97/Verluste und Verloren geglaubtes/Prosa/Christin Figl: Sommer Ende Aus

„Es gibt keine Geschichten mehr. Klein-Martha, ich bin müde. Müde und leer. Kein Wort mehr da“, der Mund schließt sich und nur einzelne Barthaare zittern nach. Als würden sie noch vibrieren, erschrocken von dieser ungeheuren Nachricht. „Opa Hans, das geht nicht. Du kannst doch einfach wieder neue Wörter machen. Opa“, die Kinderstimme beginnt zu zittern. „Opa, ich kann sie dir doch geben, die Wörter. Ich hab noch viele. Aber bitte mach weiter; weiter neue Geschichten“. Klein-Martha ist sieben und der erste Riss in der Selbstverständlichkeit ihrer Welt lässt ihre Augen überlaufen. Es rinnen lautlos die Tränen in feuchten Spuren an den Backen herunter. Spuren, die sich innerhalb von Sekunden Wege in Puderzucker- und Schokoladenresten bahnen.
Es ist der letzte Tag der ersten Sommerferien.
Wochen, in denen Martha so weit weg war, so viel erlebt hat, dass sie an diesem Abend kaum sitzen kann vor Aufregung und Glück. Ferien, in denen sich die Tage auffalteten, in denen der Wind Marthas Locken zerzauste und ihre weichen Fußsohlen Hornhaut bekamen. Vollgesogen mit Sonne strahlen ihre Augen unter dem dunklen Pony hervor. Heute Abend würde sie endlich ihre Mutter wiedersehen und Moritz. Ihr bester Freund wird staunen, wenn er all die Geschichten hören wird. Es ist ein besonderer Abend, die Trauer neben der Vorfreude, die Krapfen neben der Suppe. Das Essen am letzten Tag durfte sie aussuchen, Krapfen vom Bäcker Bauer gab es, Opas warmer Schokoladenkuchen zur Vorspeise und dann noch Nudelsuppe zur Nachspeise. „Wer dann noch kann“, sagte Klein-Martha als sie den dampfenden Topf auf den Tisch stellte. „Ja, die Suppe füllt den restlichen Magen. Wenn dann noch etwas Platz
hat, dann Suppe“, sagte Opa Hans und lachte. Der Topf steht noch am Tisch, lauwarm.
Opas Gesicht liegt zur Hälfte im Kuchenstück und der letzte Krapfen liegt auf dem Holzboden der Küche. Er ist Martha aus der Hand gefallen, kurz nachdem der Kopf auf den Kuchen sank. „Opa“, Klein-Martha rüttelt vorsichtig an der rechten Schulter. „Opa, nicht schlafen. Doch nicht mitten im Kuchen.“ Opa rührt sich nicht, Marthas Körper dagegen umso mehr. Es zittert durch sie, von den Schultern in die Hände, sie beginnt zu schluchzen und rüttelt so fest
sie kann am schlaffen Oberkörper. „Opa Hans, aufwachen. Opaa. Das ist kein Spaß jetzt.“ Die helle Stimme bricht, als ihr ganz plötzlich klar wird, dass es kein Spaß ist. Opa Hans liegt im Kuchen.
Martha rennt. Rennt aus dem Haus, lässt die Türe offen, springt über die drei Eingangsstufen und ruft nach Frau Molte, der Nachbarin, ruft laut schon bevor sie am Gartentor angelangt ist. Kein anderer Gedanke hat mehr Platz, nur der Kuchen, der in Opas Gesicht liegt. Es ist alles still geworden um sie, jeder Moment zieht sich klirrend lang. Martha sieht die Barthaare vibrieren, ihren Hausschuh am Boden und die verschnörkelten Spitzen des Tors so nah bevor es blitzt und plötzlich dunkel wird.
Ihr Kopf fällt auf den Asphalt. Das Gesicht zur Seite gedreht, Richtung Zaunpfahl, den der Hund von Frau Molte jeden Tag beim Gassi gehen markiert. Die Abendsonne steht tief und zieht die Schatten lang. Es ist der letzte Tag der ersten Sommerferien und zwei Köpfe liegen falsch, der Junge wie der Alte.
Marthas Mutter ahnt noch nicht, was sie erwarten wird. Es gibt niemanden, der sie warnen könnte. Keine Anzeichen des lauen Abends deuten auf die Kälte hin, die sie lange nicht mehr loslassen wird. Der blaue VW biegt in die ruhige Wohnstraße ein, eine Frau mit langen braunen Locken steigt aus, eine dünne Jacke über die Schulter geworfen, in der linken Hand der Autoschlüssel, in der rechten ein kleiner Wiesenblumenstrauß und eine Handtasche. Sie sperrt das Auto ab, geht auf das Gartentor zu und streift den Gartenzaun.
Kurz frieren ihre Bewegungen beim Blick auf den Kinderkörper ein, wie in Zeitlupe lässt sie ihre die Blumen fallen, die Tasche auch. Sie schreit auf und stürzt auf das Kind zu. Ruft den Namen, immer und immer wieder „Martha“, berührt die Schultern, das blutende Gesicht des Mädchens, schaut sich verzweifelnd suchend nach ihrem Vater um und legt hektisch ihre Hand unter den Kopf des Kindes. Sie spürt. Viel und zugleich nichts. Martha öffnet einen Moment später die Augen und beginnt beim Blick in das besorgte Gesicht der Mutter zu weinen.
„Martha, Klein-Martha, komm her. War doch nur Spaß. Wo bist du denn, komm hab dich nicht so“, ruft es aus dem Haus. Das Haus, bei dem die Türe offensteht, Efeu rankt sich um den Eingang, das Geländer leuchtend blau. Das Haus, vor dem eine Mutter ihre Tochter findet und ein Vater fast seine Tochter verliert.
Die Mutter, die Tochter, hebt mit zitternden Fingern ihr Kind hoch und geht, ohne aufzusehen, zum Auto.
Hans steht im Hauseingang, die Abendsonne blendet ihn.
Ohne zu sehen. weiß er es. Langsam geht er auf das Gartentor zu und geht mit jedem Schritt weiter weg von sich und seinem alten Leben. Der Kuchen hängt ihm noch im Bart, denkt er und sieht seine Hand zum Mund gehen. Schräg, denkt er, dass das seine Hand ist, denkt er und dass es Martha geschmeckt hat, denkt er. Geschmeckt hat es.

 

Christin Figl
Geboren 1992, studierte Theater-Film-Medienwissenschaften und Psychologie in Wien. Das Interesse an Geschichten und Menschen treibt sie zu Büchern, Filmen und zum Schreiben. Arbeitet im Kultur- und Sozialbereich und beim Verein Ohrenschmaus im Team der „Literatur-Bootschaft“. Erste Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien (u.a. glitter, Matratze, Wir machen das) .