Bühne

Am Ziel: Thomas Bernhard. Re.: I. Reichel

Ingrid Reichel
ALLES GUT, ENDE SCHLECHT

 

AM ZIEL
Thomas Bernhard

Landestheater NÖ
Premiere: Samstag, 21.10.06, 19.30 Uhr
Regie: Wolfgang Hübsch
Dramaturgie: Rupert Klima
Mit Maresa Hörbiger, Katrin Stuflesser und Matthias Franz Lühn
Ausstattung: Ilona Glöckel

Intendantin Isabella Suppanz öffnete die Türen des Landestheaters für das St. Pöltner Literaturfestival „Blätterwirbel“. Nach der feierlichen Eröffnung des Festivals im Stadtmuseum St. Pölten begaben sich die Literaturfreunde ins Landestheater zur Premiere von Thomas Bernhards Stück „Am Ziel“.
Es kommt nicht von ungefähr, dass ausgerechnet dieses Stück zum Auftakt des ersten gemeinsamen literarischen Großprojekts des Landes NÖ und der Landeshauptstadt St. Pölten gewählt wurde. Angenehm stimulierend verbindet der künstlerische Geist des Hauses nicht nur rot-schwarze Synopsen, sondern setzt dem noch immer etwas trägen St. Pöltner Publikum auf wohlwollende Art und Weise immer wieder den Spiegel vor. Sensationell!

Niclaas Thomas Bernhard 1931 – 1989 war einer der bedeutendsten deutschsprachigen Autoren der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zurückgezogen in seiner Finsternis, kämpfte er gegen die Volksverblödung, gegen die Krankheit und den Tod. Zu Lebzeiten galt er als Nestbeschmutzer und Staubaufwirbler. Seine Sprache, geprägt durch permanente Wort- und Satzwiederholungen, hämmert sich im Rhythmus kompromisslos in den Gehirnen seiner Leser ein. Das 1981 uraufgeführte Stück „Am Ziel“ befasst sich mit der Diskrepanz von Autor und Publikum - einer Hassliebe, welche schizophrene Gestalt in Form eines Mutter-Tochter Konflikts annimmt.

Die Handlung ist einfach und besteht aus zwei Szenen, besetzt mit einer Hauptrolle und drei Nebenrollen, wobei in dieser bearbeiteten Fassung auf die Nebenrolle des Hausmädchens verzichtet worden ist. Der erste Schauplatz ist die Villa eines verstorbenen Großindustriellen, der zweite die Sommerresidenz. Das Stück spielt in Holland.
Die machtbesessene Witwe eines Gusswerkbesitzers und ihre bewusst in Abhängigkeit gehaltene Tochter laden nach der erfolgreichen Premiere des Theaterstückes „Rette sich wer kann“ den Autor zu ihrer alljährlichen Reise auf ihren Feriensitz nach Katwijk, einem bekannten Badeort in Südholland an der Nordsee, ein.
Das karge Dialogfeld der Rollen wird dominiert von der geschwätzigen Mutter, deren Sinnierungen sich wie ein Monolog über das ganze Stück ausbreiten und die Rolle des verstorbenen Gatten, Vater und Industriellen in sich trägt.

