Peter Kaiser
Der Schatten der Giganten
Wiener Philharmoniker
Festspielhaus St. Pölten, Großer Saal
10.03.2012, 19.30 Uhr
Johannes Brahms: Klavierkonzert Nr. 1d-moll op. 15
Pjotr Iljitsch Tschaikowski: Symphonie Nr. 6 h-moll op. 74 - Pathétique
Wiener Philharmoniker
Solistin: Hélène Grimaud Klavier
Dirigent: Yannik Nézet-Séguin
Einführungsgespräch: Gottfried Franz Kasparek
Mitte November gastierte die Pianistin Hélène Grimaud mit Clemens Hagen am Violoncello im Festspielhaus St. Pölten. Am Programm standen neben Robert Schumann und Claude Debussy auch Sonaten für Violoncello und Klavier von Johannes Brahms. Dieser Komponist, sowohl Klassiker wie Romantiker und schon Moderner (A. Schönberg), faszinierte Grimaud schon seit sie das Klavierspiel (und damit ihre Lebensrettung, wie sie in ihrem Buch Wolfssonate* schreibt) für sich entdeckt hatte. Sein Klavierkonzert Nr.1 ist eines ihrer am häufigsten gespielten Werke. Brahms hat in meinem Herzen sofort einen Platz eingenommen, der ihm nicht mehr streitig zu machen ist, schreibt sie in ihrer Autobiografie. Und diese Nähe ist sowohl in ihren Interpretationen seiner Kammermusik wie auch des Orchesterwerks unmittelbar erlebbar. Das Geheimnis von Grimaud ist es, trotz ihrer explizit hochromantischen Ausdeutung ihres Lieblingsrepertoires niemals überbordend oder sentimental zu werden. "Leidenschaft bedeutet, dass man sich mit Feuereifer in das stürzt, was man tut, mit Körper und Seele, ohne Zögern und ungehemmt; so habe ich die Dinge gemacht, und so mache ich sie noch heute" (Zitat: Wolfssonate). Nur die absolute und selbstkritische Ernsthaftigkeit in der Auseinandersetzung mit Komponisten und Werk kann bei solch ungehemmter Herangehensweise wie bei Grimaud zu einem dermaßen intensiven wie glasklaren Hörerlebnis führen. Das macht sie einzigartig.
Brahms', vor allem im 1. Satz, sehr symphonisch geprägtes Klavierkonzert Nr. 1 (Uraufführung 1859 in Hannover), leuchtete im Festspielhaus durch seine differenzierte Ausdeutung von Yannik Nézet-Séguin, dem die herrliche Akustik des FSH entgegenkommt. Grimaud spielte vor allem im großartigen 2. Satz – Adagio (den Brahms Clara Schumann zumindest brieflich gewidmet hat) als ginge es bei jedem Ton um ihr und unser Leben (was vielleicht auch zutraf…). Die Harmonie zwischen Orchester und Solistin wurde nie zu groß, um einen freundschaftlichen Wettstreit zu verhindern. Im Gegenteil. Man hatte bisweilen den Eindruck, dass die soliden Philharmoniker den Anker bildeten, der Grimaud daran hinderte vollends zu entschweben. Unmöglich sich der Intensität und seriösen Genauigkeit ihres Spiels sowie ihrer sprühenden Leidenschaft zu entziehen!
Wie Brahms die Giganten (Haydn, Beethoven, Bach …) schaudernd hinter sich marschieren spürte, muss sich Yannik Nézet-Séguin gefühlt haben, als er Tschaikowskis 6. Symphonie, die Pathétique, erstmals zu Proben begann. Auch hinterm Dirigentenpult standen bei diesem berühmten Stück schon Giganten: Wladimir Fedoseyew, Leonard Bernstein, der die wohl tragischste Interpretation geliefert hatte und natürlich der strenge Evgeny Mravinsky mit den Leningrader Philharmonikern und viele mehr. Yannik Nézet-Séguin wählte (auch in der Dauer) den Weg der genannten Russen und vermied damit die große Gefahr (immer bei Tschaikowski!) in die Sentimentalitätsfalle zu gehen. Prägnant, ruppig, mit viel grellem Blech, zeigte er den Komponisten nicht romantisch rückwärtsgewandt sondern als weiteren Wegbereiter der Moderne. Gerade die Skurrilität des Walzerthemas im 2. Satz (Allegro con grazia) oder die ausufernden Marschmotive im 3., Allegro molto vivace, lassen nicht nur einmal an den größten Symphoniker des 20. Jahrhunderts denken: Dimitri Schostakovich.
Dieser wunderbare Abend mit den Wiener Philharmonikern und Hélène Grimaud hat gezeigt, was sogenannte Romantische Musik auch sein kann: eine spannende, aufrüttelnde Attacke auf Herz und Verstand.
* Hélène Grimaud: Wolfssonate. Aus d. Französ: Michael von Killisch-Horn. Verlag Blanvalet, 2005, 1. Auflage.