Bühne

Drei Schwestern: A. P. Cechov. Rez.: I. Reichel

Ingrid Reichel
ALLES NUR ZUFALL?

 

DREI SCHWESTERN
Anton P. Cechov

Landestheater NÖ, St. Pölten
28.10.2005, 19.30 Uhr
Regie: Oliver Haffner
Mit: Katrin Stuflesser als Olga, Gertrud Drassl
als Maša, Karin Yoko Jochum als Irina…
Bühne: Dietlind Rott
Kostüme: Dorothea Wimmer

„IN EINER STADT WIE DIESER DREI SPRACHEN ZU KÖNNEN, IST EIN NUTZLOSER LUXUS…WIR HABEN VIEL ÜBERFLÜSSIGE KENNTNISSE.“
Dies sagt Gertrud Drassl in der Rolle der Maša, der mittleren der drei Schwestern im zweiten Drittel des Ersten Aktes. Es erhebt sich die Frage nach dem Wechsel von Stadttheater zum Landestheater, von Rot auf Schwarz, mit welcher Subtilität das Landestheater NÖ für das heurige Jahresprogramm seine ersten Stücke ausgewählt hat. Oder ist es nur Zufall? Wenn es doch laut Peter Turrini „Die Eröffnung“ im Theater keine Zufälle gibt. Drei Schwestern von Anton P. Cechov hat jedenfalls in vielerlei Hinsicht an Aktualität nichts eingebüßt.