Als Vorwort wählte Bernhard ein Zitat von Blaise Pascal: Les misères de la vie humaine ont fondé tout cela; comme ils ont vu cela, ils ont pris le divertissement. (Frei übersetzt:„Das Elend des Lebens ist ihre Grundlage, und als sie es erkannten, entschieden sie sich für die Unterhaltung.“)
Mit diesem Zitat verweist Bernhard auf die Gratwanderung auf die er sich in seinem Stück begibt. „ Am Ziel“ ist eine gelungene Mischung aus Satire und Drama.
Die unergründlichen tiefen Miseren des Lebens verkörpert durch die Rolle der herrschenden Mutter und die naive Autoritätshörigkeit in der Rolle der Tochter zeigen die Hassliebe des Publikums zur Kultur aufs Äußerste, entscheidet man sich doch laut Pascal für die Unterhaltung, den Zeitvertreib, ja, für die Ablenkung, um mit all den Ängsten und Zwängen des Lebens fertig zu werden. Der Mutter, selbst Enkelin eines Spaßmachers, der in Wirtshäusern mühsam seinen Lebensunterhalt verdiente, lernt ihren zukünftigen Ehemann und Gusswerkbesitzer auch in einem Wirtshaus kennen. GUSSWERK wird für sie zum orgiastischen Wort und zum Symbol der Rettung aus dem Nichts. Das ewig wiederholte Zitat des bedauernswerten und verstorbenen Gatten bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit: Ende gut alles gut und seine nach ihm geratene, doch der Mutter unterwürfigen und versklavten Tochter wirft das Abbild der Einfältigkeit auf die ausgefressene und daher müde gewordene gehobene Mittelschicht. Das Schweigen der Lämmer in Widerspruch mit dem Aufblöken der neidbehafteten und aufstrebenden, sowie materialgierigen Unterschicht. Die leibhaftig gewordene Gestalt der gespaltenen Persönlichkeit unserer Gesellschaft verkörpert in den Figuren dieser zwei Frauen, Mutter und Tochter. Der Schriftsteller jedoch, der seine anerzogenen gesellschaftlichen Zwänge wie eine Jacke ablegt, besitzt die Freiheit und Arroganz seinem Publikum den Spiegel vorzusetzen.
Er muss sich jedoch der Kritik aussetzen, ein Beobachter und kein Handelnder zu sein: Sie selbst sind das beste Beispiel/ Sie sinnen nach und tun nichts/ Sie sehen das Elend aber Sie beseitigen es nicht/ Sie sind der Beobachter dieser Fäulnis/ aber Sie räumen nicht auf damit…Die Entgegnung des Autors zum Statement seiner Gastgeberin: Wir machen den Versuch/ die Gesellschaft zu ändern/ aber es gelingt uns nicht…Die Gesellschaft kann nicht geändert werden…

Als Leitfaden im Stück von Bernhard zieht sich die Frage ob es klug war diesen Autor mit zum Sommerdomizil zu nehmen. Die Furcht der Mutter steigert sich bis zur Hysterie, als sie die vage Möglichkeit erkennt, die Tochter an den Autor zu verlieren. Maresa Hörbiger drückte realistisch die bange Angst wie lange er denn bleiben würde und den schier unbändigen Kampf, alles zu unterbinden, was nur möglich ist, um nicht entthront zu werden, aus. Im Raum bleibt die stille Erkenntnis als Finale: Die Frage ist gar nicht/ ob es klug war ihn einzuladen/ er ist da…
Das Stück, so Bernhard endet mit der Bestätigung der Tochter: Ich fürchte/ er wird länger als nur ein paar Tage bleiben

Bernhards drastische Übertreibungen, das Monströse in seinen Bann zu ziehen verlangt das Maximum an schauspielerischer Leistungsfähigkeit. Maresa Hörbiger in der Rolle der Mutter spielt gekonnt und überzeugend Bernhards Spiel zwischen zwei Fronten. Sie lässt das Lächerliche, Skurrile und Absurde zum Dramatischen werden. Wie wird man dramatischer Schriftsteller? (Mutter)… der Autor antwortet: …je entsetzlicher die Jacke ist/ die ihm (dem Schauspieler)der Schriftsteller verpasst hat/ desto besser/ Die entsetzlichste Jacke für den größten Schauspieler… Auch Katrin Stuflesser als Tochter und Matthias Franz Lühn als Schriftsteller waren in ihren Nebenrollen der Herausforderung gewachsen. Katrin Stuflesser völlig unattraktiv herausgeputzt schlurft in Patschen und bedient ihre elegant gekleidete Mutter. Ihr trüber Blick wandelt sich in einen leicht madonnenhaft verklärten Ausdruck als sie der junge Autor, der es wagt ihrer Mutter zaghaft Parole zu bieten, von einem gesprengten Korsett träumen lässt.

