Künstlerportrait: Ahmet Bayazit. Schatten unserer Vergangenheit: Ingrid Reichel
Ingrid Reichel
SCHATTEN UNSERER VERGANGENHEIT
Anlässlich der etcetera- Ausgabe "Hinterhalt" hat sich Ingrid Reichel in den Untergrund St. Pöltens bewegt. Im Insider-Lokal "Underground" traf sie Ahmet Bayazit, der dort versteckt im Hinterhof in einer kleinen Werkstatt abgezogene Häute bearbeitet.
Nach einer scharfen Leberkassemmel - der schärfsten überhaupt - und einem von Walter, dem Urwirten schlechthin, selbst angemachten Chiliwodka sind meine Sinne gestärkt und meine Augen fokussieren auf jenen Mann, der zuerst einsam zeichnend an einem Tisch abseits sitzt und dann in der Dämmerung dieser ersten lauen, frühsommerlichen Nacht mit dem Feuer eine wunderbare theatralische Inszenierung im Garten des Hinterhofs vollbringt. Die Stunde des Geschichtenerzählens ist angebrochen, wir rücken näher. Vom lodernden Feuer kommt die Schattengestalt auf uns zu und setzt sich zu uns. Es seien Entwürfe von Figuren, an denen er arbeite, antwortet Ahmet Bayazit, der sich damit Zeit lässt, meine Neugierde zu befriedigen.
Es fließt noch mehr flüssiges Chili, bis wir Ahmets wahre Schattenwelt betreten dürfen. Durch einen von dunklen, wirren Bildern und anderen Werkmaterialien beengten, kurzen Gang betreten wir einen schummrigen, mit Sofas, Decken und Polstern ausstaffierten gemütlichen Raum. In der Mitte ein runder Tabletttisch im orientalischen Stil, der Unterbau von ihm selbst entworfen, gedrechselt und konstruiert, ein Aschenbecher und Kerzen darauf. In der linken Ecke ein etwa zweieinhalb Meter langes Puppentheater-ähnliches Konstrukt, gekleidet in roten Samt, bestickt mit Sonnen und Monden und umsäumt mit goldenen Fäden.
Ein weißes Baumwolltuch ist über die Kulisse gespannt. Gleich neben dem Theater und damit die rechte Ecke ausfüllend biegt sich ein Tisch unter der Last von Arbeit, Ideen, Entwürfen und Kreativitätsprozessen. Darüber hängt von der Decke ein Gestell, vollgefüllt mit ausgebreiteten, steifen Häuten. Holz, Werkzeug, Nähzeug, Farbe, Leinwände, Papier, ein paar Gläser, ein paar Getränke, eine Wasserstelle füllen die restliche Längsseite des Raumes. Weiche südamerikanische Klänge dringen an unsere Ohren. Aus den zwei Fenstern gegenüber strömt das Licht des noch immer lodernden Feuers im Garten und wirft Schatten; Schatten, die uns schon als Kinder faszinierten, weil sie das Reale ungreifbar machen.
So ist die Stimmung, als ich mit Ahmet Bayazits Schattenfiguren Bekanntschaft schließe. Filigran, minutiös und detailliertest gearbeitete Figuren aus gegerbtem Kalbsleder, die beweglichen Körperpartien wie Kopf, Arme und Beine mit starkem Garn verbunden, mit Tusche gefärbt und bemalt, von hinten ein Holzstock montiert. Hinterhältig, gebeugte Kerle mit Gewehr oder Männer von Welt mit erhobenem Haupt und Regenschirm unterm Arm oder Laterne in der Hand, Frauen in Edeltracht mit Fächer, Fabelwesen und ein Haus mit Balkon werden von hinten beleuchtet, gegen das weiße Tuch gepresst. Dieses weiße Tuch erweist sich als eine Leinwand, eine Projektionsfläche also, auf der sich dem Zuschauer eine bewegliche und bunte Schattenwelt offenbart.
Die letzten originalen Schattenfiguren habe ich im Frühjahr in der Ausstellung „Schaulust. Die Kunst des Sehens und des Täuschens“ in der Kunsthalle Krems gesehen. Alte traditionelle balinesische, javanische, ägyptische, chinesische, indische, griechische und türkische Figuren in verblasster Farbenpracht schmückten die graue Wand hinauf zur damaligen Ausstellung.
Doch hier in St. Pölten, ganz im Verborgenen, erstrahlt die tot geglaubte Theaterwelt in neuem Glanz.