Zum Autor:
Anton P. Cechov wurde 1860 im südrussischen Taganrog geboren, studierte Medizin in Moskau und trat der Gesellschaft der russischen Bühnenschriftsteller bei, als es in Russland schon nach Revolution roch und die ersten Anzeichen des Leninismus gab. Es war eine Zeit der Unruhe, der Bevölkerungsexplosion, der Industrialisierung, der Arbeitssuche und der Landflucht. Cechovs Werke sind mit realistischen, impressionistischen und symbolistischen Elementen ausgestattet. Trotz der dramatischen Inhalte beharrte Cechov auf den Komödiencharakter seiner Stücke. Er durchbrach mit diesem Kunstgriff die Schwermut und Melancholie der russischen Literatur und übte hiermit großen Einfluss auf das später folgende Theater der Moderne und des Absurden aus.
Vor 104 Jahren wurde das Stück Drei Schwestern geschrieben und obwohl es autobiographische Züge enthält, wächst es kontextuell weit über das 20. Jh. hinaus. Cechov beschreibt die Unzulänglichkeit seiner Figuren, ihre Dumpfheit und ihren Selbstbetrug anhand einer reduzierten Handlung. Die gestörten dialogischen Beziehungen weisen auf die verminderte Fähigkeit zur Kommunikation.
Wie viel Zeitbezug das Stück aufweist, zeigt uns der Inhalt:
Ein Jahr nach dem Tod ihres Vaters, dem General und Brigadekommandeur Prozorov, und nach 10 Jahren gemeinsamen Aufenthalts in der elterlichen Villa setzen die drei Schwestern, Olga, Maša und Irina ihre ganze Hoffnung auf ihren einzigen Bruder Andrej, der eine Professur in Aussicht hat, um vom langweiligen, verkümmerten Landleben auszubrechen und in ihre geliebte Geburtsstadt und Metropole Moskau zurückzukehren.
Die Langweile und Monotonie des Alltags widerspiegelt schon in der 1. Szene im 1. Akt die Unzufriedenheit der drei Schwestern. Ihre Unfähigkeit und ihre Launen stützen sich auf das sinkende Schiff des Patriarchats. Die Älteste, Olga, gespielt von Katrin Stuflesser, rupft und zupft an ihrer, in ihrem Schoß liegenden Perücke anstatt, wie es Cechov vorgab, Klassenhefte zu verbessern. Die Perücke als Imageträger der Frau im 20. Jahrhundert wird erfolglos korrigiert. Erfolglos nicht zuletzt, weil sich in den letzten 100 Jahren diesbezüglich nicht viel verändert hat „…Alles ist gut, alles kommt von Gott, aber mir scheint, wenn ich heiraten würde und den ganzen Tag zu Hause sitzen, das wäre besser.“ So gut wie Natalja Ivanova, die Braut und spätere Ehefrau des Bruders, gespielt von Antje Hochholdinger? Sie gebärt Kinder und hat keinerlei intellektuelle Interessen. Zu Beginn des Stückes trägt sie Goldschuhe. Als Andrej, durch Glücksspiel das Familienvermögen durchgebracht hat, mutiert sie zu einem Las Vegas Girl. Die Hausfrau, die nur zu Hause herumsitzt wird in der Inszenierung zu einem hohlen Gefäß, welches man füllt, ohne es jemals voll zu kriegen In Cechovs Stück ist die Rolle der Natalja jedoch eine weitaus komplexere. Trotz Ihrer Bemühungen in der besseren Gesellschaft Fuß zu fassen, ist sie durch die Präpotenz der Schwestern zum Scheitern verurteilt.
Die Drei Schwestern verkörpern nicht nur die missglückte Emanzipation der drei Grazien unserer Zeit, sie sind das Symbol der intellektuellen Angst in einer Provinzstadt zu verkümmern. Und wer weiß, vielleicht wollen sie auch niemanden an ihrer Bildung partizipieren lassen und so bleibt die Angst bei ihnen stecken.
Und wieder weist das Stück auf politische Aktualität in St. Pölten hin: Nachdem die Brigaden aus der Gouvernementshauptstadt abgezogen werden, schwindet das letzte Fünkchen Hoffnung auf eine bessere Situation aller Beteiligten. Cebutykin, der Militärarzt singt leise: „Tara… ra… bumbia… wie sitze dumm ich da… Ist doch egal! Ist doch egal!“. Ist dem wirklich so? Ist wirklich alles egal?
„Wenn man es nur wirklich wüsste! …“ diese Frage sollte sich nicht nur Olga stellen.
Trotz hochkarätigem Team, übersät von Reinhardt Seminaristen fehlt der Inszenierung etwas Pep, wenn nicht Mut. Warum das Stück, anstatt in die 60er Jahre zu pflanzen, nicht gleich ins 21. Jahrhundert transportieren? Oder hatte man wirklich Angst das Operettenpublikum zu vergrämen?
Um es mit Cechovs Worten zu formulieren: „…Viel überflüssige Kenntnisse! Mir scheint, eine Stadt ist und kann so langweilig und trostlos nicht sein, als dass in ihr ein kluger, gebildeter Mensch nicht von Nutzen wäre…“ (Veršinin).
Das Sprechtheater in St. Pölten eröffnete eine neue Ära, und lässt auf einen interessanten kulturellen Diskurs hoffen.

Drei Schwestern: A. P. Cechov. Rez.: I. Reichel

Die Eröffnung: Peter Turrini. Rez.: Alois Eder

Johann Heinrich Merck Zwo
GOETHE ZWO IN WEIMAR

 