Umso verwunderlicher Wolfgang Hübschs Entscheidung die Inszenierung in die Richtung der Mutter-Tochter-Problematik zu lenken, letztendlich „Am Ziel“ zu einem Frauenpsychogramm zu machen.
Das abrupte Ende, welches den Zuschauern den Sieg des Autors über den Materialismus und der Langweile der Großbourgeoisie vorenthält, schlägt die Zuschauer vor den Kopf. Die Schauspieler verneigen sich, das Publikum applaudiert, Bravorufe, das Theater wird zur Bühne, die Zuschauer zu Schauspielern, ich befinde mich in Katwijk, ich sitze zwischen Mutter und Tochter, ich höre das Rauschen des Meeres, sein Dröhnen, den Applaus, den Erfolg, hören Sie denn die Ovation nicht…Sie müssen damit fertig werden/ Das müssen Sie aushalten/Sie müssen Ihren Triumph aushalten… am Ziel, der Autor lebt und dreht sich im Grabe um: Ach küssen Sie nicht meine Hand/ das ist einfach lächerlich/ wo haben Sie das gesehen/ in Österreich/ Mein Gott… (Mutter).

Deshalb… Rette sich wer kann…doch kein Mensch kann sich retten/ noch keiner hat sich gerettet

Gekapptes Bernhard-Ende als genialer Schachzug von Wolfgang Hübsch, der am Wiener Volkstheater als Schauspieler und Regisseur bereits in Thomas Bernhards „Der Theatermacher“ und „Der Weltverbesserer“ mitwirkte??? Oder… Gleichgültigkeit???
Die Antwort blieb Wolfgang Hübsch uns schuldig…. wir sind die Lämmer und wir haben zu schweigen.

Kabale und Liebe: F. Schiller. Rez.: Alois Eder

Alois Eder
Louise Millerin in Stöckelschuhen

 

KABALE UND LIEBE
Friedrich Schiller
Landestheater St. Pölten
Premiere: 14. 10. 2006
Regie Oliver Haffner


Es gehört zur Existenzrechtfertigung unseres Bühnenwesens, dass darin immer wieder die Klassiker durch die Mangel des Repertoire-Theaters gedreht werden müssen, obwohl der Bildungszweck inzwischen auch durch die Vorführung von Videobändern vorbildlicher Inszenierungen zu erreichen wäre, was freilich der Lindner-ORF in den letzten Jahren sträflich vernachlässigt hat. Da ist dann die Versuchung groß, durch Originalitätshascherei in Regie, Bühnenbild und Kostüm aus dem erwartbaren Rahmen auszubrechen, im Fall der St. Pöltner Kabale etwa durch die Vermeidung des zeitgenössischen Rokoko-Interieurs zugunsten einer an Nestroy Zu ebener Erde und erster Stock angelehnten zweigeschoßigen, auf der Drehbühne rotierenden Holzkiste.

Nicht ganz unmotiviert durch Schillers Sturm-und-Drang-Stück, handelt es sich doch um die Liebe zwischen dem Sohn Ferdinand, des aktuellen Günstlings eines der vielen Duodez-Prinzen, und der Tochter des armen Musikus Miller, den die Regie zum Eingang symbolträchtig das Metronom dirigieren lässt, um die kurze Reichweite seiner väterlichen Gewalt zu symbolisieren. Dieser Hinweis auf das gesellschaftliche Oben und Unten - zu ersterem gehört auch die prinzliche Maitresse Lady Milford, welche durch die Intrige mit Ferdinand vermählt werden soll - wäre vielleicht im Programmheft deutlicher zu kommentieren gewesen. Auch wenn die Proxemik des Vaters Miller (Ensemble-Mitglied Helmut Wiesinger) einer- und des Präsidenten (Gaststar Heinz Trixner, via TV hinlänglich vorbeworben) anderseits gar nicht anders kann, als dem Modell Rechnung zu tragen, das bis herauf zum Traumpaar Schüssel-Gusenbauer kaum Wandlungen unterworfen gewesen sein dürfte. Und die Kabalisten wie den intriganten Sekretär Wurm (Daniel Brockhaus) findet man eben auch heute noch auf der Seite der Macht.

