Buch

Sylvia Krupicka: Mädchen zwischen den Zeilen

Cornelia Stahl

Sylvia Krupicka:
Mädchen zwischen den Zeilen

Roman
Berlin: Periplaneta Verlag
2024,143 Seiten
ISBN: 978-3-95996-272-8

Von den Bedingungen des Aufwachsens erzählt die Berlinerin Sylvia Krupicka ierzählt von der zwölfjährigen Simone, die 1973 in einem Altbau im Osten Berlins mit den Eltern und ihrem engsten Vertrauten, ihrem jüngeren Bruder Römi, lebt. Das Besondere an dem Haus ist eine Mauer, die das Gebäude in ein Vorder- und ein Hinterhaus teilt. Letzteres darf man nur mit Erlaubnis der Polizei betreten. Simones Kindheit wird kontrolliert von den Eltern, vor denen sie sich fürchtet: „Ich habe Angst vor meinen Eltern. Beide zusammen sind in der Lage, mein Leben auszulöschen“, S.5. Ihr Tagesablauf ist engmaschig strukturiert, Arbeiten im Haushalt gehören zur täglichen Pflicht. Gut, dass es die Höhle gibt, in der sie sich mit zwei Jugendlichen regelmäßig trifft, um der Kontrolle der Erwachsenen zu entkommen. In einen der beiden ist Simone verliebt.
Manchmal vergisst sie die Zeit und ihre Aufgaben zu erledigen: „Ich krieg eine gepfiffen, wenn wir kein Brot mehr holen“, S.25, bemerkt Simone und vermittelt Lesenden einen Eindruck des Umfeldes, in dem sie aufwächst.
Immer wieder wird sie von Gefühlen und Gedanken überwältigt, die sich ihrer Kontrolle entziehen. Sie sind schwer wie Steine und lassen sich nicht vom Wind hinwegfegen. „In meinem eigenen Fantasiekeller baue ich ein Regal mit konservierten, unangenehmen Gedanken und allen beschissenen Gefühlen. Irgendwann werde ich die Gläser öffnen und mir alle genau (…) ansehen. Oder sie bleiben für immer dort, wo sie sind und alles, was darin verschlossen ist, taucht am besten nie wieder auf“. Einziger Lichtblick ist die ältere Nachbarin Frau Schmidt. Sie darf nach Westberlin reisen, und sie hat Verständnis für die Nöte der Kinder im Haus. Regelmäßig bäckt sie für alle Kuchen. Als ein Maler, der einen Ausreiseantrag gestellt hat, seine Bilder nicht mitnehmen darf, verwahrt sie Frau Schmidt in ihrer Wohnung. Ein sprachlich und atmosphärisch verdichteter Roman, der ein Stück Zeitgeschichte erzählt.

Hg. Josef Linschinger: gemeinsam mit gomringer

Eva Riebler

gemeinsam mit gomringer:
together with gomringer

Hg. Josef Linschinger
Verlag Bibliothek
der Provinz , Weitra
80 Seiten, 2023
ISBN: 978-3-99126-208-4

Wer ist Eugen Gomringer? Ist er nur Schriftsteller oder Begründer der Konkreten Poesie? Geb. 1925 in Bolivien, im fränkischen Rehau wirkend und wohnend traf er ab 1990 mit dem, ebenfalls an der Konkreten Kunst arbeitenden Kunstprofessor aus Linz – mit Josef Linschinger – zusammen.
Josef Linschinger veranstaltetete 1990 das 1. Gmundner Symposion für Konkrete Kunst, zu dem er Eugen Gomringer und weitere 9 bedeutende Konkrete Poeten und eine Poetin – Ilse Granier, eine Ikone –einlud. Anläßlich des Symposion Konkrete Plastik stellte er seine Stahlplastik VOKALE an die Esplanade in Gmunden. Er versah in seinen Arbeiten die Selbstlaute in verschiedenen Schriften mit Farbe und übersetzte u.a. die Titel der Thomas Bernhardschen Werke in Bar-Code, den wir von den Warenbezeichnungen kennen.
Linschinger ist einer der bescheidensten Menschen und arbeitsintensivsten, genauesten Künstler, die ich kenne. Das vorliegende Buch hätte ja treffender „gemeinsam mit linschinger” heißen können, da er auch immer Künstlerinnen und Künstler aus verschiedenen Ländern zum Gedankenaustausch und zur Zusammenarbeit einlud. Zu Japan hat er eine besondere Beziehung durch Shutaro Mukai und Hiroshi Tanabu, die „das stundenbuch” von Eugen Gomringer ins Japanische übersetzten, das er selbst in Bar-Code übertrug. Ein weiteres Buch heißt MITEINANDER.
Das ist wohl das wichtigste Wort für Linschinger! Warum kenne ich Josef Linschinger aus Traunkirchen? Weil er als damaliger Präsident der Künstlergilde Salzkammergut meine Vernissage zur Neueröffnung des Hotels Goldener Brunnen, 1998 in Gmunden, besuchte. Dann stellte er für die Zeitschrift „etcetera” eine Auswahl seiner „etc„-Variationen zur Verfügung. Diese und Bilder seiner Serien gab es in der Ausstellung „linschinger konkret” im Stadtmuseum St. Pölten zu sehen, als Linschinger 2004 – vor 20 Jahren – zum Heftkünstler des ETCETERA gebeten wurde. Also eine schöne Geschichte des MITEINANDERS!
Danke lieber Josef!