DIE ERÖFFNUNG
Peter Turrini

NÖ Landestheater St. Pölten
15.10.05, 16 Uhr

Realität und Bühnenillusion vermischen sich, sagt der Pressetext, in Peter Turrinis virtuosem Monolog, den ihm wohl auch keine ausgebildeter Schauspieler besser nachsprechen könnte, und der schon bei einer Eröffnung des Bochumer Schauspielhauses denselben Dienst getan hat, nämlich Goethes Vorspiel auf dem Theater, das in dieser Rolle schon in Ehren ergraut ist, durch ein vergleichbares Werk eines modernen Klassikers zu ersetzen.
Und mit Erfolg: Ö1-Fans werden einzelne Sätze aus dem Turrini-Monolog aus der bis zur Hypnose wiederholen Eigenwerbung für den ORF-Shop wiedererkennen: Aber auf dem Theater, auf dem Theater fange ich wiederum an: Tja, auch Peter Turrini ist inzwischen in Ehren ergraut, niemand sähe ihm mehr an, dass er mit Rotzznjogd oder Sauschlachten als Stürmer und Dränger begonnen hat - und auch in seiner Biographie hat der Wechsel an den in Aufbau begriffenen Musenhof des Landesfürsten Erwin Pröll das Seine zu dieser Metamorphose beigetragen.
Der hat also diesfalls mit dem Nebeneffekt einer beträchtlichen Verjüngung die Rolle des Weimarer Herzogs Karl August zu spielen, für Heidemarie Onodi fällt bestenfalls die Rolle der Anna Amalia ab, und sogar ein Johann Gottfried Herder als Superintendent und Gegenpol zeigt sich am Horizont: Turrini hat als virtuoser Kardinalsflüsterer auch seinen Duzfreund Schönborn schon mit in seine Ambitionen einbezogen, vom Musensitz St. Pölten aus, das der Dimension nach auch ungefähr hinkommt, den Kulturvulkan zu spielen; die neue künstlerische Leiterin des Landestheaters Isabella Suppanz darf als Frau von Stein dabei assistieren.
Und so gehts: Ein selbsternannter "Theaterkönig" erzählt seine irrwitzige Lebensgeschichte vom Vertreter für Handyfreisprechanlagen zum sterbenden König und greift dabei in die unerschöpfliche Trickkiste des Theaters - auch wenn er bei aller Feudalität von einen kleinwüchsigen und alkoholabhängigen Inspizienten anhängig ist, oder vor lauter Theaterruhm zusehen muss, wie seine Familie den Bach hinabgeht - Höhen und Tiefen halt, über die man im Programmheft gerne hinwegliest.
Sogar an eine namentliche Würdigung der verdienten Souffleuse des Hauses hat der Dichter gedacht, offenbar die eingangs vom größten lebenden österreichischen Dramatiker (Wolfi Bauer ist dem Werbetexter zuliebe offenbar noch gerade rechtzeitig gestorben) erwähnte Anpassung an den jeweiligen Standort. Oder sollte auch die Szene auf dem Bahnhof speziell auf St. Pölten bezogen sein, wo der Handy-Vertreter morgens bei den Pendlermassen kein Gehör findet, aber wenn sich gegen zehn Uhr vormittags die dienstreisenden Intendanten und Dramaturgen die Türen ihrer Erste-Klasse-Abteile in die Hand drücken, auf einmal ein interessiertes Publikum hat, das nur leider sofort abreist, sobald er sich als arbeitsloser Schauspieler outet?
Sollte Turrini sein Stück auch deshalb in persona lesen dürfen, weil das dank des Aufstiegs der Spielstätte verkleinerte Ensemble des ehemaligen Stadttheaters durch derlei nur zu sehr an die vorausgegangenen Turbulenzen erinnert würde? Sogar die Weimar-Analogie lässt sich da weiterspinnen: Wie Goethes Sturm-und-Drang-Kollegen Reinhold Michael Lenz oder Friedrich Maximilian Klinger am Hof des Dichterfürsten keinen Auftrag hatten und fern beim Zaren Dienst suchen mussten, so tritt eben auch Reinhold Hauser als Vorgänger all dieser Herrlichkeit gerade in Amsterdam einen Kulturvermittlerdienst an. Für einen Lenz im überholten Werther-Kostüm hätte nämlich die Frau von Stein bei allem Feinsinn kein Verständnis aufgebracht.
Aber Peter Turrini wird das alles natürlich nicht gemeint haben, auch wenn er sich wie Goethe im Faust trotz des Klassikerstatus gelegentlich heftig bekichert seines seinerzeitigen unflätigeren Wortschatzes bedienen darf: Es ist eben das Kulturpublikum einer Landeshauptstadt, das da sitzt und ihn nicht ohne wiederholte Hervorrufe in sein ländliches Tuskulum zurückfahren lässt.

