96 / Erinnerung / Prosa / Anna Hengstberger: kreislaufen

oder der Versuch, ein Marmeladeglas zu öffnen

Intro/
Es gibt keinen Anfang und kein Ende, nur einen Kreis,
einen Kreis, bei dem ich den Radius bestimme und der Mittelpunkt ist jetzt -
genau
es gibt kleine Knospen am Baum vor meinem Fenster, denen ich täglich beim Wachsen zusehen kann
genau heute schon
ein Blatt.
Es gibt Zahlen zwischen null und eins
Es gibt eine rote Liste, die siebenunddreißigtausendfünfhundert zählt.

1/ atmen
sag
wie lang kannst du die Luft anhalten?
zehn neun acht sieben sechs fünf vier drei zwei -
einhundertsechsunddreißig Minuten
Es gibt welche, die können sie einhundertsechsunddreißig Minuten anhalten, sie leben in der Familie der Schnabelwale.
Es gibt welche, die besonders tief tauchen.
und manche, die halten die Luft an, ihr Leben lang.

Es gibt Pflanzen, es gibt Algen, es gibt Bakterien,
die Kohlendioxid, Wasser und Licht verwandeln
in etwas Neues. In Glukose, in Sauerstoff, in Leben.
Es gibt Zahlen zwischen null und eins, es gibt Töne zwischen schwarz und weiß.

2/ konservieren
Wenn du gehen musst, welche Dinge würdest du mit dir nehmen?

Wir packen unsere Koffer und nehmen mit –
es gibt Dinge, die werden Wertsachen genannt,
es gibt ein Foto,
es gibt einen Regenschirm,
es gibt ein Buch, eine Flöte, eine Leerstelle –

Das müssen wir uns alles einmal merken, und der Speicherplatz geht uns jetzt schon aus. Die Gläser sind verstaubt und die reifen Früchte obendrein. Wer weiß, wie viele Ribiseln heuer an den Ästen hängen, damit die Oma sie als Marmelade einkochen kann, wer weiß, was wir mit den eingekochten Erinnerungen anstellen wollen, wenn uns die Butter ausgeht. Wer weiß, wo die Ribiseln überhaupt noch wachsen, wenn wir wiederkommen.

3/ erzählen
Sie werden gewesen sein. Sie werden hier zu Gast gewesen sein, zu Gast. Sie werden so getan haben, als wären sie die Gastgeber, nicht die Gäste. Sie, Ava, wird dem Kind erzählt haben, von den Ribiseln, die sie damals geerntet hat. Vom See, in dem sie im Sommer schwammen und auf dem sie im Winter Schlittschuh liefen. Sie, Ava, wird dem Kind zur Nacht eine Geschichte erzählen.

„Mein Kind“, wird sie sagen, „einmal ging ich zur alten Eiche, wie jeden Abend, um mich für ihre Dienste zu bedanken. Ich ging den Bach entlang, also dort, wo das Wasser wie eine kleine Straße am Boden entlangrinnt. Ich stolperte und fiel hin. Lang musste ich da gelegen haben, und als ich aufwachte, griff ich nach dem nächsten Ast, um mir aufzuhelfen. Ich fand keinen Halt. Da war nichts mehr als eine glatte Oberfläche. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Du musst dir vorstellen, mein Kind, dass ich plötzlich vom Himmel an quer durch den Boden bis zu den Wurzeln sah. Die Landschaft war das schönste Gemälde, das du dir vorstellen kannst. Tiefschwarz die Erde, durchfeuchtet vom Regen. Die Wurzeln schlängelten sich wie Adern direkt an meine Herzkammer, sattorange die Vogelbeeren dazwischen.
Ich blickte auf das Bild, das sich vor mir ausgebreitet hatte.
Es war nicht mehr zu betreten. Es war nur noch zu betrachten.
Natürlich, mein Kind, so oft habe ich dir davon erzählt. Das war der Tag, an dem ich begriffen habe, dass wir von nun an hier leben bleiben. Wir nennen es Museum, du entdeckst die Zeit im Zweidimensionalen, aber was rede ich da, du…“

Das Kind wird inzwischen eingeschlafen sein, und Ava wird es für die nächsten Stunden im Schlafraum zurücklassen. Sie wird durch die Hallen laufen, die Bilder ansehen, und immer wieder versuchen, die Tür nach draußen zu öffnen, obwohl sie längst weiß, dass es kein Zurück gibt.
Sie wird zum Baum gehen, das Leintuch ein Stück weit von der Glaskuppel streifen und bereits zum siebten Mal an diesem Abend den Stand der Sauerstoffproduktion geprüft haben. Es ist Dezember, kurz vor Weihnachten.

Zurück im Schlafraum wird sie das Einmachglas mit den kostbaren Erinnerungen öffnen und sich einen Blick auf das Foto - ihr liebstes zu dieser Jahreszeit - erlauben. Das Bild vom verschneiten Wald am See, davor ihre Eltern, lange noch, bevor das Kind in die Welt kam. Und stumm wird sie die Melodie summen, die ihr davon übrigblieb: leise rieselt der Schnee, still und starr ruht der See. [gesummt]
Längst wird sie erkannt haben, dass sie gefangen waren in einer Welt, die es nicht mehr gibt.

Outro/
Es gibt keinen Anfang und kein Ende, nur einen Kreis,
einen Kreis, bei dem ich den Radius bestimme und der Mittelpunkt ist jetzt -
genau
es gibt kleine Knospen am Baum vor meinem Fenster, denen ich täglich beim Wachsen zusehen kann
genau heute schon
ein Blatt.

Meinen Radius halte ich locker an der Hand wie das Seil eines Papierdrachens, da oben tanzt er im Wind.
Ich habe lange gewartet einen Anfang zu finden, aber es gibt keinen Anfang, kein Ende
es gibt nur heute
jetzt, genau.

 

Anna Hengstberger
Geboren 1996 in Scheibbs, wo sie u. a. Literaturveranstaltungen und Schreibworkshops organisiert. Lehramtsstudium in Wien und Graz. Sie ist als Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift ´apostrophe und als Lehrerin an einer Grazer Mittelschule tätig. Meist auf der Suche nach fliegenden Worten, hohen Bäumen und der verlorenen Zeit für einen kurzen Mittagsschlaf.