Zdenka Becker: An einem anderen Ort

Eva Riebler

Zdenka Becker:
An einem anderen Ort

Foto Nikolaus Korab
Literatur Editiion, St. Pölten
220 Seiten, 2024
ISBN 978-3-902717-75-7

Hätte ich an einem anderen Ort die sein können, die ich nicht war, oder bliebe ich die, die ich schon immer bin?“ – so der erste Satz zum von der Autorin aus Eger/ Tschechien, etwa 60 km entfernt vom seitherigen Ort ihres Wirkens und Tuns. Heißt es nicht vielmehr: Hätte ich die werden können, die ich nun bin? Ja, diese Frage stellt sich auch uns stets. Wer bleibt schon am Ort seiner Geburt und seines Aufwachsens? Ist es nicht von Vorteil in die Welt hinaus zu ziehen und eine andere zu werden, was ja sowieso gelingen wird?
Ja es geht um Heimat und Nicht-Heimat, falls man diese verlassen hat. Auch wenn man dies freiwillig tat, weil schon ein Kind unterm Herzen, von dem, den man beabsichtigte zu heiraten.
Und es geht um Liebe, die brauchen wir auch in Corona- Zeiten immer analog! S. 81
Viele interessante Erinnerungen an eine andere Welt und Mentalität durchziehen die Geschichten. Besonders interessant ist z. B. der Dialekt der alten Babka, der slowakischen Oma, der am ehesten an die neue Sprache in der St. Pöltner/Wiener Heimat herankommt. Ja, wie kann man neben den Einheimischen bestehen? Und fühlt man sich neben Flüchtlingen nicht wieder selbst als „Zugroaste”, wie damals? Sind gar ganze Länder symbolische Fußabstreifer oder Kellerräume? Diese vielen Fragen zeugen schon vom Verständnis und der Sensibilität der Autorin, die auch nach 50 Jahren nicht abgestumpft ist. Sie führt uns auch in die Gedankenwelt eines geflüchteten Ukrainers und lässt ihn S. 62 rufen: „Vertraue nicht, vertraue nicht, vertraue niemals Moskau!”
Zdenka Becker erzählt genial, sei es vom schwarz-weißen Hund oder dem Großvate,r der dem Sozialismus nie entkommen ist oder ihren Deutschkursen in der „German Summer School” in Albuquerque.
Ein wirklich abwechslungsreiches, spannendes Werk. Machen uns unsere Erinnerungen oder ist es nur so, dass wir unsere Erinnerungen machen? Zdenka Becker kann beides und schuf uns ein Erinnerungsbuch!