Die Eröffnung: Peter Turrini. Rez.: Alois Eder

Meine alte Dame: Israel Horrowitz. Rez.: Stefan Koch

Stefan Koch
IM WOHNZIMMER VON MADAME GIFFARD

 

MEINE ALTE DAME
Israel Horrowitz

Regie: Reinhard Hauser
Bühne: Ing. Edith Fellner
Kostüme: Priska Planer
Darsteller: Franz Herzog,
Susanne Hermann, Caroline Richards

Wenn Sie eine Wohnung fern von ihrem Heimatland erben würden, Ihr gesamtes Vermögen ausgeben, um dorthin zu gelangen, um schlussendlich festzustellen, dass ihr Erbgut bereits bewohnt wird und Sie obendrein noch Miete zahlen müssen, was würden Sie dann tun?
Einziehen und stillschweigend die Bedingungen akzeptieren. Jedenfalls tut das Mathias Gold, nach seiner Reise mittelloser Schriftsteller, in dem Stück „Meine alte Dame“, das in der Theaterwerkstatt St. Pölten seine Österreichische Erstaufführung erlebte. Dieser trifft, als er versucht, einzuziehen, auf die 94-jährige Mathilde Giffard, eine Französin, die dem Amerikaner klarmacht, dass er die Wohnung erst dann alleine bewohnen kann, wenn sie stirbt. Während Mathias darauf wartet, lernt er noch eine andere Pariserin kennen: Chloé Giffard, die Tochter der alten Dame. Diese würde am liebsten Gold tot sehen, denn er ähnelt zu sehr seinem Vater, der, so stellt sich während des Stückes heraus, eine außereheliche Verbindung mit Frau Giffard hatte. Das führte dazu, dass Chloé von ihrem Vater gehasst wurde. Doch die Liasion der alten Dame mit Golds Vater hatte nicht nur Auswirkungen auf das Leben der Giffards, sondern auch auf das von Mathias und seiner Familie. . .
Die Konfrontation mit der Vergangenheit, die Gegenwart wie auch Zukunft bestimmt, findet in einem einzigen Raum statt, dem Theaterraum. Auf eine Rampe wird verzichtet, Schauspieler und Zuschauer werden auf die selbe Ebene gestellt. Und nicht nur das: Die Darsteller lassen sich sogar direkt neben den Zuschauern nieder und tragen, keinen halben Meter von diesen entfernt, Wortgefechte aus. Selbst die Zuschauer in den hinteren Reihen können in der Regiekonzeption Reinhard Hausners der direkten Konfrontation mit den Schauspielern nicht entgehen: Zweitere wenden sich direkt an diese. Und so bekommt man langsam und stetig das Gefühl, mitten im Geschehen, mitten im Wohnzimmer von Mathilde Girard zu sein. Einziger Wermutstropfen: Dieses ist von Bühnenbildnerin Edith Fellner im Stil des 19. Jahrhunderts möbliert und „eingerichtet“ worden. Selbst bei einem älteren Stück würde die überfrachtete Dekoration störend gewirkt haben, bei einem modernen, von Samuel Beckett inspirierten Stück, ist dieses Dekor schlicht unpassend. Die Frage aber steht im Raum, ob man sich dann im Theaterraum noch so heimisch gefühlt hätte wie es bei der Inszenierung Hausners der Fall war. Diese Stimmung konnte aber nur durch die Schauspieler Franz Herzog als Mathias, Susanne Hermann als Madame Giffard und Caroline Richards als Chloé gelingen. Besonderes Lob gilt Frau Richards, die bisher nur in Rollen überspannter Ehefrauen zu sehen war. Die von ihr verkörperte Figur der duckmäuserischen, von Selbstzweifeln zerfressenen Chloé Giffard geriet ihr außerordentlich berührend.

Meine alte Dame: Israel Horrowitz. Rez.: Stefan Koch

Das Mädel aus der Vorstadt: J. N. Nestroy. Rez.: Stefan Koch

Stefan Koch
VORSTADTTHEATER IN DER HAUPTSTADT?