Es ist mehr eine Leidenschaft, sage ich, mehr als ein - wie er es nüchtern formuliert - Hobby, welches er betreibt. Er nimmt statt der traditionellen dickeren Kamelhaut das weichere und seiner Ansicht nach ergiebigere Material: die Kalbshaut. Das noch handgefertigte Material ist wie das Schattentheater zu einer Rarität geworden. Seinen Vorrat an Häuten bezog er von dem "letzten Gerber" in der Türkei. Er ist mittlerweile schon über 80 Jahre alt. "Ich weiß gar nicht, ob er noch lebt."
Bayazit sucht nach einer alternativen Quelle in der Region und meint in Mariazell fündig geworden zu sein. "Alles ist leider eine Frage des Geldes." Die Häute werden einem mühsamen und langwierigen Prozess unterzogen. Nach dem Entfleischen und der Auflockerung des Hautfasergefüges werden sie in ein Kalkbad eingelegt, um sie dann von den Haaren durch mehrfaches Schaben zu befreien. Später erfolgen die Entfettung und die Entwässerung. Da rohe Haut hornartig trocknet, bekommt sie einen transparenten Charakter.
Eigenartig wirken diese Häute, so aufgeschlichtet über seinem Arbeitstisch - das Schweigen der Kälber in Erwartung auf Zuschnitt. Naht und Färbung scheinen geduldig auf das Leben auf der Bühne, hinter dem weißen Tuch zu warten.
Durch seine Tätigkeit im Festspielhaus ist der gebürtige Istanbuler mit allen Formen des Theaters vertraut. Vom Straßentheater über Gaukler hat er zum Ursprung, dem Schattentheater, zurückgefunden. Sein Augenmerk liegt im traditionellen Karagöztheater, welches nach der Hauptfigur benannt ist. "Der Legende nach ist Karagöz ein einfacher Bauarbeiter gewesen, der Hacivat, einen gebildeten Mittelstandproleten, beim Bau einer Moschee kennen lernte. Die beiden machten mehr Show als sie Arbeit verrichteten, und die Baustelle geriet außer Kontrolle. Auf Anordnung des Sultans wurden sie schließlich geköpft. Die Hinrichtung erwies sich jedoch als schwerer Fehler, denn tiefe Trauer machte sich breit. Und so forderte der Vizekanzler das Karagöz-Schattentheater, um die beiden zum Leben zu erwecken", erzählt er begeistert weiter.
Neben den beiden Hauptrollen Karagöz und Hacivat tauchen noch andere Charaktere der Istanbuler Gesellschaft und der verschiedenen religiösen und ethnischen Gruppen des Osmanischen Reiches, aber auch Randgruppenvertreter, sowie Fabelwesen auf. Die kontroversen Figuren ermöglichen Komik, Ironie und Satire. Die Stücke sind gespickt mit sozialkritischen Aspekten aus der spätosmanischen Zeit.
Auf der Ebene der sprachlichen Kommunikation wird der multikulturelle Kontext sichtbar. Dies sei im Übrigen der Unterschied zu den anderen Schattentheatern – die Figuren vertreten verschiedene Völker und Kulturen, so Bayazit. Auch in Größe und Spielart entwickelte sich das Karagöz-Schattentheater in seiner eigenen Osmanischen Art, fährt er fort: "Es gibt traditionell vier Szenen. Die Eröffnungsszene, die mit bestimmten Versen das Publikum auf den Ursprung hinweist und auf das Stück vorbereitet. In der zweiten Szene spielen die zwei Hauptfiguren Karagöz und Hacivat ihren Sketch, und erst in der dritten Szene kommen die anderen Figuren hinzu. Die vierte Szene ist dann die Verabschiedung und die Vorbereitung auf das nächste Stück."
Während des Stückes wird improvisiert, deswegen lässt sich nie eine exakte Länge des Stückes festlegen. Ohne weiteres sei es möglich, dass ein Karagözstück zwei Stunden dauert. Im Übrigen spielt immer nur einer, bestenfalls hat dieser einen Helfer zum Zureichen der Figuren, erzählt er angeregt weiter. "Früher war das Schattentheater mit Live-Musik und Gesang begleitet. Leider haben andere, moderne Formen der Unterhaltung, wie Kino und Fernsehen, diese alte Tradition getötet."
Ahmet Bayazit ist sehr kommunikativ, man spürt, dass ihm der Kulturaustausch zwischen den Völkern ein Bedürfnis ist. Für Nepp hat er nichts übrig. Bodenständigkeit ist für ihn kein Zeichen für Unflexibilität oder gar Brut von Intoleranz. Gerade durch Verwurzelung ergibt sich die Stärke für ein gemischtes Miteinander. Im Karagöz sieht er eine Möglichkeit, die Menschen damit zu konfrontieren.
