Eva Riebler
Zerstören wir das Klischee!
Die Revolution des Tanzes frisst ihre Kinder.
IMPRESSING THE CZAR
William Forsythe
Royal Ballet of Flanders
Festspielhaus St. Pölten, Großer Saal
19.03.11, 19.30 und 20.03.11, 18 Uhr
William Forsythe: Choreografie
Kathryn Bennetts: Künstlerische Leitung
50 Tänzer/innen des Royal Ballet of Flanders
Musik: Thom Willems, Leslie Stuck, Eva Crossman-Hecht, Ludwig van Beethoven
Bühne: Michael Simon
Kostüme: Férial Simon
Fünf Stücke, Spieldauer über zwei Stunden, zwei Pausen:
1. Potemkins Unterschrift
2. In the middle, somewhat elevated
3. La Maison de mezzo-prezzo
4. Bongo Bongo Nageela
5. Mr. Pnut goes to the big top
Eine Persiflage jagt die andere. Zuerst soll das klassische Renaissance-Ballett, das gewohnt ist, würdevoll in rauschenden Seidenkostümen vor dem Zaren aufzutreten, in seinen tänzerischen Bewegungen zu Beethovens Musik kritisch aufs Korn genommen werden, dann sind es die renommierten lebenden Figuren von klassischen Brettspielen, die sich selbsttätig bewegen und aus den ihnen zugeordneten Rollen fallen. Alles scheint in Bewegung und nichts ist so, wie es sein sollte. Jedoch genau dies will das moderne Publikum von einem modernen Tanz-Ensemble. Die Revolution des Tanzes frisst ihre Kinder! Der Star jedes russischen Balletts, der Faun ist von goldenen Pfeilen durchbohrt und erleidet ähnlich wie der Hl. Sebastian sein Martyrium. Die Hofdame mit dem Vogelkäfig am Kopfe wird genauso mit Pfeilen durchzogen und der Dreizack sowie andere Speere werden zur gegenseitigen Bedrohung aufeinander gerichtet.
Es entsteht jedoch durch die Zerlegung des Epochen-Tanzes kein Zeitraffer-Ballett, sondern eine Choreografie, die auf Eigenwilligkeit mit Konzept basiert!
Alles ist in Um- und Verwandlung begriffen und keine Ikonografie soll bestehen bleiben. Die Bedeutung einer goldenen Kirsche ist das einzige Requisit, das hoch gehängt als mögliches Symbol überlebt. Man kann dieses nun mit Bedeutung überfrachten, jedoch bleibt es ein Dingsymbol, das hoch genug hängt und wie die Trauben vor der Nase Reineckens baumelt.
Die Hinterfragung und Zerstörung muss weiter gehen.
Dieses Thema wird mit ungeahnter Ausdauer, Konzentration, Schnelligkeit und einfachem puritanischem Ballettvokabular in Solo-Choreografie wie Massentanz umgesetzt.
La Maison de mezzo prezzo, die dritte Choreografie, lässt alle tänzerischen und kulturellen Versatzstücke unter den Hammer kommen und macht neugierig auf das, was nun übrig bleibt: 50 einfache College-Girls sind das Erbe, das anscheinend noch verblieben ist. Sie hopsen, stampfen und rennen wild im Kreis und durcheinander und füllen als Masse auch die dunklen Randzonen der Bühne. Das goldene Kalb (der einzige männliche Tänzer liegt hingestreckt) in ihrer Mitte kann als geschlachtet bezeichnet werden, auch wenn es im letzten Teil der Choreografie teils rhythmisch teils gegen den Strom wieder mithüpft. Die Schulmädchenuniformen der 50 TänzerInnen in Bongo, Bongo, Nageela zeigen genauso die Einfachheit und Schlichtheit, denn auf Ausdruck und Bewegung kommt es an. Die Choreografie, Licht, Design und die Kostüme wollen keine Klischees bedienen. Disco-Dance soll genauso wie ethnologische Reigentänze bruchstückhaft vorkommen und einfach zeigen, dass beide verwandt sind und ineinander übergehen.
Die Compagnie durchtanzt die 5. Choreografie Nageela und versinnbildlicht als wild gewordene Horde das Glücksgefühl in Bewegung wie auch im Gesichtsausdruck. Heißt doch der Titel des israelischen Liedes „Hava Nagila“ „Lasst uns glücklich sein“! Die Herde der frechen Schulmädchen treibt die klassischen, stereotypen Schritte aus. Glück und Zerbrechung der Konvention treibt den Tanz an.
Ja, so witzig, spritzig, humorvoll und kühn mit Traditionen brechend, kann Ballett getanzt werden!
Bewundernswert ist nicht nur das Brechen von Tradition, das Aufgeben offensichtlich vordergründiger, stupider harmonisierender Tanzkonzepte, sondern eine neu zusammengefügte und kontrastierende Tanzweise, die unheimlich viel Kühnheit, Temperament und Ausdauer von den TänzerInnen fordert.
Das Publikum sieht eine Choreografie, die improvisiert und sprunghaft wirken soll, um dem kitschigen Gleichklang eines auszuwischen. Dies ist der dringliche Wunsch, der strikt und stringent an diesem Abend in die Tat - in den Tanz - umgesetzt wird.
Der Kampf gegen das zeitgenössische Ballett ist gewonnen!