 

DAS MÄDEL AUS DER VORSTADT
Johann N. Nestroy

Posse mit Gesang
Stadttheater St. Pölten
29.10.2004, 19.30 Uhr

 

Ein Luster, der zwar nicht unter einem Scheffel, sondern unter einer Treppe leuchtet. Vorhänge, die teils Kronleuchter, teils Bäume abbilden. Und eine Drehbühne, die die verschiedenen Spielorte bereits zeitgleich mit den letzten Takten der Ouvertüre vorstellt, bevor sie überhaupt bespielt werden.
Vor diesem Hintergrund entfaltet sich im Stadttheater St. Pölten Johann Nepomuk Nestroys „Das Mädl aus der Vorstadt“. Dieses, auch genannt Thekla, ist Schuld daran, dass Herr von Gigl Frau von Erbsenstein nicht heiraten will. Seinem Freund Schnoferl, einem Winkeladvokaten, wird die zweifelhafte Ehre zuteil, dies Frau von Erbsenstein, die jener heimlich verehrt, mitzuteilen. Diese wiederum muss in ihrer Nebenbuhlerin die neu eingestellte Stickerin erkennen, mit der sie sich versucht hatte, anzufreunden. Aber nicht nur Herr von Gigl hat ein Auge auf das „Mädl“ geworfen, auch Herr von Kauz, Onkel der Erbsenstein, interessiert sich für Thekla, nicht zuletzt deswegen, weil sie die Tochter desjenigen Mannes ist, der ihn um 120 000 Gulden gebracht hat. Alles dreht sich um Thekla und immer schneller geht das Karussell, bis endlich der Kern aller Probleme gefunden wird. . .
Regisseur Franz Tscherne verlässt sich ganz darauf, was Nestroys Stücke ausmacht: die Sprache. Deswegen lässt er auch nur wenig an Aktion auf der Bühne geschehen, abgesehen von den wiederkehrenden Kragengriffen des Verliebten und dem ständigen Wechsel zwischen „ebener Erd und erstem Stock“. Ansonsten monologisieren Franz Herzog als Schnoferl, Caroline Richards als Frau von Erbsenstein und Helmut Wiesinger als Herr von Kauz mit Blick aufs Publikum. Letzterer übertreibt es mit den Blicken, weniger oft die Augen diabolisch aufreißen wäre auf jeden Fall mehr gewesen. Im Gegensatz dazu ist Franz Herzog zu sehen, der die ehemalige Paraderolle von Nestroy mit Ernst und ohne allzu grotesk zu übertreiben spielt. Caroline Richards und Irene Halenka als Thekla bemühen sich, das Beste aus den von Johann Nepomuk Nestroy farblos gestalteten Frauenfiguren zu machen. Die Bemühungen des Regisseurs, mittels herumlaufender und quietschender „Vorstadt-Mädls“ die Szenerie doch noch zu beleben, gerät lächerlich.
Damit es aber während der Monologe, die meist nur vom Auf- und Abschreiten der Schauspieler an der Rampe begleitet werden, auch etwas zu sehen gibt, dafür sorgt Marcus Gansers Bühnenbild. Dieses füllt mit seinen Ideen den Bühnenraum zwar aus, überfüllt diesen jedoch nicht und bietet somit die perfekte Untermalung für die Deklamationen der Hauptpersonen.
Ein Nestroy-Stück kommt nicht ohne Couplets aus. Obwohl anfangs der Zeitbezug nicht allzu kenntlich war und es zu befürchten stand, dass auf die Aktualisierung vergessen wurde, kamen zum Schluss hin vermehrt (treffende) Seitenhiebe auf die politischen Zustände, besonders im St. Pöltner Land, vor. Die längere Gesangseinlage am Ende des 1. Aktes jedoch geriet peinlich, da die Sängerinnen und Sänger nicht in der Lage waren, die hohen Töne zu treffen und auch Sprechgesang in diesem Fall nicht helfen konnte.
Das Stadttheater St. Pölten als Vorstadttheater zu bezeichnen wäre falsch, es trägt aber leider noch immer Züge davon in sich.