Thomas Sautner: Pavillon 44

Eva Riebler

Thomas Sautner
Pavillon 44

Roman
Picus Verlag Wien
450 Seiten, 2024
ISBN-978-3711721495

Thomas Sautner ist immer gut! Und wenn sein Roman fast 500 Seiten umfasst, er einige Jahre daran gearbeitet hat, ist es noch erfreulicher! Wofür ist Sautner diesmal gut? Dank seiner intensiven Beobachtungsgabe und humorvollen Analysierung – für stetes Lächeln und intensive Gespanntheit!
Die Hauptperson ist ein alter, sozial isolierter, schrulliger Primarius, der phasenweise genial zu sein scheint, jedoch von seinen Fachkollegen scheel beurteilt wird. Und  zwar ob seiner medikamentarmen, Gespräche führenden Therapie. Und nun trifft er auf die Journalistin Alica Berg, die einen Roman über ihn und seine Patienten des Pavillons 44 schreiben will. Dies ist ein Sondertrakt, in dem nur für den Primar interessante Fälle eingeliefert werden, deren Psychose er genau studiert und fast wie in einem Krimi gedanklich souverän lösen will.
Schon der Eintritt in diesen Roman mit seinen besonderen Personen gelingt großartig. Ein Nackter sitzt am Mausoleums-Dach, trinkt mit dem aufgebahrten toten Freund ein Bier nach dem anderen und spricht, nachdem er im Pavillon 44 landet immer noch mit seinem verstorbenen Freund.
Sautner schlüpft in die Gedanken vieler Personen und betreut professionell deren oft abstruse Gedankenwelt. Er lässt uns an so vielen Lebensweisheiten normaler und verrückter Patienten teilhaben und erklärt uns so nebenbei die Machenschaften und Freunderlwirtschaft eines Wiener Bürgermeisters und warum da in der Parteipolitik nichts weitergehen kann.
Immer wieder überrascht uns Sautner mit seinem nicht nur medizinischen Wissen, auch von der Entstehung des Universums als zweidimensionales Hologramm berichtet er augenzwinkernd oder von einem ehrgeizigen Primarius, der mit der medikamentösen Behandlung weibliche Sex-Unlust berühmt werden will.
Man kann Sautner nur beglückwünschen und den Leser auch, dass er zu so einem witzig-spritzigen Lesevergnügen gekommen ist.

Robert Streibel: Krems. Das Ende der Verdrängung

Eva Riebler

Robert Streibel:
Krems

Das Ende der Verdrängung
Weitra,
Bibliothek der Provinz
2024, 512 S.
ISBN 978-3-99126-206-0

Erinnerungskultur pur! Robert Streibel, geb. 1959 in Krems, ist ein großartiger Journalist und Autor. Er recherchiert nicht nur in allen öffentlichen Stellen, sondern fährt seit 1986 von England bis …Stalingrad …bis Jerusalem und …. um Fotos wie Berichte noch lebender Zeitzeugen zu bekommen. Sein Interesse gilt stets der Zeit des Nationalsozialismus, worüber er im Zuge seines Germanistik und Geschichtsstudiums dissertierte. Ohne seine Werke Krems 1939-45. Eine Geschichte von Anpassung, Verrat und Widerstand, 2014 oder April in Stein 2015 usw., müsste dieses Buch mehr als 512 Seiten aufweisen.
Er ist ein Unbeirrter, ein leidenschaftlicher Wiederholungstäter in Sachen Erinnerungskultur: Ist die Erinnerung nicht unser Gedächtnis? Ist sie Anlass zur Schande oder zum Wundern und Wegsehen? Er recherchiert genau, nennt alle Namen und exakte Ort und belegt sorgfältig – und das macht die Sache für viele so ungemütlich! Dabei klagt er nicht an, sondern bringt, oft mit Ironie, alles, was beweisbar ist. Und das macht seine Bücher so wertvoll und lesbar, ohne sich einen giftigen Dorn einzupflanzen!
Streibel findet auch außerhalb von Anfeindungen, Vertreibung und Mord, sei es im KZ oder bei der Öffnung des Gefängnisses Stein seine Themen in Krems. S. 182 ist er auf der Suche nach einem 1938 im Göttweiger Konvent gestohlenen, nunmehr quasi „entliehenen“ Barockgitter im Hotel Post und „umstellt das Gerücht mit Fotos.” In der guten Stube nun zum „barocken Gerücht” eine einfache Frage zur Nachspeise an den Wirt. „Die Antwort war Erinnerungsbarock, doch nicht stilecht, sondern aus verschiedenen Versatzstücken zusammengesetzt.”
Streibel weiß immer den Täter und nicht nur das. Er ist Spezialist in Sachen Verdrängung von Nutznießern in einer Stadt, die bereits 1930 die meisten Hitler-Sympathisanten, den ersten Nazi-Bürgermeister 1932 und 1946 die wenigsten (1,1%!, NÖ 9,6%) belasteten Nazi hatte.
Empfehlung unbedingt und naturgemäß!