Für die konkrete Ausformung des Intrigenspiels gibt die abstrakte Schablone der Modernisierung der Phantasie des Publikums allerdings wenig Hilfen - was nicht als simples Plädoyer fürs Ausmotten der sicher vorhandenen Rokoko-Kostüme im Fundus verstanden werden soll. Aber wenn das Programmheft den jungen Schiller schon mit Thomas Langhoff als unheimlichen Realisten feiert, bleibt in Oliver Haffners Inszenierung eher die Komponente des Unheimlichen erhalten, und vor allem die um Ferdinand konkurrierenden Damen Louise (Charlott Kreiner) und Lady Milford (Antje Hochholdinger) spielen auch mit anerkennenswerter Intensität nur mühsam dagegen an, bis sich schließlich der Realismus auf den Wechsel zwischen Stöckelschuhen und Barfuß-Rhythmus auf dem Holz des Bühnenaufbaus reduziert.

Vollends als symbolischer Ausweg gegen den Hintergrund modernerer Personenführung wirkt es dann, wenn Charlott Kreiner den ihr vom Sekretär diktierten fatalen Brief, der dann dem Marschall von Kalb (Thomas Mraz in Lederkluft) aus der Tasche fallen und in Ferdinands Hände geraten soll, gleich mit Kreide auf den Bühnenboden schreibt, um dem Standard-Federkiel und anderen dazugehörigen Rokoko-Requisiten auszuweichen.

Das gipfelt dann beim Schluss-Showdown mit der vergifteten Limo (sic!), die dem Paar das Leben kostet, in der Exposition von sehr viel Haut, vor allem auch von Seiten des mit ziemlichem Babyspeck gesegneten Mirko Roggenbock als auch sonst von der Haartracht sehr unpreußischen Majors Ferdinand. Wie überhaupt in der modernen Regiearbeit die Flucht in den sexuellen Infight offenbar schon vom Reinhardt-Seminar an als dramaturgische Standard-Überbrückung mühsamer Dialoge gelehrt wird.

Dass derlei nur eine sehr oberflächliche Modernität durch Angleichung an vergleichbare Actionszenen unserer Film- und TV-Welt darstellt und eigentlich die Differenz, der zuliebe die Klassiker ja vielleicht auch gespielt werden, wieder zurücknimmt, wird dabei zu wenig bedacht. Am Ende handelt es sich dabei um einen nur sehr ephemeren Anflug von Weltläufigkeit, unter dem die Provinzialität der Gesamtauffassung umso gefährlicher weiterschwärt. Leider hat St. Pölten dabei einen tiefeingefressenen Ruf zu verlieren, der erst jüngst wieder im Verriss eines Schweizer Kritikers an die Oberfläche getreten ist, wenn er einer Modernisierung der im selben Jahrhundert spielenden Gefährlichen Liebschaften auf der Bühne am Züricher Neumarkt im dortigen Tages-Anzeiger (vom 5. 10.) mit ähnlichen Mitteln den vernichtenden Satz nachruft: St. Pölten in Zürich, und darin als Weltstädter den Vorwurf risikoscheu, provinziell, ein Mini-Stadttheater eben, verpackt.

Darin spukt noch die anekdotische Haltung, die unsere Landesbühne zur Nachfolge des k. k. Theaterlebens in Teplitz-Schönau (vgl. die Pension Schöller) in Republik-Zeiten gestempelt hat - auch noch Herbert Lederer, der knapp nach dem Krieg mit Gerhard Klingenberg hier engagiert war, behandelt die Stadt in seinen Theateranekdoten Abgeschminkt voll nach diesem Klischee.

Man merkt der St. Pöltner Kabale und Liebe an, wie sie gegen diesen offenbar durch Jahrzehnte gepflegten Nimbus ankämpft. Ganz gelungen ist es ihr aber noch nicht; vielleicht, weil die Anbiederung an Tranchen des heutigen Publikumsgeschmacks den Namen einer Modernisierung noch nicht ganz verdienen. Vor allem bei Schiller, bei dem ja auch ein Gegencheck noch am Platz ist, inwiefern seine kommunikative Absicht von der moralischen Erziehung des Menschengeschlechts auch zu ihrem Recht kommt und der Zuschauer durch das Stück gegen heutige Strategien allfälliger Despotien immunisiert wird.

Die Juden: G. E. Lessing. Rez.: E. Riebler

Eva Riebler
ENTSTAUBUNG AUF DER BÜHNE

 

DIE JUDEN
Ein Lustspiel in einem Aufzug, 1749
G.E. Lessing

NÖ Landestheaters, St. Pölten
06.05.2006
Gastspiel des Berliner Ensembles des Theaters
am Schiffsbaudamm (Premiere Sept. 2003)
Regie: George Tabori
Dramaturgie: Hermann Beil

 


Dem neuen Spielplan unter der Künstlerischen Leitung Isabella Suppanz ist es zu verdanken, dass deutsche Theaterproduktionen auch aus dem Ausland angekauft werden.
Vom ersten bis zum letzten Augenblick kann der Zuseher genießen. Jede Mimik, jedes Tänzeln der Tochter des Hauses und sämtliche täppische Annäherungen zwischen Lisette und dem Diener Christoph sind schlichtweg Schauspielkunst auf höchstem Niveau. Kein Schauspieler „spielt“, jeder ist
die Person. Die einfache Gestaltung eines künstlichen Rasens als Bühnenbild und eines blauen Himmels als Schlussbild zeigt von der Hand George Taboris und bildet mit dem musikalischen Rahmen von Hans-Jörn Brandenburg eine Entstaubung eines 250 Jahre alten Lustspiels.
Nicht nur der Thematik, vor allem der Theaterkunst wegen, ist man froh dieses Gastspiel nicht versäumt zu haben.

Die Juden: G. E. Lessing. Rez.: E. Riebler

Verschüttet: Stephan Lack. Rez.: Alois Eder

Alois Eder
FAMILIENREUNION IM GRÜNEN oder
TELENOVELA MIT ERHÖHTEM KREISCHFAKTOR?

 

VERSCHÜTTET
Stephan Lack

NÖ Landestheaters St. Pölten, Theaterwerkstatt
Premiere am 29. April 2006, 19:30 Uhr
Regie: Karoline Exner
Bühnenbild: Martina Berger

 

Die hoch verdienstvolle aktive Einschaltung des Nö. Landestheaters in den Stückemarkt als Plattform für junge Theaterautoren hat ihr erstes Ergebnis gezeitigt: Stephan Lack, Jahrgang 1981, konnte als Sieger des DramatikerInnen-Wettbewerbs sein Stück Verschüttet auf der Theaterwerkstatt vorstellen. Ein Hölzl, was man erwarten konnte, wirft der im Spielplan noch genannte Untertitel Bürgerliches Trauerspiel oder Spiel mit der Trauer, dem das Programmheft, das ihn weglässt, durch eine Zitatenlese zu den Themen Tod, Erinnern und Alzheimer von Augustinus über Hegel bis hin zu C. G. Jung und Roland Barthes gerecht zu werden versucht.
Das mitgedachte Wortspiel mit der Trauer bleibt dabei unterlegen, denn unser Fachausdruck ist ja nur eine ungeschickte Barock-Verdeutschung für den griechischen Ausdruck Tragödie, der original soviel wie Bocksgesang heißt ... Ob der resultierende Bierernst, dem die Inszenierung dann folgerichtig huldigt, nun eine Folge des St. Pöltner Werkstatt-Stils ist, Absicht des jungen Autors oder eine Marotte der unabhängigen Jury war, die vielleicht deutlicher Bocksgesänge unter den an die 60 Einsendungen dem hehren Ziel geopfert hat, lässt sich schwer entscheiden. Leider fehlt ja auch jede Einlassung auf die sonstigen Ergebnisse des Wettbewerbs.
Ohne diesen Vergleich den Jungdramatiker Lack zu würdigen, fällt schwer. Wem verdankt das Stück die Art einer eingedickter Soap oder Telenovela mit erhöhtem Kreischfaktor wirklich? Sind die Stilzüge des Familienstücks Ausfluss des neuesten Trends im Westen, sind sie Mitgift der Burgtheater-Schreibwerkstatt unter Andreas Beck, in der das Stück entstanden ist, oder kommt der Inhalt des Stückes, wie eine (zu) kurze Vorbemerkung im Programmheft mitteilt, aus persönlichen schmerzvollen Erfahrungen, die dem Stückinhalt nach mit einer Alzheimer-Erkrankung in der Familie, dem Todesfall eins Geschwisters und seiner missglückten Verarbeitung bis hin zur Scheidung der Eltern gehen könnten.
Wenn dies alles dramatisch gerafft bei einem Besuch des in Scheidung lebenden Ehepaars und seiner Tochter bei den Schwiegereltern auf dem Land ausgebreitet wird, wo wieder Othmar Schratts Großvater Philipp mit der Alzheimer-Erkrankung seiner Gattin (Caroline Richards) kämpft und trotzdem so etwas wie einen ruhenden Pol der chaotischen Gefühlsmelange darstellt, vielleicht kraft seiner Bemühung die Erinnerungen an den alkoholisiert bei einem Verkehrsunfall verstorbenen Enkel zusammenzuhalten, ergibt das schwere Theaterkost.
Dass als Bewältigungsstrategie hier auch wieder der Alkohol eine Rolle spielt, der den chaotischen Erinnerungs- oder Verdrängungsbemühungen der Schwiegertochter, sehr outrierend dargestellt von Antje Hochholdinger, gar nicht gut tut, kommt als Movens der Handlung gar nicht zur Geltung. Ebensowenig die Tatsache, dass Enkelin Dora (Charlott Kreiner) durch das Geständnis, schwanger zu sein, neue Bewegung ins Karussell der Familienemotionen bringen könnte. Auch, dass der überforderte Vater (Thomas Richter) an der seinerzeitigen Unfallstelle ebenfalls mit dem Fluss Bekanntschaft macht, aus dem der Sohn samt Freundin nicht mehr lebend aufgetaucht ist, bleibt ein verhältnismäßig blindes Motiv, und dass ihn die hochgehenden Emotionswellen so ganz nebenbei den Job kosten, nicht minder.
Für den Zuschauer zeigt sich da kein Ausweg aus dieser Häufung, am Schluss ist er es, der verschüttet bleibt, möglicherweise auch nur deshalb, weil die Ausschreibung mit dem Zeitlimit von 90 Minuten und der Beschränkung auf fünf Rollen die Straffung einer weitläufiger angelegten Handlung nötig gemacht oder deren Ausbau verhindert hat. Irgendwie führt dieser Theaterabend unter den drei Sprachfunktionen Karl Bühlers, nämlich Ausdruck, Appell und Darstellung nicht über die erste hinaus. Es bleibt bei einer Jeremiade, denn anscheinend führt kein Weg aus der Verstrickung in gegenseitige Schuldzuweisungen hinaus, und mit Ausnahme der Tatsache, dass die Alkoholisierten am nächsten Morgen wieder halbwegs nüchtern sind, kommt das Drama nicht so recht vom Fleck.
Hat sich da was entschieden, wenn die drei Besucher das Großelternpaar mit der Alzheimer-Herausforderung wieder allein lassen, oder bleibt wie beim Warten auf Godot im Grunde alles beim Alten? Die Anspielung auf den Großmeister des absurden Dramas, dessen 100. Geburtstag gerade angefallen ist, kommt nicht von ungefähr: Er und der eben erst durch den Nobelpreis geehrte Harold Pinter haben, bei gleichem Ernst der existentiellen Situation, erfolgreich den Eindruck einer Verbiesterung vermieden, auf der St. Pöltner Werkstattbühne dagegen bleibt das Spiel mit der Trauer auf der Strecke.
Vielleicht liegt es ja an der allzu großen persönlichen Nähe: als Shakespeare den Hamlet schrieb, war er wohl weniger persönlich ins Drama eines Königsmords verstrickt und hatte daher weniger Scheu zu gestalten, während Stephan Lack die Traumata Traumata sein lässt und uns nicht einmal auf die Sprünge hilft, inwiefern der verunfallte Bruder, mit dem alles Unheil begonnen hat, so eine wesentliche Klammer fürs Familienleben war ... Wenn alles ohnehin nur auf die bloßen seelischen Echos des unglücklichen Geschehens reduziert, könnte man das Werkstatt-Publikum ebenso mit einer typischen Teletext-Lokalmeldung wie der folgenden abspeisen: Nach Mord an Sohn selber tot [...] Zwischen Vater und Sohn hatte es immer wieder Streit gegeben. Grund war die Arbeitslosigkeit und Alkoholabhängigkeit des Sohnes. Am Freitag eskalierte der Streit schließlich, der Mann tötete den 40jährigen mit 2 Schüssen und jagte sich selbst eine Kugel in den Kopf usw. Eine beträchtliche Zeitersparnis wäre die Folge ...
Dass bei aller Tragik noch ein Arbeitsgang Gestaltung und Verarbeitung nötig ist, scheint beim modischen Hyperrealismus unter den Tisch zu fallen, sei es, weil in den Regalen unserer Schreibwerkstätten nur Anfängerwerkzeuge liegen oder man ihm aus Zeitmangel nicht gestatten konnte, noch an den Feinschliff zu gehen, sei es, weil es die neueste Stimmung im Westen so vorschreibt und uns auch den Trost der Absurdität auf der Bühne versagt ...

 

Verschüttet: Stephan Lack. Rez.: Alois Eder

Tartuffe: Molière. Rez.: Alois Eder

Alois Eder
KLASSIKER IN MODERNEN KLAMOTTEN?

 

TARTUFFE
Molière

NÖ Landestheater St. Pölten
Premiere am 04.03.2006, 19:30 Uhr
Regie: Hans Escher

 

Notfalls könnte das St. Pöltner Stadttheater auf Harald Engelhardt, Beleuchter und Schüttelreimer mit eigener Homepage, zurückgreifen, der die neue Premiere spontan mit dem Zweizeiler Heut spielten sie die olle Mär, den "Tartuffe" von Molière ... ad notam nahm. Damit ist für einen ordentlichen Publikumszulauf eigentlich auch schon alles gesagt: Das St. Pöltner Ensemble bietet ohne Rückgriff auf barocke Kleider-Usancen eine hervorragende Gelegenheit zur Neu- oder Wiederbegegnung mit einem Klassiker der europäischen Komödie, nicht weniger, aber leider auch nicht mehr. Wer auf aktuelle Anspielungen und die Umsetzung des Heuchelei-Themas fürs 21. Jahrhundert hofft, wird das Haus zwar erheitert, aber nicht befriedigt verlassen. Dass Erwin Steinhauers Tartuffe kostümmäßig Anleihen einerseits bei dem Aufreger Mohammed-Karikaturen nimmt und anderseits durch die einheitlich orange Farbgebung der Frömmler aktuelle Bezüge andeutet, bleibt großteils unter der Wahrnehmungsgrenze, und nicht einmal die Werbedrucksachen spiegeln diese neueste Wendung der Scheinheiligkeit wieder, hoffentlich nicht aus Angst, auch in die Schusslinie der islamischen oder BZÖ-Fundamentalisten zu geraten.
Dass dann auch medienmäßig optimal vorbeworbene Schauspieler-Persönlichkeiten, neben dem Kabarettisten Steinhauer auch noch Louise Martini als Tartuffe-gläubige Mutter Pernelle des ebenso gläubigen Orgon, oder die Josefstädterin und EU-Abgeordnete Mercedes Echerer als vom Heuchler auf ihre Tugend geprüfte Ehefrau Elmire des letzteren keine speziellen Effekte in das alte Spiel einbringen können, liegt wohl am Klassiker-Flair der Verskomödie.
Wer wie der Referent keine Woche zuvor selber in einer allerdings Prosa-Komödie des großen Franzosen auf der Laienbühne stand, in seiner letzten, dem Eingebildeten Kranken (aufgeführt am Faschings-Lehrertheater im Institut der Englischen Fräulein) kann zwar einerseits die Routine der Professionellen in ihrem Wert besser einschätzen, gleichzeitig fällt ihm aber die Routine des Autors unangenehm auf, der beiden seinerzeit umstrittenen Stücken unbekümmert eine extrem ähnliche Familiensituation zugrundelegt: Im vom damaligen Pariser Erzbischof verbotenen Tartuffe aus dem Jahre 1663 ist es der Tugend-Gläubige Orgon (virtuos: Johannes Seilern), der dem Heuchler Haus und Vermögen verschreibt, im 1673 uraufgeführten Malade imaginaire, Molières letztem Stück, der Medizin-Gläubige Argan als Familienvater, dessen Reflexe von einer Intrige der zweiten Gattin ebenfalls als Anschlag auf sein Erbe gesteuert werden. In beiden Stücken vertreten eine Zofe (hier die Dorine Antje Hochholdingers) und ein Bruder (der Cléante Helmut Wiesingers) den gesunden Menschenverstand, in beiden Stücken leidet eine Tochter, die mit Gewalt an einen ungeliebten Partner verheiratet werden soll (hier die Mariane der Karin Yoko Jochum) an den geistigen Verirrungen der Väter.
Aber nicht nur die Personenkonstellation ist längst nicht mehr the state of the art, auch die Art der Entlarvung der Intriganten durch familiären Lauschangriff und schon gar nicht die Art und Weise, wie sich Tartuffe die Doppelmoral in sexualibus offenhält, entspricht einer modernen geistigen Deformation: Wer im Geheimen sündigt, sündigt nicht. Sünde ist, auch wenn a tempo der St. Pöltner Bischof Küng via Kurier vom selben Tag, S. 10, seiner Diözese eine Aufbruchskampagne zur Beschreitung neuer Wege nach den Vorkommnissen der vergangenen Jahre verordnet, keine allzu populäre moralische Kategorie.
Das Programmheft versucht, aber vielleicht mit nicht allzu tauglichen Mitteln, moderne Parallelen in den Kontext zu stellen, etwa mit einer längeren Passage aus dem Werk des Medienkritikers Neil Postman - noch deutlicher wäre vielleicht der Rückgriff auf George Orwells Double-think aus 1984 gewesen. Der moderne Heuchler ist weniger ein bewusster Intrigant als ein Schizophrener, der seine disparaten Bestrebungen gar nicht mehr unter einen Hut bringen kann. Und wo kein totalitäres Regime den Bürgern seine surreales Gedankensystem aufdrängt, wirkt die Orientierungslosigkeit im Informations-Dschungel noch verheerender auf den Geisteszustand der Zeitgenossen.
Moliére hatte sein aufmüpfiges und die damaligen Fundamentalisten zum Gegenschlag motivierendes Stück noch durch die Verweigerung eines kirchlichen Begräbnisses zu büßen,. Nichts derlei droht dem Dramaturgen, der das Stück auf das Programm des Niederösterreichischen Landestheaters gesetzt hat, es hat sein provokatives Flair weitgehend eingebüßt, vielleicht auch deshalb, weil Tartuffe als Laie weder ins Schema der geistlichen Erbschleicher passt, die noch Donna Leons Krimi-Venedig bevölkern, noch sich zu Anspielungen auf Priesterseminaristen eignet, die In Kinderpornos Erleichterung des Zölibatsdrucks suchen. Wo sind die Zeiten, in denen diese Bühne in einer Nathan-Aufführung mit der Rolle des Patriarchen dem Bischof in seiner Loge die Leviten gelesen hat?
Freilich, wie beim Eingebildeten Kranken wäre auch hier die Aktualisierung nur um den Preis eines neu geschriebnen Stücks zu haben gewesen. Müsste man zur Satire auf die heutige Medizin wohl eine Heldin ins Zentrum stellen, die der Schönheitschirurgie verfallen ist, so bei einer Modernisierung des Tartuffe vielleicht einen Theologen, dessen bibelkritische Studien ihn eigentlich in Clinch mit der Verkündigung bringen müssten, der aber trotzdem seinen Frieden mit der Tradition macht ...
Und genau die macht eine textgetreue und schwungvolle Inszenierung des alten Vergleichsstoffes immerhin frisch zugänglich: daher nach dem einzig in Louis-XIV.-Allonge-Perücke auftretenden königlichen Deus-ex-Machina-Boten Wolf Aurichs, der Tartuffe aus dem Verkehr zieht, rauschender Premièren-Applaus...

 

Tartuffe: Molière. Rez.: Alois Eder