 

Das Mädel aus der Vorstadt: J. N. Nestroy. Rez.: Stefan Koch

Cabaret. Rez.: Stefan Koch

Stefan Koch
ZUM LACHEN ODER ZUM WEINEN?

 

CABARET
Stadttheater St. Pölten
Musikal. Leitung: Josef Stolz
Joe Masteroff (Buch); John Kander (Musik);
Fred Ebb (Gesangstexte)
R: Reinhard Hauser
Bühnenbild: Eszter Kovasznay
Choreographie: Christian Zmek
D: T. Mraz, M. Bach, S. Hermann…

Mit den Worten „Willkommen! Bienvenue! Welcome!“ begrüßt der Conférencier die Zuschauer im „Cabaret“ zu einer Revue, die sich allein aus halbnackten, aufreizend tanzenden Damen zusammenzusetzen scheint. Eine dieser „Girls“ namens Sally Bowles verliebt sich zu Beginn der dreißiger Jahre in den amerikanischen Schriftsteller Cliff Bradshaw, der erst kürzlich in Berlin angekommen ist und dank dem Schmuggler Ernst Ludwig eine Wohnung gefunden hat. Vorerst ist die Freude über das junge Glück noch ungetrübt, doch bald fallen Schatten auf die Beziehung, die nicht nur privater, sondern besonders politischer Natur sind. Doch selbst die sich tragisch zuspitzende Liebesgeschichte ist nur Teil der Revue, die der Conférencier unaufhaltsam vorantreibt.
Diese Szenen finden sich im 1966 uraufgeführten Musical „Cabaret“ von Joe Masteroff (Buch), John Kander (Musik) und Fred Ebb (Gesangstexte), dass nun im Stadttheater St. Pölten seine Premiere feierte. Dort wird die Rolle des ständig präsenten Conférenciers von Thomas Mraz obszön, zynisch und manchmal diabolisch verkörpert und vermag dadurch als eigentliche Hauptperson des Musicals zu glänzen. Neben ihm verblassen die die Handlung tragenden Darsteller wie Marion Bach als Sally Bowles und Michael Duregger als Cliff Bradshaw beinahe völlig. Besonders die Glaubwürdigkeit des Zweiteren litt stark bei der Darstellung von Zornesausbrüchen. Das der vorerst sonst so gutaufgelegte und eher in sich gekehrte Clifford bei der Nachricht von Sallys Schwangerschaft als erste Reaktion seine Schreibutensilien von seinem Schreibtisch auf den Boden fegt, nimmt man Michael Duregger nicht ab. Doch vielleicht ist dieser „Fehler“ auch Regisseur Reinhard Hauser anzulasten.
Dessen Inszenierung orientiert sich zu stark daran, mithilfe des Bühnenbilds von Eszter Kovazsnay, wie auch der Choreographie Christian Zmeks, die dreißiger Jahre auf der Bühne wiederaufleben zu lassen und wird dadurch der modernen Form und Thematik bis zum Schluss nicht gerecht. Bis zum Schluss wohlgemerkt, denn in den letzten zehn Minuten des Musicals finden sich alle Ideen Hausers, die die übrigen zweieinhalb Stunden gefehlt haben. Im Marilyn-Manson-Stil gekleidete und tanzende Revue-Damen, Mann und Frau, die gemeinsam singend, von sie typisierendem blauem und rosa Licht getrennt werden, ein sich als Nazi herausstellender, vorerst unscheinbarer Schmuggler und ein erschreckendes Schlusstableau von salutierenden Nationalsozialisten, demonstrieren das Können des Regisseurs und doch noch seinen Willen zur modernen Gestaltung. Hauser meinte im Programmheft, er wolle einen „Untergang, der sich von Beginn weg abzeichnet, konsequent und scheinbar unaufhaltsam“ zeigen. Die Ausgestaltung des vollkommenen Untergangs ist ihm am besten gelungen.

Cabaret. Rez.: Stefan Koch
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