Diesbezüglich hat er nicht nur viele Ideen, sondern auch Projekte laufen. Zum einen möchte er das klassische Stück "Die Hexen" aus dem Türkischen ins Deutsche übersetzen und es ins Heute transponieren. Auch Kinder sind ihm ein großes Anliegen. Das Stück hat natürlich einen moralischen Inhalt und handelt von der Schwere der Lüge. Gerade deswegen würden sich Die Hexen dazu eignen, für Kinder einen Bezug zu anderen Kulturen herzustellen bzw. zu helfen, die eigene nicht zu vergessen. Die Schwierigkeiten bei der Übersetzung zögern jedoch alles hinaus.
Ein weiteres Projekt und Anliegen ist Bayazit die Verschmelzung des Karagöz mit dem Wiener Milieu. Hierfür hat er sich mit Christian Qualtinger zusammengetan. Karagöz und Hacivat auf Wienerisch? Ja, das könnte klappen. Die beiden Gestalten erinnern sowieso an die Kabarettisten Ernst Waldbrunn und Karl Farkas. Doch leider mangelt es beiden an Zeit, um das Projekt zu realisieren.
Die Schatten der Nacht haben uns eingeholt. Doch da der nunmehrige Niederösterreicher seine Wurzeln nicht vergessen hat, kann er in seiner privaten Welt das orientalische Zeitgefühl weiterleben. Wir trinken noch etwas, rauchen gemeinsam eine Wasserpfeife und diskutieren weiter in die Nacht hinein. Die Zeit steht still…
Nichts drängt ihn, seine Projekte zu realisieren. Es soll ja ein Hobby bleiben…
Kurzbiografie: Ahmet Bayazit
Geboren 1965 in Istanbul, kam Bayazit später nach Wien, um Betriebswirtschaft zu studieren. Der für ihn auffällige Mangel an Kommunikation beim Einkaufen motivierte ihn, in der Strozzigasse ein Geschäft mit Kunsthandwerk zu eröffnen, welches seinen Handelsansprüchen - dem kommunikativen Handel - entsprach. Später übernahm er den 1. Wiener Makrokosmos, einen Bioladen. Seit 1996 arbeitet er in St. Pölten im Festspielhaus als Hausorganisator. Mehr als zehn Jahre beschäftigt er sich mit dem Karagöz und seinen Figuren. Seit ca. 2002 betreibt er eine Homepage: www.karagöz.at
Lebensmittelpunkt ist seine Familie, mit der er die Landluft genießt.
Anmerkung:
Ausstellungskritik "Schaulust. Die Kunst des Sehens und des Täuschens" von Ingrid Reichel auf www.litges.at
Underground: Josefstr. 1, Lokaleingang Dr.-Karl-Renner-Promenade, 3100 St. Pölten. Di bis Sa: 19 bis 4h
Kleine Geschichte des Schattentheaters:
Schattentheater gab es viele. Zu den ältesten gehört wohl das indonesische Wayang-Puppentheater, welches von der UNESCO unter die Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit aufgenommen wurde, sowie das chinesische Schattentheater píyǐngxì.
Von China über Südostasien nach Kleinasien etablierte sich im Mittelalter das Karagöztheater, welches heute noch während des Ramadan Tradition hat. Während der Osmanischen Herrschaft kam es nach Griechenland, wo es Karagiozis heißt. Nach Europa kam das Schattentheater wahrscheinlich jedoch direkt aus Asien. Hier ersetzte es als Laientheater vor allem im ländlichen Raum und für die Unterschicht das klassische Theater.
Große Beliebtheit erreichte das Schattentheater im 18. und 19. Jahrhundert in allen Teilen Europas. In seiner Blütezeit wurden in der Romantik vor allem in Frankreich mit „chat noir“ (schwarze Katze) und später in Deutschland mit den „Schwabinger Schattenspielen“ immer bewegungsfähigere Figuren entwickelt. Während asiatische Schattentheaterfiguren aus Pergament gefertigt sind und an Stäben bewegt werden, setzten sich in Europa Figuren aus Pappe, Holz oder Metall durch.
Moderne Schattentheater lösen sich mehr und mehr aus der Zweidimensionalität. Auch Film und Computeranimationen werden genutzt, was die Zuordnung der Theaterform allmählich verschwimmen lässt.