’hörts doch zum Loisl, setzt sie, mit einmal unsicher, nach. Wir wohnen hier, das ist unser Haus, weißt, bekommt sie stolz, und gemeinsam mit einer Einladung zu Tee und Matschkuchen, zur Antwort. Ein bissl schaust aus wie unsere Mama, nur die Haarfarbe passt nicht, erfährt sie noch, während sie über den niedrigen Zaun hinweg, die Arme auf dem obersten Rundholz abgestützt, eine stark angeschlagene Tasse in Empfang nimmt. Die windschiefe Holzkonstruktion, an die gelehnt sie nun fasziniert das wässrige Sammelsurium ominöser Blüten und Wiesenkräuter in ihrer Hand mustert, hat das Areal rund ums Haus immer schon von den Nutzflächen, den abschüssigen Wiesen getrennt.
Und seit sie denken kann, ranken dort, unterhalb einer schmalen Steinsetzung, Blattwerk und Geäst von Brombeersträuchern, Weißdorn und Hundsrose zu einem abrisartigen Gebilde ineinander. Dicht und höhlenartig hat sie ihn in Erinnerung, diesen Wall aus lebend-abgestorbenem Holz. Jetzt allerdings wirkt er ausgelichtet, zusammengesunken, sein Gehölz mehr tot als lebendig, selbst der einst ausgreifende Holunderbaum neigt sich skelettiert über die blank gescheuerten Rundlinge des Zauns. Die spielenden Kinder stören sich nicht daran. Ein wackeliges Holzgestell lehnt im Gestrüpp, dient als Anrichte, kleine Schuhe treten auf einen, über den belaubten Boden gebreiteten, verschlissenen Teppich, Buntstiftzeichnungen werden im Halbrund der dornenbewehrten Äste verteilt. Die beiden Mädchen kichern, lachen, sind sich selbst genug, beachten ihren Zaungast nicht länger. Sie wird eingelullt, von den hellen Stimmen, einer ungewöhnlich warmen Februarluft und monotonem Vogelzwitschern.

Schweres Motorengeräusch schiebt sich in die hypnotische Idylle. Widerwillig taucht sie auf, aus dem stillen Ort, tief in ihrem Inneren, hantelt sich zurück ins Hier und Jetzt, stellt die Tasse vorsichtig auf einen Pfosten und balanciert routiniert über den schotterdurchsetzten Hang, nimmt den Abschneider zum Haus, vorbei am Kirschbaum, der sich ihr mächtig, knorrig und nur noch von den starken Ästen der ihn umstehenden Bäume am Platz gehalten, entgegenreckt.
Ihre Hosentasche vibriert einmal, zweimal. Bist schon vor Ort, will ihre Schwester wissen, hat das Foto des morschen, umgekippten Riesen mit einem Tränen-Emoji kommentiert. Schad’, dass er nicht einen weiteren Frühling erleben kann, schreibt sie, weißt noch.
Sie wartet, mit Blick auf den Bildschirm, ihre Schwester ist jedoch schon offline, die Nachricht bleibt unvollständig. Doch, ja, sie weiß. Und sie sieht. Sieht in flechtenüberwucherten Gliedmaßen Leben pulsieren, frische Knospenansätze unverdrossen aus umrindeten Adern platzen. Nutzt nichts, denkt sie. Heute kommt er weg. Stamm gebrochen, Zeit vorbei.

Loisl steht mit Traktor und Seilwinde in der Hauseinfahrt.
Grüß dich, lang nimmer gesehen, freut er sich, tut mir leid, dass ich ausgerechnet jetzt Zeit hab, wo deine Mutter grad auf Kur ist, sagt er.
Macht nix, hab’s ja einrichten können, dass ich da bin, sagt sie, und super, dass du uns überhaupt eingeschoben hast, lügt sie.
Gut, gemma’s an, meint er und legt schwere Ketten um den vernarbten Stamm. Das Krachen berstender Äste, das Jaulen von Winde und Motorsäge frisst sich in ihren Kopf, hämmert gegen die Schädeldecke. Sie hat den Loisl gar nicht auf seine Töchter angesprochen, fällt ihr ein. Eigentlich sollte man sie von hier aus sehen können.Gefährlich findet sie das schon, solche Holzarbeiten, wenn die Kleinen in der Nähe sind.
Dann ist es vorbei. Der Kirschbaum liegt gespalten, zerstückelt und endgültig am zerfurchten Weg.
Deine Mutter hat gemeint, ich soll mich auch gleich um die Gstetten unter dem Haus kümmern, wenn ich schon da bin, sagt Lois neben ihr. Sie schluckt. Die Gstetten. Das Dornenhaus. Ihr Haus, das Haus ihrer Schwester, und jetzt auch irgendwie das Haus von Loisls Töchtern.

Sie geht vor, nimmt den Abschneider, so wie immer, so wie früher, während Lois mit seinem Anhänger über den schmalen Feldweg rumpelt. Die Tasse steht noch verlassen auf ihrem Platz, die Mädchen knüpfen bunte Bänder in Zweige. Je näher sie dem Dornenhaus kommt, Handschuhe überstreift, desto dichter wirkt das gewachsene Dach. Ganz wie damals.
Sie betrachtet die Kinder, erinnert sich. Erinnert sich an
Leichtigkeit, an Sommerwind, an Margaritenköpfe, die im hohen Gras aneinanderschlagen. So, pack’ ma’s, hört sie Lois sagen.

Sprödes Dickicht splittert unter knackendem Protest.
Je näher sie sich zum Zaun vorarbeiten, je mehr gekapptes Strauchwerk sich dunkel hinter ihnen anhäuft, desto schneller schießen die restlichen Triebe in die Höhe, verdichten, füllen kahle Stellen. Ihr tritt Schweiß auf die Stirn, Kinderaugen betrachten sie aus flirrenden Gesichtern, die kleinen Körper verlieren an Kontur. Mit jedem Schritt, jedem Handgriff meint sie zu schrumpfen, selbst wieder Kind, eines der beiden Mädchen zu sein, neben sich ihre kleine Schwester, in der vertrauten Sicherheit des Dornenhauses. Einer der Schemen, eines der Mädchen, hebt die Hand, findet ihren Blick, nickt und verblasst. Eiskristalle landen in zierlichen Fußabdrücken, glitzern.
Du Loisl, deine beiden Töchter, setzt sie an.
Töchter, geh, einen Buben hab’ ich doch, der sitzt grad brav in der Schule.
Wie ist das eigentlich für dich, redet er weiter. Deine Schwester und du, ihr habt’s in dem Gestrüpp da früher ja immer gespielt. Ich mein’ jetzt wo dann alles weg ist, der uralte Kirschbaum und so.
Sie bückt sich versonnen nach einem modrigen Brett, streicht über feuchtes Moos, atmet tief ein. Naja, weißt eh, schon lange her, sie unterdrückt ein Lachen, ein helles Kinderlachen, ich kann mich nimmer so genau erinnern. Vereinzelte Schneeflocken landen auf ihrem nun ruhigen Gesicht, landen neben dem eingestürzten Zaun, landen auf krakelierten Porzellanscherben, glitzern auf sprießenden Keimlingen.

 

Alexandra Braunecker
Geboren 1981 in Niederösterreich. Pendelt als Archäologin nach Wien. Schreibt und sinniert, sinniert und schreibt im Raxgebiet. Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften.