Ingrid Reichel
SCHLUSS MIT VORURTEILEN
L’AFFAIRE MARTIN! OCCUPE-TOI DE SOPHIE! PAR LA FENÊTRE!
LE MARIAGE DE SPENGLER. CHRISTINE EST EN AVANCE.
René PolleschPremiere: Landestheater NÖ, Großes Haus
am 16.05.2008
Regie René Pollesch
Mit: Christine Groß, Caroline Peters,
Sophie Rois, Volker Spengler, Martin Wuttke
Bühne: Bert Neumann
Kostüme: Tabea Braun
Erstaufführung: 11.10.2006, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin.
Der 1962 in Hessen geborene deutsche Theaterautor, Regisseur und Dramatiker René Pollesch leitet seit 2001 die kleine Spielstätte Prater der Volksbühne Berlin am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin. Nach vielen Auszeichnungen, u.a. bekam er zweimal den Mülheimer Dramatikerpreis und zuletzt 2007 den Nestroy-Theaterpreis, dürfte Pollesch hinreichend für seine Stücke mit den eigenartigen, satzlangen Titeln bekannt sein.
Weniger bekannt ist, dass Pollesch ebenfalls Filmkritiker, -analytiker und -historiker ist und dieses Wissen und diese Liebe in seine Stücke einfließen lässt.
In „L’affaire Martin! Occupe-toi de Sophie! Par la fenêtre, Caroline! Le mariage de Spengler. Christine est en avance“ – frei übersetzt: Die Affäre Martin! Kümmere dich um Sophie! Spring durch’s Fenster, Caroline! Spenglers Hochzeit. Christine kommt zu früh. – bezieht sich Pollesch auf den französischen Vaudeville-Dramatiker Georges Feydeau (1862-1921), der unter anderem folgende Stücke schrieb: "Par la Fenêtre" (1882), "L'affaire Édouard" (1889), "Occupe-toi d'Amélie" (1908). Hierbei sei zu erwähnen, dass das Vaudeville als Theatergattung seine Ursprünge im Pariser Jahrmarktstheater hatte. Feydeau zählte zu den Erfolgreichsten in dem Genre und seine Komödien zielten häufig auf die Doppelmoral des damaligen noch neuen Bürgertums. Damit aber nicht genug fügt Pollesch noch etwas Hollywood der 50er Jahre hinzu und vermengt sein Theaterstück mit der sich damals als wirtschaftlichen Flop erweisenden Robin Hood Parodie „The Court Jester“ – „Der Hofnarr“ von Melvin Frank und Norman Panama mit in den Hauptrollen Danny Kaye, Glynis Johns und Basil Rathbone.
Pollesch tränkt ein altes, degeneriertes, schlesisches Geschlecht – die Junker von der Donnersmarck - mit seinem charmanten Theater-Film-Cocktail und bringt so einiges Brisantes der Zeitgeschichte auf subtile Art und Weise ans Tageslicht, denn schließlich geht es um das Leben der Anderen wie sich im Laufe des Stückes herausstellt. Hierbei handelt es sich wieder um einen mehrfach ausgezeichneten und oscargekrönten deutschen Film des Regisseurs und Drehbuchautors Florian Henckel von Donnersmarck, der 2006 erschien und sich mit einem Teilaspekt der Geschichte der DDR auseinandersetzt in dem er die von Stasi-Spitzeln durchsetzte Kulturszene Ost-Berlins beleuchtet.
Bühnenbild ist der altehrwürdige Salon der Familie Donnersmarck - Chaise Longue, Fauteuils, Beistelltische, ein Tisch als Klavier und ein Kamin, der unter anderem als Portal fungiert, eine Flügeltür und natürlich das berüchtigte Fenster durch das man muss. Pollesch erweist sich als detailverliebt, an der Wand das Portrait von Kaiserin Sissi, am Kaminsims Tee- und Kaffeekannen, jede Menge Tassen aus denen getrunken wird und die surrealistische Züge annehmen, und letztendlich der Kelch mit dem Elch und der Becher mit dem Fächer aus dem bereits erwähnten Film „Der Hofnarr“.
Die fünf Schauspieler Christine Groß, Caroline Peters, Sophie Rois, Volker Spengler und Martin Wuttke haben keine fix zugeordnete Rolle und sind somit im Titel des Stückes beinhaltet – L’affaire Martin! – Martin Wuttke. Occupe-toi de Sophie! - Sophie Rois. Par la fenêtre, Caroline! - Caroline Peters. Le mariage de Spengler. - Volker Spengler. Christine est en avance. - Christine Groß.
Man könnte von der Auflösung des Theaters an sich sprechen, denn sowenig wie es eine feste Rollenzuordnung gibt, sowenig ist auch eine eindeutige Handlung im Stück zu finden. Die Mutter spielt zugleich ihren Sohn, die Tochter ist zugleich Enkelin und Jane Goodall, Fräulein von Steinbach zugleich Präsidentin der Vertriebenen und Schwester des Bruders, dann gibt es noch den alten Donnersmarck, den Vater, den Ehemann, den Ethnologen, das Chamäleon, der Geist, Donna Haraway – die Professorin für feministische Theorien… Kind oder Erwachsener, Mann oder Frau, Weiß oder Schwarz, Mensch oder Tier? Stasi-Spitzel – ja oder nein? Giftig oder nicht? Lebendig oder tot? Nichts ist wie es zu sein scheint.
„Im Theater kann man sich darauf verlassen konsensfähig zu sein.“ so heißt es im Stück, doch Pollesch zerstört diese Fähigkeit und befreit uns alle von der „Blockierung durch Disziplinierung des Wissens“. Aussagen wie „Schluss mit dem Theater“, „Grenzen kann man ausdehnen, man muss sie nicht überschreiten“ und „Das Leben der Anderen. Was könnte das sein?“ mutieren zu gravierenden Sätzen, machen aus der scheinbar komödiantischen Verwechslungsinszenierung ein philosophisches Werk.
Aus dem Kamin tritt viel Rauch, soviel wie Pollesch Staub aufwirbelt. Großartig!
Und bravourös die Schauspieler, denen in diesem Stück alle Schauspielkunst abverlangt wurde!
Es sei Isabella Suppanz, der künstlerischen Leiterin des Landestheater NÖ gedankt dieses Stück mit dieser Inszenierung nach St. Pölten gebracht zu haben.